Von Kai Rogusch.
Die Bundestagswahl 2017 dürfte – allen weltpolitischen Turbulenzen zum Trotz – keine gravierende Änderung der politischen Landschaft zur Folge haben. Dennoch wachsen auch hierzulande langsam die Zweifel am lähmenden Politikkonsens der letzten Jahrzehnte
Dunkle Phänomene wie „Trump“ und Brexit und weitere verstörende Entwicklungen scheinen unsere aufgeklärten Institutionen der internationalen Ordnung in Frage zu stellen. Die Prinzipien des globalisierten Freihandels, der europäischen Integration, der multikulturellen Weltoffenheit und des an supranationalen Normen orientierten Klimaschutzes scheinen bedroht. Viele Beobachter sind besorgt und kritisieren die „postfaktischen“ und verantwortungslosen Leugner eines wissenschaftlich unterfütterten Konsenses. Doch ein Land scheint wie ein Fels in der Brandung eines nach Ansicht vieler Kommentatoren aufschäumenden „autoritären Illiberalismus“ herauszuragen: Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl 2017.
Scheinbar werden hier noch die Leitgedanken der Europäischen Union, der ökologischen Nachhaltigkeit und der Menschenrechte hochgehalten. Doch auch hierzulande verweigern sich immer mehr Bürger dem etablierten politischen Konsens. Als eine Folge von Fehlentwicklungen ebenjener „liberalen Ordnung“, als deren letzter Verteidiger sich Deutschland aufschwingt, ist auch bei uns in den letzten Jahren ein Unbehagen latent geworden.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und infolge des Wegfalls der kommunistischen Systemalternative im Osten und der Preisgabe des keynesianischen Gestaltungsoptimismus im Westen ist es nicht zu einem liberalen „Ende der Geschichte“ gekommen. Vielmehr ist ein unberechenbarer und von internen Selbstzweifeln gelähmter Kapitalismus entstanden, der Stagnation und Instabilität befördert – und jene Fortschrittspotenziale unterbindet, die eigentlich im Dienste aller Menschen erschlossen werden sollten.
Im letzten Vierteljahrhundert haben es sich die politischen Eliten in dieser stagnierenden Ordnung allzu bequem eingerichtet. Sie konnten sich hinter angeblichen alternativlosen Sachzwängen einer globalisierten Politik- und Wirtschaftsordnung verstecken. So entzogen sich die politischen Führungen des Westens dem Interessenstreit, der im Rahmen der nationalstaatlich verfassten Demokratien auszutragen gewesen wäre. Statt bessere Lebensbedingungen und mehr Wohlstand für alle Bürger ihres Landes anzustreben, gerierten sich die Eliten als pädagogische Vermittler einer von Sparzwängen unterfütterten neuen Bescheidenheit. Zugleich relativierten sie ihre demokratische Rechenschaftspflicht gegenüber ihren territorial verankerten Bürgern. Die Eliten verwiesen auf eine angeblich gebotene Rücksichtnahme auf die Belange von Menschen anderer Kulturen, zukünftiger Generationen oder des Ökosystems.
Auch in Deutschland wächst die Unruhe
Die Prämissen des Globalismus, des Ökologismus und des Multikulturalismus wurden zum unverrückbaren Standard einer zwar als krisen- und mängelbehaftet erkannten, aber nichtsdestotrotz als alternativlos hingenommenen kapitalistischen Weltordnung. Das blieb jedoch nicht ohne Folgen. Denn gerade in den letzten Jahren wurden viele dieser Mängel offenbar. So entstand in großen Teilen der deutschen Bevölkerung zunehmend der Eindruck eines chaotischen und der demokratischen Kontrolle entzogenen Weltgeschehens. Das Gefühl einer Entfremdung zwischen der normalen Bevölkerung und ihr geringschätzig gegenüberstehenden Eliten, die sich von der Gesellschaft abkoppeln, wurde chronisch.
Mehr und mehr breitete sich die fatalistische Wahrnehmung einer kapitalistischen Weltunordnung aus, die ihren Bürgern bestenfalls verhaltene Zukunftsaussichten verheißt. Dieses Stimmungsbild hat sich auch in Deutschland eingenistet. Unserem Land scheint es im Vergleich zu anderen Ländern zwar nach wie vor wirtschaftlich und sozial gut zu gehen. Zudem begreifen viele Deutsche das etablierte internationale Gefüge nach wie vor als Teil ihrer nationalen Identität. Sie sind auch stolz darauf, dass Deutschland in ein dichtes Netz europa-, menschen- und völkerrechtlicher Normen eingebunden ist. Überdies geht es vielen Menschen hierzulande nicht unwesentlich auch darum, den „Standort Deutschland“ – sprich: das auf Lohnzurückhaltung basierende exportorientierte Wirtschaftsmodell – störungsfrei am Laufen zu halten. Doch unterhalb der Schwelle einer nur scheinbaren „Zufriedenheit“ wächst auch in Deutschland die Unruhe.
Die ambivalente Stimmungslage der Deutschen lässt sich nun im Wahlkampf beobachten. Kanzlerin Angela Merkel steht heute in der Person von Martin Schulz ein eigentümlicher Herausforderer gegenüber. Schulz verkörpert – als langjähriger Repräsentant der Europäischen Union – das deutsche Bedürfnis nach europapolitischer Kontinuität. Schulz ist zudem ein langjähriges Mitglied des SPD-Vorstands. Er ist insoweit mitverantwortlich für die wenig populistische „marktkonforme“ Agenda-Politik von Kanzler Schröder, die die Wirtschaftspolitik unseres Landes vor allem an den Interessen der auf internationale Konkurrenzfähigkeit ausgerichteten Export- und Finanzindustrie orientierte. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat steht so für das Bedürfnis nach biederer Fortsetzung des sozialstaatlichen, wirtschafts- und europapolitischen Status quo.
Doch Schulz’ Rhetorik ist in Teilen auch entschieden populistisch. Und sein Populismus artikuliert eine unterschwellige Unzufriedenheit in der Bevölkerung. In seiner scheinbar mediokeren Art des Allerwelt-Menschen evoziert er ein Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins in der deutschen Bevölkerung. Die Deutschen werten die gegenwärtige Destabilisierung der internationalen Ordnung als Affront gegen die eigene extrovertierte, nicht an nationalen Grenzen haltmachende Identität. Sie spüren, dass über dem nach wie vor reibungslos zu funktionieren scheinenden Wirtschaftsgetriebe das Damoklesschwert jederzeit möglicher Erschütterungen einer außer Rand und Band geratenen Welt hängt.
Politiker gaben ihren politischen Gestaltungsanspruch auf
Die Uferlosigkeit, der Stillstand und die Desorientierung der gegenwärtigen Weltunordnung werden hierzulande sensibel registriert. Im angeblich wirtschaftlich so potenten Deutschland werden die Spätfolgen der Politik der letzten Jahrzehnte mit Verunsicherung aufgenommen. Es wirkt auf viele Menschen zunehmend befremdlich, wie sich Politik und Gesellschaft auf einer normativen Ebene an die inhärenten Entwicklungshemmnisse und die inhärente Unberechenbarkeit des als alternativlos geltenden Weltwirtschaftssystems angepasst haben. Vor allem die Politik hat sich den Krisenmodus des „globalen Kapitalismus“ zu eigen gemacht. So erhob man die zu beobachtenden Phänomene des Kontroll- und Souveränitätsverlustes der letzten Jahrzehnte zu einer dogmatisch und institutionell verankerten Tugend. Eine moralische und politische „Flexibilität“ wurde zum Standard einer auch hierzulande zermürbenden Fahrigkeit.
Die Anpassung an eine als schicksalhaft aufgefasste Unberechenbarkeit wurde zum Programm visionsloser Politiker. Sie gaben ihren politischen Gestaltungsanspruch auf. Sie bemäntelten die Preisgabe des Anspruchs, die Entwicklungspotenziale einer Marktwirtschaft zum gemeinsamen Vorteil aller Bürger zu kanalisieren, mit einem euphemistischen Neusprech: Die eigenen niedrigen Erwartungen an die Gestaltungskraft der Politik wurden auf diese Weise als eine „progressive“ Haltung ummäntelt. Das drückte sich in der praktischen Politik aus. Man erklärte den Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten, die ökologistische Wachstumsskepsis und die „postmaterialistische“ Bescheidenheit zu neuen Leitbildern. Hinzu kamen die Anforderungen einer relativistischen, „postmodernen“, moralischen Wendigkeit gegenüber den ökonomischen und kulturellen Forderungen nach mehr „Flexibilität“.
Auf diese Weise senkte die etablierte Politik schrittweise ihre Standards des „Machbaren“. In den 1960er Jahren, als der Zeitgeist deutlich fortschrittsoptimistischer war als heute, traute sich die Politik noch zu, entsprechend keynesianischer Lehrsätze ökonomische Prozesse im großen Maßstab steuern zu können. Die Politik genoss damals auch deutlich mehr demokratische Resonanz in breiteren Bevölkerungsschichten als heute. Der Normalbürger fühlte sich auf der Woge einer ökonomischen und gesellschaftlichen Aufwärtsentwicklung „mitgenommen“. Zugleich zog der verwegen und elitär erscheinende Anspruch, komplexe Makroprozesse zu steuern, auch ambitionierte Persönlichkeiten an, politisch aktiv zu werden. Heute fehlt es an solchen zugleich populären und ambitionierten politischen Großprojekten.
Stattdessen ist das Hinnehmen angeblich objektiver und unbeeinflussbarer Gegebenheiten zur traurigen Routine geworden. Heute erleben wir die Entwicklung eines für den Normalbürger schwer greifbaren, demokratischer Einflussnahme entzogenen und jegliche Richtungsentscheidung verweigernden „Nanny-Staates“. Es ist ein „Nanny-Staat“, der am Gefühl fatalistischer Ohnmacht und individueller Unzulänglichkeit anknüpft. Als maßgeblicher Akteur dieses Trends hat sich die Europäische Union zu einer treibenden Kraft der grassierenden entmündigenden Regulierung individuellen Verhaltens entwickelt. Mit gigantomanischem und kleinbürgerlichem Schulmeistertum erstickt sie jegliche individuelle Ambition zu Gunsten eines wirklichen großen Wurfs im Keim.
Eine teils anrührende politische Naivität nicht zuletzt unter jungen Menschen
In Wirklichkeit hat die EU ihren rhetorisch vor sich her getragenen internationalistischen und freiheitlichen Anspruch schon lange verspielt. Die ideenlosen politischen Eliten verstecken sich gerne hinter den intransparenten Entscheidungsprozessen der EU. Sie verweigern sich gegenüber ihren Wählerschaften der Beantwortung der großen politischen Fragen unserer Zeit: Wie entwickeln wir die kulturellen Potenziale und die industrielle Basis unseres Kontinentes weiter? Wie können die im marktwirtschaftlichen Prozess erwirtschafteten Güter gerecht und unsere wirtschaftliche Dynamik befördernd eingesetzt werden? Die Frage nach der Entwicklung eines profilierten institutionellen, geographischen und politischen Selbstverständnisses wurde in einem Raum, in dem es kein demokratisches Gemeinwesen gibt, nie wirklich gestellt.
Außerhalb Deutschlands sorgt dies längst für Absetzbewegungen. Hierzulande äußern sich dagegen eher ansatzweise Unmutsbekundungen ohne ein klares Programm. Die allseits wahrgenommenen Turbulenzen, die unsere politische Ordnung momentan heimsuchen, sollten die politischen Strömungen unseres Parteienspektrums zumindest verstärkt zu einer rudimentären Rückbesinnung hin zu ihren ursprünglichen Weltanschauungen und Philosophien animieren.
Die Liberalen, die Linken und die Konservativen könnten die offenkundig zutage tretenden Krisenerscheinungen unserer Zeit als Anlass zu dezidierteren Positionsbestimmungen nehmen. Doch nach wie vor klammert man sich an den allzu vertrauten apolitischen Strukturen fest, weil man Angst vor einer unheilvollen Zukunft hat – nicht zuletzt auch deshalb, weil man sich vieler traditioneller geistiger Ressourcen in den vergangenen „postideologischen“ Zeiten entledigt hat und sich deswegen mit der Einordnung der aktuellen Umbrüche schwertut.
Trotz aller Verzagtheit nehmen jedoch immer mehr Menschen Anstoß an Entwicklungen, die auch unser Land perspektivloser, statischer, unfreier und ungleicher gemacht haben. Die allgegenwärtige Unsicherheit könnte so zumindest ansatzweise die politischen Debatten insoweit animieren, dass unter den politischen Strömungen eine Rückbesinnung auf ihre ursprünglichen Anliegen der liberalen Freiheit, der konservativen Werteorientierung oder der linken „Gerechtigkeit“ möglich wird. Anstelle des postpolitischen Globalismus könnte so nach und nach wieder das – wenn auch verzagte – Hochhalten scheinbar altbackener Werte treten. Denn immerhin zeigt sich eine teils anrührende politische Naivität nicht zuletzt unter jungen Menschen, die Forderungen nach „Gerechtigkeit“, aber auch „Freiheit“ und sogar „Werteorientierung“ nicht mehr postmodernistisch als überkommene Chimären abtun.
Dagegen sind Politiker der Grünen, soweit sie sich nicht neu erfinden, tendenziell in der Defensive. Ihr bürokratisierter, postmoderner, ökologistischer und EU-Europa-orientierter Konsens, der sie lange als Zeitgeistavantgarde erscheinen ließ, wird zunehmend angezweifelt. Die Freien Demokraten hingegen haben die Chance, sich mit einer nachdrücklichen Positionierung gegen den „Nanny-Staat“, gegen die flächendeckende, einen Generalverdacht gegen die normale Bevölkerung richtende Überwachung, aber auch gegen eine „Überregulierung“ der Wirtschaft zu profilieren. Von grundlegenderer Bedeutung erscheinen jedoch Aussagen aus dem konservativen wie aus dem linken politischen Lager, die – wie die AfD und Teile der Linkspartei – das Prinzip der „nationalen Souveränität“ als politischen Leitwert wiederaufleben lassen.
Ein im Kern antihumanistischer und ambitionsloser Kleinmut
Es wäre grundsätzlich zu begrüßen, wenn die viel beklagte Entpolitisierung, die sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten etabliert hat, langsam zu einem Ende käme. Die politischen Moden der letzten zweieinhalb Jahrzehnte bergen nämlich – entgegen ihrer menschenfreundlichen Verbrämung – einen im Kern antihumanistischen und ambitionslosen Kleinmut. Sie erweisen sich angesichts der sich auftürmenden Herausforderungen unserer Zeit als unbrauchbar. Ungeachtet der scheinbaren Aussichtslosigkeit haben wir heute die Chance, die Werte der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung wieder hochleben zu lassen. Wir sollten uns dabei auch wieder ambitioniert dem Ziel widmen, alle Menschen am Prozess der Generierung und der Verteilung der Früchte des ökonomischen und technischen Fortschrittes teilhaben zu lassen.
Die politischen Akteure, die momentan versuchen, sich als Projektionsfläche dieses Wandlungsprozesses im Wahlkampf zu profilieren, mögen zwar den lähmenden Apparaten entstammen und insoweit als unglaubwürdig erscheinen. Dennoch könnte der demokratische Geist wieder aus der Flasche entweichen. Es ist zu hoffen, dass sich in der Gesellschaft wieder eine höhere Anspruchshaltung im Hinblick auf das technisch, gesellschaftlich und politisch Mögliche und Machbare ausbreitet. Dies sollte auch zu mehr Engagement und Debatten abseits der verbrauchten Strukturen und Ideologien animieren. Mit dem Brexit wurde erstmals seit langer Zeit offenkundig, dass keine etablierte Ordnung in Stein gemeißelt ist. Die Menschen wollen wieder unabhängig werden, und sie wollen experimentieren.
Nun sind solcherlei epochalen Umbrüche von der Bundestagswahl im Herbst wahrlich nicht zu erwarten. Wie auch immer sie ausgehen wird: Am Status quo wird sich vermutlich vorerst wenig ändern. Aber klar ist auch, dass uns darüber hinaus spannende Zeiten bevorstehen werden. Alles steht in Frage, was sich in den letzten Jahrzehnten als institutioneller und ideologischer Konsens etabliert hat. Nichts erscheint mehr alternativlos, denn die Mentalität der Alternativlosigkeit erweist sich endgültig als Sackgasse.
Dieser Artikel ist zuerst in Novo-Argumente hier und in der Novo-Printausgabe Nr. 123 – 1/2017 erschienen.
Kai Rogusch ist Jurist und Novo-Redakteur. Er lebt in Frankfurt am Main.