Wenn sie nicht gerade die ökologische Neupositionierung des Tierbedarfshändlers „Fressnapf“ analysiert oder darüber informiert, welcher „Tik-Tok-Creator im November durch die Decke gegangen“ ist, dann zeigt die Werber-Plattform Horizont auch mal politisch Flagge. Neulich informierte sie ihre mutmaßlich geschockten Leser, dass „Alltagsrassismus eines der größten und komplexesten Probleme unserer Zeit“ ist. Konkret ging es um eine Agentur, die den lukrativen Etat des „Bundesprogramms Demokratie leben!“ abgegriffen hat. Mission: den werktäglichen Rassismus durch Plakate bekämpfen.
Moment mal, mag sich der eine oder andere fragen. Um was handelt es sich beim Alltagsrassismus (AR) eigentlich? Klar, wir alle kennen den Rassismus an Sonn- und Feiertagen, wenn vielerorts Hakenkreuzfahnen von den Balkonen heruntergelassen werden und aus weit geöffneten Fenstern millionenfach der Ruf „Kanacken raus!“ erschallt. Das ist schlimm genug.
Subtiler, doch nicht weniger toxisch, kommt der stinknormale Alltagsrassismus daher. Oft werden die Täter sich dessen gar nicht richtig klar. Zum Beispiel, wenn eine junge Frau ein U-Bahnabteil betritt, in dem eine Gruppe von Migranten etwas breitbeinig hockt. Und wenn diese Frau, gefangen in unbewussten Klischees und Vorurteilen, sich dann in den nächsten Waggon begibt.
Genau das ist mit AR gemeint. Anders verhält es sich natürlich, wenn die Frau es angelegentlich vorzieht, sich in sicherer Entfernung von einer Horde bierdeutscher Hansa Rostock-Fans zu platzieren. Das ist berechtigte Vorsicht, zumal unter Fußballfanatikern nicht selten rechtsradikale Hools zu finden sind.
Rundumdieuhrrassisten
Der Tatbestand des Alltagsrassismus liegt auch vor, wenn zwei Schwule, die von Hamburgs ZOB aus zur schicken, queeren Gastromeile Lange Reihe streben, nicht den direkten Weg über den Steindamm einschlagen, wo eine bunte Community ihre Handyshops, Sisha-Bars, Wettbüros und Gemüseläden betreibt. Sondern wenn diese paranoiden Homos lieber den Umweg über die dem Hauptbahnhof nahe, von uniformierten Polizisten und Zivilfahndern gut kontrollierte Kirchenallee nehmen.
Oder, wenn einem bis zum Stiernacken in dumpfen Vorurteilen verstrickten Weißarsch beim Anblick einer Gruppe von People of Color an der Balduintreppe – um in der rassismusgeplagten Hansestadt zu bleiben – sofort die Assoziation Abschiebung durch die Birne rauscht. Obwohl ja gar nicht fest steht, dass es sich bei den dort lungernden Personen tatsächlich ausschließlich um zumeist schon dutzende Male erwischte Drogendealer handelt. Das behaupten zwar auf St. Pauli tätige Bullen. Aber die sind sowieso Rundumdieuhrrassisten.
Oder, wenn die deutsche Kartoffel einen Taxifahrer, der ihr Idiom verstehbar spricht, unsensibel fragt: Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?
Das Leid eines Mannes, der vielleicht schon zwei, drei Jahre in Schland wohnt, aber feststellen muss, dass er immer noch ausgegrenzt wird – das ist es, was Alltagsrassismus anrichtet. Wie sang Bob Dylan? „You can hurt someone and not even know it.”
Die Agitationskommission des ZK der SED, Quatsch, die Bundeszentrale für politische Bildung, klärt auf:
„Alltagsrassismus hat viele Gesichter. Es ist die Frage nach der – vermeintlichen – Herkunft, obwohl man in Rostock geboren wurde. Es sind die abwertenden Blicke im Bus, die rassistischen Rufe im Stadion oder auch die Zurückweisung an der Diskotür. Der mit zweierlei Maß messende Ausbilder, die rassismusunsensiblen Kolleg*innen oder die diskriminierenden Darstellungen in Büchern, Zeitungen und Filmen. Vermeintliche Komplimente wie ‚Du sprichst aber gut Deutsch‘ oder lobend gemeinte Verallgemeinerungen wie ‚asiatische Schüler_innen sind immer so fleißig‘ sind weitere Beispiele für Alltagsrassismus.“
„Die Tyrannei der gutmeinenden Fremdenfreunde“
Gegen den AR hilft ferner, wenn sich potenzielle Täter – also praktisch alle Bio-Deutschen, die noch nicht woke sind – intensiv mit kritischer Weißheitsforschung, Dominanzkultur, struktureller Diskriminierung, Ethnisierung sowie postkolonialen Konzepten beschäftigen.
Natürlich kann das nur ein Anfang sein. Um profund in das Problem des ureigenen, weißen, oft alten und männlichen Rassismus einzusteigen und nicht bloß, wie die Expertin Sabine Forschner erläutert, ein „antirassistischer Gutmensch“ zu sein, der „die Tyrannei der gutmeinenden Fremdenfreunde“ ausübt, indem er versucht, gleich dem Fußballreporter Heribert Faßbender „im Fremden das Eigene zu erkennen, statt auch durch das Fremde das Fremde in sich anzuerkennen“ – um also die ganze verflixte und zugenähte Chose wirklich aufdröseln zu können, muss man sich die Analysekategorie Rassistisches Wissen aneignen. Sie untersucht den „Rassismus nicht nur als individuelles Vorurteil, sondern als Teil eines gesellschaftlichen Wertesystems.“ Alles klar?
Antialltagsrassismus ist so wichtig! Schon deshalb, weil er Arbeitsplätze schafft. Zum Beispiel an Universitäten. Wer die hier verlinkten Seminarberichte „zur gesellschaftlichen Konstruktion von (Welt-)Anschauungen“ einsieht, muss zugeben: die daran Beteiligten irgendwann einer Erwerbsarbeit jenseits von Studierzirkeln, Gesinnungskampfverbänden oder Staatsbürokratien zuzuführen, könnte kompliziert werden.
Manche staunen, dass um Alltagsrassismus solch ein Wirbel gemacht wird. Schließlich gibt es nach Erkenntnissen verdienter Wissenschaftler ja gar keine Menschenrassen. Wenn der Begriff Rasse demnächst aus dem dritten Absatz des Artikels 3 im Grundgesetz gestrichen werden sollte, was ungefähr dieselben Wissenschaftler befürworten – müsste man Rassismus dann nicht umbenennen? Nein, denn ein Rassist glaubt ja weiterhin an die Existenz von Rassen.
Wie es auch der Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul tat. Aufgewachsen auf Trinidad als Sohn indischer Einwanderer, kreiste das Werk des „literarischen Weltumseglers“, wie ihn die Stockholmer Akademie nannte, meist „um Rassefragen, postkoloniale Probleme und die Entwurzelung und Verlogenheit des Menschen“ – so die FAZ. Was der bei Ewigmorgigen (Michael Klonovsky) wenig populäre „entwurzelte Weltbürger“Naipaul in seinen Büchern als Spezies mit sehr unterschiedlichen Mentalitäten und Verhaltensweisen beschrieb, hatte er sich natürlich bloß eingebildet.
Negativpreis „Goldene Kartoffel“
Weshalb auch er, zusammen mit vielen anderen toten weißen Männern (hallo Joseph Conrad!) endlich aus den Bibliotheken verbannt gehört. Entsprechende Vorstöße gibt es schon lange. Und auch Brechts „Dreigroschenoper“ sollte mal gehörig auf Zeitgeist gebracht werden. Rassistische Passagen wie im „Kanonen-Song“ gehen gar nicht mehr.
Dafür geht es den Alltagsrassist*innen an die Kragen, die weißen. Lange galt das Format Spiegel TV als eine Bastion politisch korrekten Fernsehens. Doch nun verliehen die „Neuen deutschen Medienmacher*innen, ein Zusammenschluss von Multikultiklünglern, dem Magazin ihren Negativpreis „Goldene Kartoffel“(sic) für besonders schlechte Berichterstattung, wie der Branchendienst „Meedia“ meldete.
Begründung: Ein Spiegel TV-Bericht über Clan-Kriminalität in Deutschland sei „verzerrt, stigmatisierend und rassistisch“. Tatsächlich hätte der Beitrag den selbstredend irreführenden Eindruck erwecken können, Clan-Kriminalität werde vorzugsweise von Menschen mit Migrationsvorder- beziehungsweise -hintergrund betrieben.
Die Preisvergabe sei, so „Meedia“, aus einer Shisha-Bar heraus erfolgt. Falls das nicht ein kleiner Scherz des Branchenblatts war.