Der Zustand der Demokratie im Westen ist besorgniserregend. Ist sie wirklich dem Untergang geweiht? Befinden wir uns bereits in einem Interregnum, wie manche schreiben? Wenn das so sein sollte: Was kann denn danach kommen?
„Interregnum. Was kommt nach der liberalen Demokratie?“ lautet der Titel des neuen Buches, das der Achgut-Autor Kolja Zydatiss zusammen mit Mark Feldon geschrieben hat. Mit dem Staatswesen in Deutschland im Besonderen und dem Westen im Allgemeinen stimmt etwas nicht mehr. Zydatiss und Feldon sind nicht die Einzigen, denen das aufgefallen ist: Die Liste der Autoren, die sich um den Zustand der Demokratie im Westen sorgen, ist lang, gleich in der Einleitung gibt das Autorenduo einige von ihnen an. Doch warum müssen wir uns um den Westen sorgen? Achgut-Leser wissen es, und selbst jene, die lediglich polit-affirmative Altmedien konsumieren und bei den interaktiven Medien einen rein "progressiven" Bekanntenkreis pflegen, spüren, dass etwas nicht mehr so ist wie früher, und zwar nicht zum Besseren.
Die Autoren zeigen uns, was aus ihrer Sicht mit Deutschland und dem Westen nicht mehr stimmt. Die Hochphase liberaler Demokratie ist offensichtlich beendigt, wir befinden uns laut Zydatiss und Feldon in einem Interregnum, einer Phase zwischen zwei Herrschaftsmodellen. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass wir in einer postdemokratischen Krisenzeit leben, in der es anders als im klassischen Interregnum Roms “weder Mechanismus noch Institutionen für den Übergang eines politisch-sozialen Systems in ein anderes” gäbe. Wir befänden uns also zwischen zwei Staatsformen, wobei die alte nicht mehr funktioniere, die neue sich aber noch nicht entpuppt habe. In diesem Interregnum verfolgten unsere Institutionen “nur noch den Zweck, die Verwalter des Interregnums an der Macht zu halten und sie von den Folgen ihres Tuns abzuschirmen”.
Stimmt das? Leben wir wirklich in einem Interregnum? Was zeichnet die Krise der liberalen Demokratie aus? Was kommt danach? Diesen Fragen gehen die Autoren nach.
Zunächst beginnen die Autoren damit, den klassischen Liberalismus und seine Hochphase vorzustellen, zuerst die Staatsmetaphysik des bürgerlichen Zeitalters, die rechtsstaatlich-liberale, partizipative Demokratie. Danach fassen sie ihre Sicht der Geschichte westlicher liberaler Demokratien zusammen, wobei sie aufzuzeigen versuchen, wie Demokratien mit einem zunächst hohen Maß an gesellschaftlicher Partizipation sich davon weg entwickelt haben. Westliche Demokratien wurden in diesem Prozess globalistisch und neoliberal. Dieser Wandel wurde und wird aus Sicht der Autoren von der Manager-Klasse getragen, die sich seit den 1920er Jahre gebildet und im Laufe der letzten hundert Jahre kontinuierlich an Macht gewonnen hat. Hierbei greifen sie stark auf die These James Burnhams von der “Managerial Revolution” (Monographie von 2021) zurück, in der er den Aufstieg und die neoliberale Ideologisierung der Managerklasse beschreibt.
Zu dieser gehören nicht nur die Lenker großer Wirtschaftskonzerne, Investmentfonds, Banken und Versicherungen und die Führer der großen Beratungs- und Dienstleistungskonzerne, sondern auch NGO-Führer, einflussreiche Universitätslehrer, Kulturschaffende, hohe Verwaltungsmitarbeiter und Berufspolitiker auf Lebenszeit, die sich dauerhaft an der Machtausübung beteiligen. Ich nenne sie die Trägerschicht der Gesellschaft, zu der alle gehören, die die Verwaltung und Steuerung der Gesellschaft ausüben und die Narrative der Öffentlichkeit bestimmen.
In der Tat gestaltet diese Schicht die politische und kulturelle Entwicklung der Gesellschaft, soweit sie von oben gelenkt werden kann. Doch sie bestimmt sie nicht, worauf wir noch einmal zurückkommen werden. Klar und deutlich schildern die Autoren den Weg vom klassischen Liberalismus über den Neoliberalismus der Reagan/Thatcher-Zeit zum heutigen Zustand, den sie “Hyperliberalismus” nennen.
Dieser Teil des Buchs, der allerdings für die dargebotenen Inhalte deutlich zu kurz ist, zeigt einige der wichtigsten Tendenzen der politisch-gesellschaftlichen Geschichte der letzten hundert Jahre im Westen auf, es fehlt ihm jedoch die Analyse der wirtschaftlich-sozialen und vor allem der kulturellen Entwicklung. Dem Leser wird nicht klar, welchen Interessen die Managerklasse (Trägerschicht) dient, wie sich Eigentumsverhältnisse entwickelt haben und welche geistesgeschichtlichen Strömungen zum Hyperliberalismus geführt haben.
Dies führt im zweiten Teil und im Schlussteil, wie wir noch sehen werden, zu einigen Fehlschlüssen. Des Weiteren ist die Bezeichnung Hyperliberalismus leicht irreführend, weil er, anders als der von mir präferierte Begriff des postmodernen Kollektivismus, nicht berücksichtigt, dass die heutige Leitideologie des Westens sich nicht nur aus der liberalen, sondern zu einem wichtigen Teil auch marxistischen und nihilistischen (postmodernen) Positionen speist.
Der zweite Teil des Buches zeigt die Hauptstärke der Autoren: aufschlussreiche Fallstudien und Beobachtungen aus der Fülle des Materials des real existierenden postmodernen Kollektivismus. Sie unterteilen den Hyperliberalismus in drei Bereiche, die “die Natur, die Gesellschaft und den menschlichen Körper” betreffen. Für jeden dieser Bereiche hält der Hyperliberalismus ein “Regime” bereit, das “Vielfalts-Regime”, das “Öko-Regime” und das “Transhumanismus-Regime”. Alle drei verbinden Utopismus, Machbarkeitswahn mit Bezug auf Gesellschaft, Natur und Individuum sowie eine radikale Ausgrenzung und Verfolgung derer, die die Narrative kritisieren.
Das “Vielfalts-Regime” predigt offene Grenzen, unbegrenzte Migration und die multikulturelle Gesellschaft. Die Autoren schildern kenntnisreich und anhand vieler bekannter und auch überraschender, weniger bekannter Fälle die Charakteristika dieses Regimes und die Wirkung der Ideologie auf die Trägerschicht. Sie zeigen detailliert und anschaulich die Institutionalisierung dieser Ideologie in den nationalen und transnationalen staatlichen und para-staatlichen Institutionen (NGO), aber auch in Medien, Bildungs- und Kulturbetrieb. Dabei machen sie dem Leser unmissverständlich klar, dass die Ideologie des Vielfaltsregimes mit dem Bekenntniszwang zum Multikulturalismus voller innerer Widersprüche steckt und ein Zusammenstoß mit der breiten Mehrheit er Bevölkerung (incl. etablierter Migranten), die diese Politik ablehnen, vorprogrammiert ist.
Und in der Tat erleben wir gerade, wie sich in Großbritannien die weiße Unterschicht dem Gewaltmonopol widersetzt, um sich gegen den Multikulturalismus (mit abzulehnenden Mitteln) zu wehren. So erstklassig die Fallstudien auch sind, so zeigt sich auch hier die Schwäche der Autoren, das Vielfaltsregime lediglich als einen kulturellen Zustand zu beschreiben, ohne danach zu fragen, wer daraus einen Nutzen zieht. Der Nutzen – dies scheint heute klar zu werden – geht über die ökonomische Nutzung der Migranten als billige Arbeitskräfte einerseits und durch Sozialtransfer finanzierte Konsumenten von Verbrauchsgütern andererseits hinaus. Migration erfüllt auch einen machtpolitischen Zweck, indem sie die politische Willensbildung von unten inhibiert – ein Aspekt, den die Autoren nicht ausreichend würdigen.
Das nächste Kapitel behandelt das “Öko-Regime”. Die Autoren stellen dessen Hauptausprägung, insbesondere die Zielsetzung einer Reduktion der Nettoemissionen von Kohlendioxid zur “Rettung des Klimas”, anhand vieler Beispiele gut dar. Sie zeigen auch, dass die Träger dieser Ideologie die Schichten sind, die Joel Kotkin in seinem Buch “The Coming of Neo-Feudalism” (2020) “Oligarchen und Klerus” genannt hat. Während bei Kotkin die Oligarchen die Eigentümer sind, klassifizieren die Autoren darunter die Großkonzerne, den Klerus setzen sie mit der Managerklasse Burnhams gleich.
Dies kann nicht richtig sein, sind die Lenker der Konzerne doch auch ein wichtiger Teil des Klerus, aber die beiden Klassen sind nach Kotkin nahezu überschneidungsfrei. Wie der gesamte klassische Liberalismus übersehen die Autoren hier die Eigentumsfrage. Konzerne agieren im Wesentlichen nicht im Interesse ihrer Manager, sondern ihrer Eigentümer. Diese sind es, die die Net-Zero-Agenda treiben, weil dahinter ökonomische Interessen und Herrschaftsabsichten stehen.
Realer Transhumanismus
Treffend jedoch beschreiben Zydatiss und Feldon die Kultur der Manager als “Luxusglaubenssätze” (virtue signalling), die gegen die Interessen der ganz großen Mehrheit der westlichen Bevölkerung durchgesetzt werden. Denn wer die Energie verteuert, inflationiert die Preise für alles von den Nahrungsmitteln bis zu Dienstleistungen, ohne dass diesen Preissteigerungen adäquate Einkommenszuwächse gegenüberstünden. So führt die Energiewende und Renaturierungspolitik (Stilllegung landwirtschaftlicher Flächen) der Klerikerklasse zu einer Verarmung der Bevölkerung und beginnt daher auch auf Widerstand und Ablehnung zu treffen, den die Autoren im dritten Teil des Buches ausführlich würdigen.
Das letzte Kapitel des zweiten Teils handelt vom Transhumanismus. Der Einstieg in das Kapitel ist äußerst originell. Die Autoren wählen dafür den sowjetischen Biokosmismus, eine heute vergessene transhumanistische Idee der frühen Sowjetzeit. Was ist Transhumanismus? Der Versuch, mit technischen Mitteln die leiblichen und seelischen Grenzen des Menschen aufzuheben. Dazu gehören von den Autoren zu Recht als vollkommen illusorisch und fiktional beschriebene Ansinnen wie digitale Unsterblichkeit (mind uploading), mit Computern realisierte Künstliche Intelligenz, Cyborgisierung (Verschmelzung von Mensch und Maschine), Gehirnimplantate, maschinelles Gedankenlesen oder die Optimierung höherer Eigenschaften des Menschen durch genetische Rekombinationstechnologie.
Doch es gibt auch einen angewandten, realen Transhumanismus. Dazu gehört laut der Autoren auch der weltweite Einsatz der unzureichend klinisch geprüften COVID-Impfstoffe auf Nukleinsäurebasis, der sogar staatlich gefördert oder erzwungen wurde, obwohl die Präparate keine prophylaktische Wirkung hatten, jedoch starke unerwünschte Wirkungen hervorriefen. Des weiteren subsumieren sie unter Transhumanismus auch Transgendermaßnahmen (Gabe von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen, chirurgische Maßnahmen zur Wandlung der äußeren Geschlechtsmerkmale), Abtreibung und Euthanasie, deren Indikationen immer weiter ausgeweitet werden, was sich beispielsweise in der Forderung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Abtreibung bis zur 22. Schwangerschaftswoche zu legalisieren (eigentlich straffrei zu stellen) niederschlägt.
Damit stellt der Transhumanismus eine Negierung des Lebens dar, er ist ein “Machbarkeitswahn”, bei dem die Öffentlichkeit dominierende Wissenschaftler “Tatsachen ausblenden oder negieren, die bis vor kurzem […] Allgemeinwissen waren oder es noch sind.” Zu Recht kritisieren die Autoren, “dass besagte Kreise zunehmend auf staatlichen Zwang setzen, um ihre wissenschaftlichen Ideen in der Gesellschaft durchzusetzen”. Alle natürlichen Begrenzungen des Menschen, Krankheit, Alter und Tod, will der Transhumanismus entgegen der wissenschaftlichen Evidenz aufheben. Ein dem des Ikarus vergleichbares Ansinnen, das zu dem bekannten Ende führt.
Der dritte Teil des Buchs behandelt “Antipoden des Hyperliberalismus”. Hierunter verstehen die Autoren gesellschaftliche Bewegungen oder Staaten, die sich dem westlichen Hyperliberalismus entziehen und andere gesellschaftliche Modelle anstreben. Der Teil gliedert sich in die Kapitel “Sozial-Konservatismus”, “Der Autoritäre Stadtstaat”, “Neofaschismus” sowie “Revolte und Resignation”. Auch diesem Teil, der sehr gute und detaillierte Fallberichte und Reportagen enthält, fehlt die ökonomische Analyse. Insbesondere ist der Antagonismus des sich verfestigenden Bündnisses Russlands, Chinas und Irans, den Führungsmächten der vor unseren Augen entstehenden anti-westlichen Koalition, einerseits, und den USA und den Kernländern ihrer Hegemonialsphäre (UK, Canada, EU-Länder, Israel, Australien und Neuseeland, Japan) andererseits ohne die wirtschaftliche und geostrategische Perspektive nicht zu verstehen.
Auch kann ohne beides die Innenpolitik der Antagonisten des Westens nicht verstanden werden; im Fall Russlands gerät deren Charakterisierung den Autoren zu einer plumpen Karikatur. Die Vernachlässigung dieser Perspektive verschleiert auch den realpolitischen Blick der Autoren auf den Ukraine-Krieg, ein Thema, bei dem sie spekulativ urteilen. Dennoch ist der Teil aufgrund der Einzelanalysen sehr lesenswert, immer wieder wird der Leser durch Details und unerwartete Perspektiven überrascht, insbesondere im Kapitel zu Revolte und Resignation.
Das Buch enthält nach den drei Hauptteilen noch ein Addendum, eine Schlussbetrachtung und einen Epilog. In der Schlussbetrachtung fassen die Autoren ihre Sicht zusammen. Die Managerklasse habe den Liberalismus in den Hyperliberalismus überführt, da eine Ideologie “die antritt, das Individuum zu befreien […] die präliberalen Quellen ‘moralischer Substanz’ […] als unzumutbare Beschränkungen des Individuums zu zersetzen.” Diese Ideologie wolle “jegliche natürlichen und gesellschaftlichen Grenzen überwinden”. Sicherlich ist dies ein treffender Aspekt, doch wird hier auch klar, dass die Autoren den Hyperliberalismus nahezu ausschließlich als kulturelles Phänomen betrachten, das von einer bestimmten Schicht getragen wird.
Allerdings zeichnen sie nicht seine geistesgeschichtliche Entstehungsgeschichte nach. Sonst wäre ihnen aufgefallen, dass in den 1970er Jahren bei Autoren wie Habermas, Foucault oder Rorty eine Synthese von Liberalismus, Postmoderne und Westmarxismus stattfand, die die geistige Grundlage für den heutigen postmodernen Kollektivismus bildet und auch seine inneren Widersprüche gut zu erklären vermag. Und obwohl sie anerkennen, dass hyperliberale Gesellschaften den Wohlstand nicht mehr leistungsbezogen verteilen und sich in rasantem Tempo verschulden, verkennen sie, dass der Hyperliberalismus eine Herrschaftsideologie ist, die der Durchsetzung handfester Machtinteressen einer kleinen Schicht von Großeigentümern gilt. Die Antagonismen und Konflikte, die wir nun zwischen dem neuen Osten (China, Russland und Iran samt Verbündeten) und dem Westen sehen, sind Ausdruck der Konkurrenz der Eliten beider Blöcke um Ressourcen und Machtsphären. Dabei tragen sie einander widersprechende Ideologien vor, doch bedienen sie sich ähnlicher Machtmittel (insbesondere der Digitalisierung). Aus dieser Sicht wird es auch verständlich, dass der Zustand westlicher Gesellschaften heute kein Interregnum ist, sondern ein Wandel des politischen Systems aufgrund einer langfristigen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Der Liberalismus war die Ideologie des Bürgertums. Das Bürgertum als relevante politische Kraft gibt es im Westen nicht mehr. Eine neue Schicht bestimmt nun die Geschicke des Westens, und die Ideologie, derer sie sich zur Machtausübung bedient, ist kollektivistisch. Diese Aspekte fehlen dem Buch. Dennoch ist es aufgrund seiner erstklassigen Einzelstudien und Fallbeispiele im Rahmen des Hyperliberalismusbegriffs äußerst lesenswert. Es ist bei LMV, einem Imprint des Langen Müller Verlags, Ende Juni dieses Jahres erschienen und online bestellbar.
Jobst Landgrebe ist Wissenschaftstheoretiker, er hielt zahlreiche Vorträge im akademischen und nicht-akademischen Umfeld, zuletzt an der Universität Lugano, bei der Hayek-Gesellschaft und am Japanischen Kulturinstitut Köln. Dieser Beitrag erschien zuerst auf „Globkult“ Das Buch von J. Landgrebe und B. Smith „Why machines will never rule the world. AI without fear“ ist 2022 bei Routledge erschienen.