Einen Namen machte sich der Unternehmensberater Marcel Luthe, Autor der vorliegenden chronique scandaleuse berlinoise, als Initiator des mit fast einer Million Stimmen zwar erfolgreichen, aber 2017 politisch abgewehrten Volksentscheids für die Beibehaltung von Berlin-Tegel als Zweitflughafen der Bundeshauptstadt. Anno 2016 im Wahlbezirk Grunewald-Halensee für die FDP ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, erwarb er sich dank seiner unermüdlichen Neigung zu – bis dato 2.000 – Anfragen die Rolle eines betriebsfremden Außenseiters. Den rot-rot-grünen Senat nervte er mit allerlei lästigen Anträgen zur Akteneinsicht. Wie und warum er sich als Sprecher der FDP im Innenausschuss mit seiner Fraktion überwarf, sodass diese ihn aus der Fraktion ausschloss, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Im Oktober 2020 verließ Luthe (unter Beibehaltung seines Mandats) die FDP. Im April 2021 trat er als Spitzenkandidat der „Freien Wähler“ für die im September – am selben Tag wie die Bundestagswahlen – anstehenden Berliner Wahlen hervor.
In seinem Buch präsentiert Luthe eine 20 Kapitel umfassende Serie von bekannten oder bereits halbvergessenen Berliner Skandalen, von Missständen in der Stadt, von Fehlleistungen und Vetternwirtschaft innerhalb der politischen Klasse. Zu recht verweist er auf die real steigende – nur durch resignative Nichtverfolgung von Straftaten und statistische Finessen – vermeintlich geminderte Kriminalitätsrate in der Stadt. Überlastung der Justiz und Prozessverzögerung gehen einher mit der unzureichenden Personalausstattung der unterbezahlten Polizei, mit Angriffen auf Polizisten und Feuerwehrleute. In der organisierten Kriminalität liegt Berlin unter den Bundesländern hinter Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen in absoluten Zahlen an vierter Stelle. Obenan standen in der Bundeshauptstadt 2019 nicht, wie zu erwarten, arabische Clans, sondern Rumänen, Serben, Tschetschenen und Vietnamesen. In der Zwangsprostitution stechen Nigerianer hervor, in der Schleuserkriminalität „führt“ Deutschland (genauer: deutsche Staatsbürger) vor Serbien, Türkei und Vietnam (140–148).
Seine Thesen zum desolaten Zustand der Stadt belegt der Autor mit erhellenden Statistiken. Ist das Buch auch flüssig geschrieben, so wirkt es auf den Leser oft dort ermüdend, wo die Seiten mit langen Auszügen aus seinen Anfragen an den Senat gefüllt sind.
Verfassungsrechtlich unzweifelhafter Volksentscheid „nicht umsetzbar“
Luthe versteht sich als kämpferischer Liberaler, der Berlin zwar noch nicht als „failed (city) state“ betrachtet, aber die „Kapriolen“ beenden will, „mit denen Rot-Rot-Grün, ebenso wie Rot-Schwarz und Rot-Rot vor ihnen, Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaft vernichtet und Sozialismus errichtet.“ (6) Gleich im ersten der 20 Kapitel nimmt er die unendliche, zig Milliarden verschlingende Geschichte des neuen Großflughafens BER aufs Korn, bei der – nicht nur – die im Aufsichtsrat versammelten Politiker und Politikerinnen um Klaus Wowereit ihre Aufsichtspflichten evident vernachlässigten. Nun wird die Flughafengesellschaft FBB (Flughafen Berlin Brandenburg GmbH) zwar zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert, und als Eigner firmieren die Länder Berlin und Brandenburg sowie der Bund.
Nichtsdestoweniger ist zu fragen, ob zur Erklärung des mit zahllosen Pannen behafteten Großprojekts der Begriff „Sozialismus“ angebracht ist. Die Vergeudung von öffentlichen Geldern, die Mischung aus bürokratischem Schlendrian und einem unüberschaubaren Geflecht von privaten Unternehmen und Subunternehmen gehört weltweit zur Signatur von Riesenbaustellen. Immerhin erfuhr Luthe bei einer seiner ersten Anfragen zum Fortgang der Dinge bei der FBB, dass es sich bei einem Haftungsgutachten um „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse“ handle, die dem Untersuchungsausschuss BER nur „als vertrauliche Unterlagen (Verschlusssache-vertraulich) zur Verfügung gestellt werden.“ (17) Auch in westlichen Demokratien hat Transparenz so ihre Grenzen.
Mutmaßlich hatte Luthes Initiative „Berlin braucht Tegel“ von 2015 nie eine Chance, da die Planungen für die Nutzung des großen Terrains zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen waren. Zitationswürdig ist ein Passus aus dem 108-seitigen Beschlussentwurf des Senats, in dem der verfassungsrechtlich unzweifelhafte Volksentscheid als „nicht umsetzbar“ erklärt wurde: „Das Abgeordnetenhaus unterstützt den Senat bei der Gewährleistung einer zukunftsorientierten Anbindung Berlins an den Luftverkehr entsprechend dem SingleAirport-Konzept.“ (228)
Etwas anders verlief Jahre zuvor – während des durch die Hauptstadtverlagerung ausgelösten Baubooms in den 1990er Jahren – der Skandal um die Berliner Bankgesellschaft. Die SPD, im Aufsichtsrat unter anderem durch Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing vertreten, nutzte 2001 die Chance, durch Attacken auf den CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky, Intimus des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen, diesen zu stürzen und Klaus Wowereit zu installieren. Der Prozess gegen Landowsky kostete Millionen und endete 2014 mit dessen Freispruch.
Inkompetenz und Steuergeldverschwendung
Einige der von Luthe aufgeführten Beispiele für politische Inkompetenz und Verschwendung von Steuergeldern – etwa anno 2020 der Einkauf von Corona-Masken für 170 Millionen Euro zum dreifachen Marktpreis – sind kein Berliner Spezifikum. Anders der Umgang mit dem Thema Wohnungsnot, steigende Mieten und „Immobilienhaie“. Die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt resultiert nicht allein aus dem Bevölkerungswachstum der Hauptstadt und dem Zuzug von zahlungskräftigen Neu-Berlinern. Eine Ursache liegt auch in der Anmietung von Wohnungen für 20.000 – teilweise nicht auffindbare – Flüchtlinge, für die 200 Millionen Euro jährlich anfallen. (159) Gleichzeitig läuft die moralisch gemeinte Kampagne „Berlin hat Platz“.
Während der amtierende Senat den Rückkauf von ehedem privatisierten Wohnungen anstrebt, kommt parallel dazu die „Initiative für den Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ins Spiel. Deren Ziel ist – ein Volksentscheid. Der „private“ (oder „zivilgesellschaftliche“) Trägerverein – mit einem früheren Stasi-Major als Vorstandsmitglied – wird laut Auskunft des grünen Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg mit „einer Summe von 17.500 € aus dem Kapitel 4200/ 5321 /Bürgerbeteiligung an Planungen)“ finanziert. (233f.)
Berlintypisch ist für Luthe der Song des Neuköllner Rappers Kazim Akboga „Is mir egal“, mit dem die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) Werbung machen. (258) Ob ihm mit seiner in der Hauptstadt offenbar in sich noch uneinigen Vereinigung „Freie Wähler“ der Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus gelingt, steht dahin. Nichtsdestoweniger liefert er mit seinem Buch nicht nur seinen potenziellen Wählern, sondern auch anderen, die die „Entfremdung der Politik von den Bürgern“ (291) wahrnehmen, ein paar einprägsame Argumente.
Marcel Luthe: Sanierungsfall Berlin. Unsere Hauptstadt zwischen Missmanagement und Organisierter Kriminalität, München (FinanzBuch Verlag) 2021, 304 Seiten, 20,60 €