Seit einigen Tagen wird viel über Rekord-Umfragewerte der AfD gesprochen und geschrieben. Politiker und Medienschaffende fragen sich überrascht nach den Ursachen. Dabei sollte man sich doch eher fragen, warum die so überrascht sind?
Seit einigen Tagen lässt sich ein etwas groteskes Schauspiel beobachten. Umfrageergebnis nach Umfrageergebnis der verschiedenen Meinungsforschungsinstitute zum Wahlverhalten bei einer Bundestagswahl sah die AfD bei 18 oder 19 Prozent und damit gleichauf mit der Kanzlerpartei. Schlagzeilen wie "Blaue Welle erfasst Deutschland" oder "Schock-Umfrage! AfD holt Rekord-Zahlen" tauchten überall in der deutschen Presse auf und die Politiker aller Parteien, die sich in der Abgrenzung zur AfD (noch) einig sind, fragten lautstark nach den Ursachen und machten für das Erstarken der bösen Rechtspopulisten die jeweils anderen verantwortlich.
Keiner sah sich hingegen berufen, einzugestehen, dass der Kurs, die anrüchige Partei zu dämonisieren und auszugrenzen – wofür auch bis dato überparteilich akzeptierte Regeln über den Haufen geworfen wurden, beispielsweise bei der Bestimmung des Alterspräsidenten zur Bundestagseröffung oder der Besetzung von Vizepräsidenten-Posten –, offenbar gescheitert ist. Dafür wurde nach Gründen gesucht, warum denn immer mehr Bürger bereit wären, diese schlimme Partei zu wählen, obwohl doch von der CSU bis zur Linken alle Parteien seit Jahren in schrillsten Tönen davor warnen.
Manche Erklärungen sind sicher eher Teil des Problems als Beitrag zur Lösung – wie der seit Jahren immer wieder vorgetragene und immer schnöselig klingende Verweis darauf, dass AfD-Wähler ja zumeist keine höhere Bildung genossen hätten. Andere haben durchaus realsatirischen Unterhaltungswert, etwa wenn der Kanzler erklärt, dass Parteien wie die AfD „Schlechte-Laune-Parteien“ wären. Das klingt so, als bräuchte das Land jetzt vor allem einen Gute-Laune-Kanzler. Ist es wirklich denkbar, dass sich Olaf Scholz für einen solchen hält?
Der Kurs der Abgewählten
Für Friedrich Merz liegt die AfD-Stärke nur am Versagen der Ampel und an der volkserzieherischen rot-grünen Attitüde, die sich u.a. im Gendern äußert. Das ist zwar so ganz falsch nicht, nur warum schafft es der CDU-Vorsitzende, die naheliegende Frage zu verdrängen, warum die damit Verärgerten nicht seine Partei wählen? Die Antwort darauf kennt der große Vorsitzende Merz natürlich: Die Unzufriedenen können die Christdemokraten kaum als Opposition ernst nehmen, denn auf fast allen Politikfeldern sind sie einem vergleichbaren Kurs gefolgt, bevor sie abgewählt wurden.
Egal ob bei der ungesteuerten Einwanderung, der EU-Verschuldungspolitik, der „Klimarettung", dem gleichzeitigen Atom- und Kohleausstieg, der sogenannten Energiewende – ja auch das von Merz angeprangerte Gendern breitete sich in staatlichen und staatlich geförderten Einrichtungen, in Ämtern, Behörden, Schulen, Universitäten, Kultureinrichtungen und öffentlich-rechtlichen Medien schon in den letzten Jahren immer mehr aus. Die Regierungszeit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel liegt nicht so weit zurück, als dass sie die meisten Bürger schon vergessen hätten. Die Kanzlerin-Partei muss sich mit deren politischem Erbe auseinandersetzen, so gern sie das vermeiden würde, weil das natürlich auch eine Zerreißprobe ist.
Das Dumme ist, dass sich nicht nur die Christdemokraten, sondern neben ihrem langjährigen Koalitionspartner SPD auch Grüne und FDP, sowie in manchen Teilen auch die Linke auf etlichen Politikfeldern seit Jahren hinter der von der damaligen Kanzlerin jeweils ausgerufenen Alternativlosigkeit versammelt haben. Egal ob bei der sogenannten Euro-Rettung, der ungesteuerten Masseneinwanderung über Asylanträge, der Energiepolitik oder dem grundrechtseinschränkenden Corona-Kurs – zwischen den Nicht-AfD-Parteien gab es auf diesen Gebieten zumeist allenfalls graduelle Unterschiede.
Man kann viele Argumente gegen die AfD und für die Unwählbarkeit der „sogenannten Alternative", wie sie in einigen Medien gern genannt wird, anführen. Glaubt man den entsprechenden Umfragen, so stimmten die meisten AfD-Wähler ja auch nicht für die Partei, weil sie von ihr überzeugt waren, sondern weil sie damit gegen die anderen votieren wollten. An dieser Stelle hört man förmlich den Stoßseufzer mancher Medien-Kommentare, dass man den Unmut etlicher Bürger ja verstehen könne, aber müssen es denn ausgerechnet die sein, die doch so weit nach rechts abgedriftet sind?
Unbeantwortete Gegenfragen
Die Frage ist natürlich berechtigt, nur wissen diese Fragesteller leider kaum passende Antworten auf ein paar logische Gegenfragen. Welche Partei können denn Bürger in Deutschland wählen, die ihren Politikern mitteilen möchten, dass sie eine andere Zuwanderungspolitik wünschen? Beispielsweise eine solche, wie sie die in Dänemark regierenden Sozialdemokraten praktizieren? Welche Partei können denn die Bürger wählen, die den gleichzeitigen Ausstieg aus Kernenergie und Kohle für einen selbstzerstörerischen Kurs halten? Welche Partei können denn Bürger wählen, die ihrem Staat mitteilen wollen, dass sie sich neue vormundschaftliche Vorschriften beispielsweise für Heizung, Mobilität und Ernährung verbitten? Welche der Bundestagsparteien, welche Abgeordneten machen diesen Bürgern ein adäquates Angebot, sie politisch zu vertreten?
Angesichts der Tatsache, dass viele Bürger in diesen Fragen den Kurs der in jüngster Vergangenheit und der jetzt Regierenden kritisch sehen, hätte der Umfrage-Schock noch größer ausfallen können. Und warum sind so viele davon eigentlich so überrascht? In Sachsen und Thüringen ist die AfD in Umfragen schon länger die stärkste Partei. Im Herbst 2019 war Thüringen nach der dortigen Landtagswahl das erste Bundesland, in dem die Parteien der alten Bundesrepublik zusammen keine Mehrheit mehr hatten. Ohne eine Art von Mitwirkung von Linken oder AfD konnte keine Regierung gebildet werden. Was folgte, ist bekannt. Ich zitiere der Einfachheit halber aus einem alten Artikel von mir:
„Vielleicht ist Thüringen so etwas wie das Versuchslabor für eine Demokratie neuen Typs, mit einem – sagen wir es mal ganz höflich – sehr flexiblen Umgang mit Wahlen und Mehrheiten? Wenn man sich das absurde Theaterstück anschaut, das in und um die Landespolitik in dem kleinen mitteldeutschen Freistaat seit Anfang Februar 2020 aufgeführt wird, kann man kaum glauben, dass das Realität ist.
Da wählt der Thüringer Landtag mit einer Mehrheit den FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten, doch nachdem die Kanzlerin geäußert hat, dass diese Wahl rückgängig gemacht werden müsse, wird der Mann zum Rücktritt gedrängt. Dann wird wieder der Genosse Bodo Ramelow von den SED-Erben ins Regierungsamt gewählt, obwohl er eigentlich keine Mehrheit hat. Die oppositionelle CDU ermöglicht diese Wahl. Grundlage ist eine Vereinbarung mit der linksgrünen Minderheitsregierung, wonach es spätestens nach einem Jahr Neuwahlen geben solle."
Mehr als ein Thüringer Dilemma
Die Neuwahlen hat es dann doch nicht gegeben, und die CDU-Unterstützung wird die rotrotgrüne Landesregierung wohl bis zum Ende der Legislaturperiode im nächsten Jahr tragen. Dieses zwei Jahre alte Fazit trifft immer noch zu:
„Das Thüringer Dilemma war bereits am Wahlabend absehbar: Die demokratischen Parteien der alten Bundesrepublik hatten keine Mehrheit mehr. Die Mehrheit der Thüringer Wähler hatte Linke und AfD gewählt. Welchen Kurs gerade die bürgerlichen Parteien zwischen diesen Polen nehmen sollten, hätte nach konkreten Positionslichtern bestimmt werden müssen. Doch nach dem Februar 2020 war die FDP orientierungslos, und die CDU begab sich in die Arme der Linken, aus denen sie nicht mehr herauskommt."
Vor diesem Problem wird die CDU im nächsten Jahr voraussichtlich auch in Sachsen stehen. Manch ein Parteifreund, wie der Oberbürgermeister von Altenburg in Thüringen, André Neumann, hat seine Partei aufgerufen, den Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundespartei mit der Linken zu überdenken. Bislang gilt trotz der Thüringer Kooperation offiziell noch der Beschluss, weder mit der AfD noch mit der Linken zusammenzuarbeiten.
Während mancher Christdemokrat laut darüber nachdenkt, mit den Linken zu kooperieren, bemüht sich die Parteiführung, zu betonen, dass die CDU auf ihrem Abgrenzungskurs zur AfD bleibt.
Das interessiert die derzeit offenbar steigende Zahl der Bürger, die mangels Alternative zur Protestwahl bereit sind, höchstwahrscheinlich kaum. Die wären nur durch ernstzunehmende neue politische Angebote zu erreichen. Demokratie lebt von Alternativen. Zu den Gefahren für eine Demokratie gehören auch Politiker, die ein Gemeinwesen in die Sackgasse der Alternativlosigkeiten führen.