Die Diskussion darüber, wer mit wem warum und worüber abstimmen darf, hat mit vielem zu tun, mit einem aber nichts: Demokratie. Insofern war der Mittwoch ein guter Tag, um dorthin zurückzukehren.
Der Bundestag entschied am 29. Januar 2025 in namentlicher demokratischer Abstimmung über Anträge der Oppositionsfaktion CDU/CSU. Geheim und demokratisch wäre noch ehrlicher gewesen. Doch das dräute den führenden Spezialdemokraten denn doch als zu demokratisch. Abstimmen, gänzlich ohne die Zuchtrute der Fraktionsführungen (mögliche Buchführung über selbstständig Abtrünnige von der großen Linie) – so frei ist einfach viel zu frei! Wo käme der Bundestag denn hin, würde der tatsächliche Querschnitt der Bevölkerungsmeinung zur Zuwanderung per ungefährlicher, weil geheimer, Abstimmung plötzlich öffentlichkeitswirksam über die ungebremsten Volksvertreter abgebildet werden?
Das Demokratieverständnis ist allgemein vor die Hunde gegangen. Die letzte Dekade erfuhr dabei den größten Schub. Sprach das gemeine Volk vormals von Demokratie und meinte damit das Agieren aller in den Bundestag gewählten Parteien unter gleichen Regeln, so gilt das seit der SPD-Erfindung des „Kampfes gegen rechts“ unter Einschluss der Linksextremen und Merkels Rutschen nach linksgrün so nicht mehr. Die Statik der Republik wurde nach links gebogen, den Institutionen wurde ihre Überparteilichkeit genommen. Justitia ist nicht mehr blind, sie unterscheidet nach Rasse, Hautfarbe und politischer Auffassung der Delinquenten. Nicht immer, aber sehr oft, zu oft. Das allgemeine Vertrauen ist schwer lädiert.
Ein Blick zurück in die freieste institutionelle Phase der DDR: Am 18. März 1990 wurde vom Volk die 10. Volkskammer in freier und geheimer Wahl gewählt. Mitglied dieser Volkskammer war politisch alles, was die DDR-Bevölkerung damals politisch unterschiedlich anteilig zu bieten hatte: die neuen demokratischen Parteien und Listengemeinschaften, die Blockflöten, die abgewählte Diktatur- und MfS-Partei SED (PDS). Mit der SED wollte damals niemand was zu tun haben. Das war weitgehender Konsens unter den Abgeordneten der anderen Fraktionen. Die Bevölkerung trug das nicht nur mit, die erwartete das auch mit großer Mehrheit. Die Volkskammerabgeordneten fühlten sich mehrheitlich damit nicht allein zu Hause.
Keiner hätte sich 1990 aufgeregt, wenn auch SED-Mitglieder dem Beitrittsantrag zugestimmt hätten
Allerdings gab es einen unabgesprochenen Common Sense zwischen dem Volk und seinen neuen Vertretern. Der gesunde Menschenverstand gebot ein Funktionieren der Demokratie, wozu definitiv das Agieren der Politiker nach gleichen und nachvollziehbaren Regeln gehörte. Parteien durften ihre politische Konkurrenz nicht verbieten wollen, und deren Handeln durften sie ebenfalls nicht unterbinden. Alle waren gleichberechtigt im Parlament. Die Demokratie musste das aushalten, es war ihre Bewährungsprobe. Die Volkskammerabgeordneten waren diesem Grundsatz verpflichtet. Nicht verpflichtet waren sie zur Liebe ihrer politischen Gegner. Eine Pflicht zur Zusammenarbeit oder zu Koalitionen bestimmter Parteien gab es nicht. Im Parlament sollte um die besten Lösungen gerungen werden, die Zustimmung der ungeliebten SED-Nachfolger wäre dabei nie abgelehnt worden. Nur gesucht wurde diese Zustimmung nicht. Kein vernünftiger Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, Gesetze und Gesetzesänderungen im Falle der Zustimmung seitens der Vertreter der Diktaturpartei nicht zu beschließen. Jede Stimme galt und jede Stimme besaß den gleichen Wert.
Eine Abstimmung sei an dieser Stelle besonders in Erinnerung gebracht. Ich schreibe vom Beitrittsbeschluss zur Bundesrepublik Deutschland am 23. August 1990. 262 Volkskammerabgeordnete repräsentierten mit ihrem Ja zum Beitritt den Einheitswunsch der Ostdeutschen, 62 stimmten mit Nein. Die SED-Fraktion (zwischenzeitlich zu PDS mutiert) besaß zu dem Zeitpunkt 66 Mitglieder, siehe: „Beitritt GG 1990“. Nach Adam Ries macht das mindestens 4 SED-Volkskammerabgeordnete, die mit Ja stimmten oder sich enthielten. Kein Mensch hätte sich 1990 darüber aufgeregt, wenn auch SED-Mitglieder dem Beitrittsantrag zugestimmt hätten, obwohl die SED (PDS) tatsächlich in Nachfolge einer Diktaturpartei stand. Anders als heute die AfD, der Diktatur für die Zukunft von Zeitgenossen zugetraut wird, in deren Dokumenten sich der Vorwurf allerdings nicht belegen lässt.
Die AfD ist eine prorussische und antitransatlantische Partei. Insofern will ich mit ihr nichts zu tun haben. Doch eher prorussisch und eher antitransatlantisch ist die SPD inzwischen auch. Die wird aber anders als die AfD in den Parlamenten behandelt. Und Israels Stellenwert in der SPD und bei den Grünen könnte bei genauer Betrachtung sogar unter dem in der AfD liegen. Anlässlich der Abstimmung im Deutschen Bundestag über die Anträge zu Migration und innerer Sicherheit der CDU/CSU kam mir ein Gedanke: „Heute war wieder Parlament. 1990 verboten wir der SED nicht, zuzustimmen. Das nannten wir Demokratie.“ Ob das mit der offenen Demokratie im Deutschen Bundestag am 31. Januar 2025 auch so weitergeht? An diesem Tag will die Union ihren Gesetzesantrag „Zustrombegrenzungsgesetz“ debattieren.
Zum Nachlesen: Hier erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung die Demokratie. Ein jeder möge sich seine Gedanken machen.
Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955) trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Die Gründe dafür erläutert er hier. Er sieht sich, wie schon mal bis 1989, wieder als “Sozialdemokrat ohne Parteibuch”. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie. Er ist derzeit Unternehmensberater und Publizist.