Thilo Sarrazin / 13.11.2021 / 06:15 / Foto: Achgut.com / 94 / Seite ausdrucken

Alles in der Schwebe

Die politischen Begriffe von „links“ und „rechts“ sind historisch wandelbar und setzen als geistigen Bezugspunkt die Existenz einer „Mitte“ voraus. Diese kann aber örtlich, zeitlich und längs der großen Linien der Geschichte inhaltlich ganz unterschiedlich verortet sein. Das zeigt die Analyse der Bundestagswahl nach Wahlkreisen: In Friedrichshain-Kreuzberg kamen die Grünen auf 36,7 Prozent der Zweitstimmen, die AfD erreichte dagegen nur 4,1 . Genau umgekehrt war es im Wahlkreis Sächsische Schweiz / Östliches Erzgebirge: Dort bekam die AfD 31,9 Prozent der Zeitstimmen, die Grünen dagegen nur 5,3. 

Frauen in Kopftüchern, arabische Clans, eine offene Drogenszene im Görlitzer Park, ein vermüllter öffentlicher Raum und dysfunktionale Schulen halten die Wähler in Friedrichshain-Kreuzberg seit vielen Jahren nicht davon ab, grün oder anderweitig links zu wählen. Umgekehrt haben im südlichen Sachsen sanierte Innenstädte, gesunde Waldluft und eine im Vergleich zu Berlin sehr leistungsfähige öffentliche Verwaltung die Wähler nicht daran gehindert, die systemkritische AfD zur mit Abstand stärksten Partei zu machen und die Grünen ins Abseits zu stellen. Offenbar sind es eher die grundsätzlichen Einstellungen der Bürger als die tatsächlichen Verhältnisse, die das Wahlverhalten bestimmen. 

Eins, zwei, drei

Die drei großen Leitentscheidungen der Merkel-Ära: 

•  der Übergang von der Europäischen Währungsunion zu einer Schulden- und Fiskalunion,

•  der Ausstieg aus der Kernkraft,

•  die Öffnung der Grenzen für die großen Fluchtbewegungen 2015/16

knüpften eher an Kreuzberger als an sächsische Mentalitäten an, und genauso hat die Union auch ihren Wahlkampf geführt. Der Forsa-Chef Manfred Güllner, traditionell der SPD zugeneigt, äußerte nach der Wahl die Einschätzung, dass die Union mit Söder als Kanzlerkandidat 30 Prozent der Stimmen bekommen hätte. Das mag so sein. Wir würden dann demnächst von schwarz-gelb-grün anstatt von rot-grün-gelb regiert werden. Wäre der unmittelbar wirkende Unterschied sehr groß? Ich glaube es nicht. 

In beiden Fällen würden die großen Leitentscheidungen der Merkel-Ära zunächst nicht hinterfragt werden. 

In beiden Fällen müsste die Bundesregierung – angetrieben von den Grünen – zunächst liefern in Bezug auf das hochgehypte Klima-Thema.

In beiden Fällen würde sich schnell zeigen, dass die politisch angekündigten CO2-Reduktionen nicht bis 2030 umsetzbar sind und dann, wenn sie ernsthaft verfolgt würden, eine existenzielle Gefährdung der deutschen Industrie bedeuten.

In beiden Fällen müsste die Regierung sich zu den wachsenden Risiken der Geldpolitik der EZB verhalten und mit den Inflationsgefahren umgehen, die sowohl aus der europäischen Geldpolitik als auch aus der Klimawende herrühren.

Der eigentliche Unterschied besteht in der Zusammensetzung der Opposition.

Kommt man sich in der Opposition näher?

Im Falle eines Bundeskanzlers Söder wären in der Opposition die beiden roten Parteien einerseits und die AfD andererseits im Verhältnis zueinander wie Feuer und Wasser und würden niemals eine gemeinsame Oppositionslinie zustande bringen. Es gäbe auch keine wirksame Opposition gegen fiskalische Abenteuer. Kurzum: In der Opposition könnte keine potenzielle Regierung heranwachsen.

Im jetzt absehbaren Fall einer rot-grün-gelben Regierung unter einem Bundeskanzler Scholz gibt es dagegen eine – wenn auch geringe – Chance, dass Union und AfD sich in der Oppositionsarbeit näherkommen.

Das bedingt allerdings, dass die AfD ihre Tendenz zur Fundamentalopposition aufgibt und die Union wieder stärker versucht, ihr bürgerlich konservatives Profil zu schärfen.

Von Seiten der künftigen Bundesregierung wird es, selbst wenn sie ihre Sache gut macht, zahlreiche Steilvorlagen für eine wendige Opposition geben:

  • Die kurz- und mittelfristigen Klimaziele, wie sie im geltenden Klimaschutzgesetz zum Ausdruck kommen, sind in ihrer Radikalität absurd. Vielfältige Formen des Scheiterns sind denkbar, ein stabiler Erfolgspfad ist dagegen nicht sichtbar.
  • Eine gegen das Auto gerichtete Politik wird außer im grünen Milieu ausgewählter Großstädte überhaupt nicht möglich sein. 80 Prozent der Bürger brauchen das Auto und werden von ihm nicht lassen. Die Stärkung der Schiene wird den Modal Split nicht nachhaltig verändern. Die Gesamtmobilität wird nicht sinken.
  • Ernsthafte Eingriffe in den Lebensstandard der breiten Schichten werden für die Legitimation der Regierung gefährlich sein.
  • Nach zwei, spätestens drei Jahren Regierungszeit wird man bekennen müssen, dass die großen nationalen Klimaziele gescheitert sind.

Dann kommt die große Stunde einer intelligenten Opposition. Diese wird umso glaubwürdiger sein, je weniger sie sich bis dahin ideologisch verhebt. Übrigens: Der jetzt zu wählende Oppositionsführer wird immer eine Übergangsfigur sein, und er kann umso freier agieren, je mehr er sich von Anfang an darauf einrichtet. Darum wäre aus meiner Sicht in dieser Zeit Friedrich Merz der Oppositionsführer mit der größten Eignung.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

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Leserpost

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Jürgen Schäfer / 13.11.2021

Bisher ist das Leben bei aller Kritik an Mißständen noch weitgehend intakt, siehe Supermärkte, Apotheken, Arztpraxen usw.! Laut ARD-Wahlnachlese 26.9.21 sind 80% mit ihrer ökonomischen Lage zufrieden, die haben demnach ein gesichertes bis gutes Leben und das ist auch der Eindruck, den man im Alltag hat. Und ob nun eine schwere Wirtschaftskrise die über Generationen gewachsene problematsche politische Mentalität der Deutschen (Hang zum Wahn laut Adenauer) und gar das Wahlverhalte groß ändern würde, ist ungewiß bis unwahrscheinlich. Es geht wohl wie bis 1945 wieder willig in den Untergang, vermutlich den dritten und letzten, dazu kommt noch unerbittlich die demografische Frage. Momentan ist es noch so, daß die Mehrheit genug zum Leben hat, um die Teuerungen usw. abzufedern,  und die meisten Erwerbslosen und Armen soweit vom Staat gepampert werden (wie auch das GRÜN-PDS-Publikum in Berlin-Kreuzberg) , daß etliche unter denen zwar unzufrieden sein können, aber nicht an Hunger und Unterkühlung leiden müssen. Für Patrioten und Wert-Konservative, die Lager sich oft überschneidend, ist die Lage schon lange trostlos, da geht vermutlich nur noch ein Abschied in Ehren.

Wolfgang Richter / 13.11.2021

” halten die Wähler in Friedrichshain-Kreuzberg seit vielen Jahren nicht davon ab, grün oder anderweitig links zu wählen.” Dazu kann man wieder nur auf den alten Herrn Einstein verweisen, der “Wahsinn” etwa so formulierte, , “Immer die selbe Handlung wiederholen, in der Hoffnung, damit doch irgendwann mal ein anderes Ergebnis zu erhalten.” Diese Hanseln können sich auch ständig mit dem Baseballschläger, alternativ einer Bratpfanne, vor die Stirn schlagen, in der Hoffnung, daß sie damit den Schmerz loswerden. Offenbar muß es noch erheblich schlimmer kommen, bis es besser werden kann.

Jochen Lindt / 13.11.2021

Die CDU muss sich glaubwürdig von Merkels Politik der offenen Grenzen verabschieden.  Noch nicht mal schrill nationalistisch wie die AfD, sondern rein sachlich, denn kein Staat der Welt braucht Millionen islamische Kostgänger, die den Sozialstaat als Goldmine betrachten.  Mit dieser Pragmatik sind in Europa bisher alle konservativen Parteien ans Ruder gekommen. Dass Deutschland dabei die große Ausnahme ist, glaube ich keine Millisekunde.

Frank Stricker / 13.11.2021

Wie immer, eine präzise und nüchterne Bestandsaufnahme von Herrn Sarrazin. Einzig die launige Bemerkung, “wenn die neue Bundesregierung die Sache gut macht”, ist doch eher “Science Fiction”, lieber Herr Sarrazin…..........

Heinrich Wägner / 13.11.2021

“Vernunft und Verstand sind jetzt Nazi ” Was ist ,was sind Nazi. Wer hat sie erlebt, gesehen Sabine Schönfelder.  Meine Generation, die achtzig ++,alles Andere schwafelt von etwas was sie nie erlebt haben. Der Adolf aus Austrianien war kein gefährlicher Mann. Es waren die kleinen Adolfos und Adolflinen. Sie waren es die seine kruten gefährlichen Ideen umgesetzt haben wovon das übrig geblieben ist in den wir als Kinder gespielt haben ,Ruinen. Und die Ruinen und Fragmente Mensch. Gespaltet, belogen und betrogen. Ja, es ist das Alte Spielchen in Neuen Gewand. Wir Alten haben sie erlebt. Mein Großvater der im KZ Stutthof bei Danzig ums Leben kam würde sagen,mein Junge du bist da wieder voll drin, der Nebel zieht auf in dem die Mehrheit der Deutschen mit Dummheit und ohne Verstand dem entgegengehen was wir erlebt haben . Sie laufen wie Ratten dem Fänger hinterher. 

Matthias Kaufmann / 13.11.2021

Nicht so stark wie von Sarrazin gewohnt, finde ich. Die genannten „Steilvorlagen“ sind letztlich alles gescheiterte „Klimaziele“, das wird die rote Regierung und Wählerschaft aber kein bisschen kratzen: dann müssen „wir“ uns eben mehr anstrengen, also noch mehr verzichten! Eher sehe ich andere Steilvorlagen: die Stromversorgung wird immer wackeliger und teurer, während Frankreich und Russland z.B. klimaschonende Atomkraftwerke bauen. Die Inflation wird immer mehr Leute arm machen, was aber die Staatsdiener kaum betrifft, so dass sich die Corona-bedingte Spaltung der Gesellschaft weiter vertieft. Und drittens werden die Verteilungskämpfe härter, das Aufbegehren gegen die Versorgung von immer mehr Migranten wird heftiger. Diese Realitäten werden die Regierungsparteien entzweien, die Oppositionsparteien AfD und Union aber zueinander führen.

Marion Sönnichsen / 13.11.2021

Die AfD war nie zu keinem Zeitpunkt in einer Fundamentalopposition. Im Gegenteil und das sieht man in allen Landesparlamenten und im Bundestag. Wenn Sie die Bundestagsprotokoll durchsehen, dann sehen Sie das deutlich; ferner auch im Abstimmungsverhalten der AfD. Die einzige Partei, die sich fair verhält, ist die AfD. Es sind die Altparteien, denen Sie so etwas vorwerfen können. Außerdem kann man die Wahlergebnisse in Friedrichshain-Kreuzberg nicht ernst nehmen.

Dr. Heinz Schrezenmaier / 13.11.2021

Mit der Wahlentscheidung wollen Wähler auch ihre politische Einstellung als richtig dokumentieren-sich selbst ihrer Überzeugungen beweisen. Damit wird der Gegner ideologisch geschlagen. Rationale Überlegungen dominieren meist nicht, denn sonst dürfte das Aussehen, Geschlecht oder Herkuft keine Rolle spielen - oder ist es wichtig, ob ein Kandidat aus Bayern oder Berlin kommt oder wer für das Tempolimit oder die PKW-Maut ist? Politisch korrekt: nein. In der Realität schon .

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