Thilo Schneider / 17.01.2023 / 14:00 / Foto: Pixabay / 38 / Seite ausdrucken

An der Abbruchkante. Eine Relotiade

Claas Relotius hat endlich einen neuen Job. Künftig wird er für die Werbeagentur „Jung von Matt“ Texte fabrizieren. Als kleine Hommage an ihn präsentiere ich heute eine fiktive Reportage über Lützerath im preisgekrönten Relotius-Style.

So weit und weird sind die Texte und Lobpreisungen für die Vorzüge eines bestimmten Produkts ja auch nicht von fühligen SPIEGEL-Reportagen entfernt. Er tut das, was er kann, und das kann er gut. Als kleine Hommage an einen der besten Story-Teller der neueren Geschichte präsentiere ich heute eine fiktive Reportage über Lützerath im preisgekrönten Relotius-Spiegel-Style. Wenn Sie also dachten, Sie könnten in die sogenannten „alternativen Medien“ flüchten, um der klebrig-fühlenden Berichterstattung der Haltungsmagazine zu entfliehen: Pech gehabt. Da müssen Sie jetzt durch. Wenn Sie weiterlesen. Wohlan:

Es ist kalt, an diesem Abend des 10. Januar in Lützerath. Die Sonne ist soeben untergegangen, ein paar restliche Strahlen sind durch den wolkenverhangenen Himmel noch zu sehen. Hier, im Camp, schwankt die Stimmung zwischen Euphorie und Resignation. Aber alle, alle sind sie gekommen. Luisa Neubauer, Greta Thunberg, Nyke Slawik, Bundestagsabgeordnete der Grünen, ebenso wie Katja Diehl, Buchautorin und Fahrradaktivistin, die mit dem Fahrrad angereist ist und aus Hamburg kommt. Die Aktivisti sitzen um Lagerfeuer herum, in der Ferne tönt leise ein Klavier. Ein Protestierender hat es hierherkommen lassen, um seinen Mitstreitenden Mut zu machen. Mut zu machen für den Kampf gegen ein System, eine Firma, die Polizisten einsetzen muss, weil der Wille fehlt, mit den Menschen zu reden, und weil Menschlichkeit in Zeiten von finanziellem Profit nicht gefragt ist. 

Nyke Slawik sagt, sie habe sich von den Grünen, die doch die Vernichtung von Lützerath mitbeschlossen haben, entfremdet. Ja, sie hat damals im November 2022 dem ausgehandelten Kompromiss zum Kohleausstieg mit RWE im Bundestag zugestimmt, mitgestimmt, aber, sagt sie, was hätte sie denn tun sollen? Sich enthalten, wie eine andere Kollegin? Das wäre unsolidarisch gewesen. Genau deswegen ist sie auch heute hier, zwischen den Demonstrierenden. „Argumente à la ,Gerichte haben entschieden, RWE hat jedes Recht da abzubaggern‘ sind eine Hörigkeitserklärung gegenüber diesem Konzern. Wir sind der Gesetzgeber. Wir machen die Gesetze, auf deren Grundlage RWE wirtschaftet“, wird sie später auf Twitter schreiben. Aber sie hat doch diese Gesetze mitbeschlossen? Nyke Slawik scheint hier keinen Widerspruch zu sehen. Wie so viele grüne Abgeordnete, die hier als parlamentarische Beobachter abgestellt wurden. Denn es geht um mehr als nur ein vorgeblich widersprüchliches Verhalten. Es geht um die Einhaltung der Klimaziele des Pariser Abkommens, es geht um die 1,5-Grad-Grenze, es geht darum, dass Deutschland und die Welt dieses Ziel nicht wird einhalten können, wenn die Kohle unter Lützerath verfeuert wird. Diese Kohle, dieses dabei freigesetzte CO2, wird nicht nur Öfen heizen, sondern die komplette Welt in Brand stecken. So sieht es Nyke, so sehen es ihre Mitstreitenden. 

Die Sonne ist am Horizont verschwunden, die Nacht bricht herein. Es nieselt leicht, aber die festen Unterkünfte sind alle schon belegt. Nyke wird sich mit Luisa Neubauer und anderen irgendwo ein einigermaßen trockenes Plätzchen suchen müssen, der verschlammte Boden macht eine Übernachtung unter freiem Himmel unmöglich. Sie wird vielleicht einen Sitzplatz in einem der abbruchreifen Häuser oder einem Baumhaus finden, irgendwo an die Wand gelehnt, und unruhig schlafen. Immer in Sorge um den Planeten und in der Angst, die angetretene Polizei wird das Dorf angreifen und sie aus dem Schlaf reißen. Jemand bringt ihr eine heiße Tasse Hagebuttentee. Das ist alles, was den Demonstrierenden in der Siedlung noch an Nahrung geblieben ist. Die Polizei lässt nichts durch, die Pizzabringdienste in der Umgebung haben vor dem Aufmarsch der Polizisten bereits kapituliert. Lützerath, das sie hier hinter vorgehaltener Hand „Lützegrad“ nennen, ist hermetisch abgeriegelt. 

Wie damals im Todesstreifen 

„Lützerath bleibt“, sagt ein anderer Demonstrant trotzig, dick eingehüllt in eine wasserfeste Daunenjacke, die bis unter das Kinn verschnürt ist. Gegen den leichten Regen hat er die Jacken-Kapuze über seine Wollmütze aus Lamafell gezogen. Er atmet gegen die Kälte in den Kragen der Jacke. Das wärmt. Ein bisschen. Drüben, auf der anderen Seite der Barrikade, hat die Polizei Fluchtlichtmasten aufgestellt, die die Grenze zwischen ihnen wie damals den Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze voll ausleuchten. Der riesige Bagger von RWE in der Abbaugrube wird dadurch wie ein großes Menetekel in Szene gesetzt. Gelegentlich steht einer der Aktivisti an der Abbruchkante und macht ein Selfie. Für die sozialen Medien, und damit nie vergessen wird, was die Demonstrierenden alles hier und heute für ihre Überzeugungen geopfert haben. 

Auf der Seite der Klimaaktivisti brennen nur Lagerfeuer, die die Gesichter der Menschen hier in ein diffus flackerndes Licht tauchen. Gelegentlich ist eine Stirnlampe zu sehen, wenn sich ein Aktivisti seinen Weg durch die diversen Hindernisse und Pflastersteinhaufen bahnt, um kurz in dem kleinen Wäldchen hinter Lützerath zu verschwinden. Toiletten haben sie hier schon lange nicht mehr. Ebenso wie Strom oder fließendes Wasser. RWE hat alles abstellen lassen, will sie unter anderem auch so mürbe machen. „Wir werden nicht weichen“, sagt eine andere Aktivisti trotzig, die sich die Hände an dem Lagerfeuer aus feuchtem Holz aus zerkleinerten Paletten zu wärmen versucht. Auch sie ist erschöpft und entkräftet von den letzten Tagen, in denen sie sich mit anderen im fast schon unaufhörlichen Regen mutig untergehakt der Polizei entgegenstemmte. Auf die Frage nach Gewalt antwortet sie ausweichend: „Sehen Sie hier Gewalt? Sind Spieße in der Erde gegen berittene Polizei, einbetonierte Gasflaschen und herumliegende Pflastersteine etwa ein Zeichen von Gewalt?“ Sie weiß es, ihre Mitstreitenden wissen es. Es wird Gewalt geben. Und sie wird von der Polizei ausgehen. Sie wollen friedlich bleiben, die Demonstrierenden. Zivilen Ungehorsam und Widerstand zeigen. Bis zum Letzten. 

Es ist klar: Die Polizei wird den Ort räumen. Vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. Gnadenlos und brutal. „Wir werden so oder so brennen – aber wenigstens nicht kampflos“, sagt der Aktivisti in der Daunenjacke und dreht nachdenklich einen der herumliegenden Pflastersteine in der Hand. Er möchte nicht, dass sein Name genannt wird. Im normalen Leben da draußen, weit weg von der Abbruchkante, ist er Lehrer an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Religion und Sport. Aber das hier ist größer, wichtiger! Existenzieller! Er kramt sein Handy aus der Daunenjacke und hält es mir entgegen. „Da, die Telefonnummer meines Anwalts, falls sie mich verhaften“, sagt er mir. Und dass wir berichten sollen, was wir hier gesehen haben. Damit es nie vergessen wird. 

Das Klavier ist verstummt. Aus einem der Abbruchhäuser klingt Gesang. Jemand stimmt die Internationale an. Andere fallen Stück für Stück ein. Lützerath wird fallen. Aber es wird nicht kampflos fallen. Morgen ist ein neuer Tag. Und in der Ferne bellt ein Hund.  

(Weitere preisverdächtige Geschichten des Autors unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Staff Sgt. Marianique Santos via Wikimedia Commons

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Sara Stern / 17.01.2023

Tatsächlich dürften satirisch am Mainstream angelehnte Texte viel mehr das Potential zum ärgern der MSM haben als irgendwelche aufklärerischen Artikel, dass der Spiegel mal wieder Märchen xyz, Fake News abc oder einfach recherchierbare Informationen weggelassen hat. Die ZONe, der Spiegel usw. dürfen gar nicht erst als Quellen von seriösen Informationen wahrgenommen werden, sondern eher als Prosa für Linksextreme und Blockparteileute. Das Schlimmste für Aufmerksamkeitssüchtige Ideologen ist nicht die Verachtung, Morddrohungen oder Hass. Das brauchen sie sogar mehr als Lob (bekommen die auf jeder Preisverleihung. Journalistenlob von anderen Journalisten ist nichts wert). Viel schlimmer finden sie es, wenn sie ignoriert oder nicht ernstgenommen werden. Wenn die Kommentatoren sich gar nicht erst mit den Inhalten des Schreiberlings befassen, weil jeder weiß, dass es entweder Schwachsinn oder Lügen sind. In den USA hat CNN dank Framing seine Marke so ins Abseits geschossen, dass selbst das Logo CNN als Geschäftsschädigend wahrgenommen wird. Der ganze Sender ist ein extrem teures Privathobby für ein paar Oligarchen und selbst die scheinen langsam ins Grübeln zu kommen, ob das was bringt ein paar lockern Bekanntschaften die eh keiner sehen will, den Hintern zu vergolden.

Johannes Schuster / 17.01.2023

Ich halte fest: Die Achse hat es nötig sich an irgendwelchen Lügenbolden zu messen und sie zu kopieren. Oh je, das Niveau in diesem Land….. Könnt Ihr keine differenzierte Psychologie oder Analyse, oder was? Broder entgleitet die Montagsgruppe auf Station. Das ist das Bierkeller der Schreibkunst, der Boden vom Putzeimer, das Sediment und der Urinstein. So, habe ich meine Kritik saftig genug gesaftet ? Oder braucht Ihr mehr ?

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