Trotz Krieg in Israel gibt es genug Gründe, warum man trotzdem nach Israel gehen sollte.
Wer noch ein Mensch ist, wollte in den letzten Monaten in Israel leben. Nicht im Israel des ständigen Raketenbeschusses und der Schutzbunker; nicht im Israel, das immer noch ein Massaker erlebt; nicht im Israel, in dem die eigenen Kinder in der Armee kämpfen und es jederzeit an der Tür klopfen kann. Wer noch ein Mensch ist, will in Israel leben, weil die normalen Israelis offenbar Ressourcen und Möglichkeiten haben, von denen wir hier nur träumen können. Vieles, was bei uns kindisch und bizarr ist, ist in Israel schlichtweg unmöglich. Das hat mit der langjährigen Erfahrung eines Alltags an der Grenze und mit der jüdischen Religion selbst zu tun. Israelis gehören zu jenen im dekadenten Westen, die reale Not und Notwendigkeit von fiktiven selbstgemachten Krisen unterscheiden können müssen. Auch wenn sie sich durch die WHO, den Weltklimarat und die eigenen Leute hinters Licht führen lassen, gibt es doch einen spezifisch israelischen Realitätscheck: die Grenze zu Gaza, Ägypten, Jordanien, zur Westbank, zu Syrien und zum Libanon. Aufgrund dieses Faktenchecks ist Israel wohl das einzige Land im Westen, das noch das hat, was alle wollen: National- und Gemeinschaftsgefühl, Nachbar- und Freundschaft, Familien und Kinder.
Dort gehören beispielsweise Erwartungen und Hoffnungen an einen ernsthaften Journalismus, eine funktionierende Armee oder an die Möglichkeit, durch tägliche Demonstrationen die Regierung zu einem besseren Handeln zu veranlassen, noch zur Normalität. Werden diese Erwartungen enttäuscht, gibt es lautstarke Kritik und massiven Druck auf die Verantwortlichen. Verantwortliche zu kennen und zur Verantwortung zu ziehen, ist für das tägliche Leben dort überlebensnotwendig. Die israelische Normalität klingt für uns wie ein demokratisches und menschliches Schlaraffenland. Wer also noch Mensch sein will, den wird es nach Israel ziehen. Auch wenn es eine Idealisierung ist, kann ich nur raten, einen Besuch zu wagen. Der Realitätscheck kommt von selbst, und im Schock ist niemand allein. Nur eines ist manchmal schwer in Israel zu bekommen, selbstgewählte Einsamkeit. Wer die sucht, muss – wie Jesus – in die Wüste.
Wenn Christen Israel besuchen, kommt es immer wieder vor, dass manch durchlässige Seele die Christusenergie zu sehr in sich wirken lässt und glaubt, selbst Jesu von Nazareth zu sein. Die medizinische Erklärung hebt darauf ab, dass diese Menschen den Widerspruch zwischen vorgestellter, biblischer Realität und dem Wahnsinn der israelischen Wirklichkeit nicht aushalten und daher eine Persönlichkeitsspaltung erleben. Aufgrund eigener Erfahrungen habe ich starke Zweifel an dieser Erklärung und würde das Argument umdrehen: Wer längere Zeit in Jerusalem verbringt und dabei nicht an die tiefsten Fragen des eigenen Menschseins rührt, der hat ein Problem. Wer die dichten und engen Wege der Altstadt und der Via dolorosa geht und nicht an dem schier unlösbaren Problem des Zusammenlebens von so vielen Individuen, die wenig Talent für Gemeinschaft und Zivilisation mitbringen, verzweifelt – was für ein Mensch ist das?
Man muss nicht Christ sein, um den Schmerz zu spüren, den großen menschlichen Herausforderungen nicht gewachsen zu sein. Wer sich fragen will, warum wir immer wieder in gewalttätigen Lösungen stecken bleiben, ist hier am rechten Ort. Wer die eigene und kollektive Selbstgefälligkeit feiern will, ist hier fehl am Platz. Daher ist Jerusalem eine Form der deprimierenden Dekadenz-Behandlung. Hilfreich deprimierend gegen selbstzerstörerischen Individualismus; hilfreich deprimierend gegen selbstgefällige Katastrophensucht. Es mag schneller wirkende, chemische Medikamente geben, aber ich kenne kein längerfristig wirkendes als Jerusalem. Wie immer geht es um die Dosis. Überdosiert führt diese Therapie zum Jerusalem-Syndrom. Für Christen bleibt Jerusalem eine Irritation. Angeblich gelingt es uns, die Leistung der Juden durch den Glauben an Christus auszuhalten und uns von Jerusalem frei zu machen. Tatsächlich wissen wir aber, wie schwer es uns in den letzten 2.000 Jahren fiel, die überragende Vorarbeit des Judentums zu bewahren, geschweige denn sie zu überbieten.
Freiheit ohne Menschenopfer
Die Entwicklung der jüdischen Gemeindepraxis und Theologie hat die Freiheit des Menschen als zentralen Bestandteil der Beziehung zu Gott auf Dauer installiert. Der offenkundigste Ausdruck dieser Leistung ist die endgültige Abschaffung des gottgefälligen Menschenopfers: Es gibt keine, aber auch wirklich keine Rechtfertigung dafür, Menschen einem wie auch immer gearteten religiösen, politischen oder anderen Zweck zu opfern. Diese Entwicklung des Judentums ist die Grundlage liberaler Demokratie und der Grundrechte (bill of rights) als Schutz vor dem Opferzwang des Staates. Das Opferverbot in der Version der liberalen Republik lautet: Keine Solidarität rechtfertigt das Opfer individueller Schutzrechte oder gar der Einzelnen selbst. Das Opfergeschrei der Medien lautet aber: Solidarität in der Katastrophe ist Zwang und rechtfertigt alles. Das heutige Wort für Opfer lautet Katastrophe.
In der Katastrophe kollektiv zu reagieren und die Rechte der Einzelnen nicht mit Füßen zu treten – das ist nur durch den Opferverzicht möglich geworden. Der permanente Opferverzicht wurde Gott selbst zugeschrieben und gilt unabhängig von menschlichen Launen und politischen Umständen. Es gibt im Judentum der letzten 2.000 Jahre keine religiöse Rechtfertigung dafür, das eigene oder das Leben der Anderen für irgendeinen göttlichen Zweck zu zerstören. Selbstverteidigung oder Selbsttötung aus Verzweiflung ist eine andere Angelegenheit. Politisch motivierte Selbstmordattentate entstanden im Christentum und Islam. Die radikale Absage ans gottgefällige Menschenopfer ist einzigartig in der Gattungsgeschichte und bietet immer wieder Anlass für neid-getriebenen Hass auf Juden.
Das symbolische Jerusalem, die Stadt im Westen und die Stadt des Friedens, steht seit dem 17. Jh. für die Hoffnung auf ein besseres Leben in Freiheit und Wohlstand (city upon a hill). Die reale Stadt Jerusalem symbolisiert heute immer noch die radikale Abkehr vom Menschenopfer. Wer hier Zeit verbringt, kann dem Eingemachten der mittelmeerischen Zivilisation begegnen; der Wiege einer Zivilisation, die bereit ist, individuelle, geistige und politische Freiheit in einem komplexen Verhältnis der Einzelnen zur Gemeinschaft (der Familie, des Stammes und Staates) auszuhandeln. Es ist daher kein Zufall, dass der Satz „Es gibt kein Recht auf Gehorsam“ von einer säkularen Jüdin stammt, die ein Buch über „Eichmann in Jerusalem“ geschrieben hat und dafür von ihrem eigenen Stamm aufs Schärfste kritisiert wurde. Schon die Formulierung „säkulare Jüdin“ ist eine unsinnige Verdoppelung im Judentum. Ursprünglich wurde das Wort „säkular“ für Mönche verwendet, die das klösterliche Leben verlassen und sich als Priester unters Volk begeben haben. Wenn wir „säkular“ also mit „religös im Weltlichen“ übersetzen, wäre Hannah Arendt eine „Jüdin im Weltlichen“ – was denn sonst?
Rechtfertigung von Lügengebäuden
Auch Jerusalem ist ein realer Ort der Begegnung und Reibung zwischen den geistigen und politischen Ambitionen der drei westlichen und monotheistischen Religionen. Der wunde Punkt der Reibungen zwischen Juden einerseits und Moslems und Christen andererseits ist die religiöse Interpretation des Verhältnisses von Ideologie, Lüge und Wahrheit. Juden müssen sich im argumentativen Kampf mit ihrem Gott bewähren. Falsches Zeugnis abzulegen, gehört zu den schlimmsten Vergehen gegen das Bündnis mit Gott, mit der eigenen Gemeinschaft und mit sich selbst (8. Gebot). Im Islam darf und muss gelogen werden, um die Widersacher zu täuschen. Das haben Friedensaktivisten immer wieder schmerzlich erlebt. Wir Christen können uns auf Paulus ausruhen, der seinen Brüdern und Schwestern im Angesicht der realen Katastrophe und begonnenen Endzeit ein „Leben-als-ob“ empfohlen hat. Das Ausbleiben der Endzeit oder die mangelnde Geduld ob ihrer langen Dauer hat dazu geführt, dass Christen nach weltlichen Katastrophen suchen, denen sie eine heilbringende, spirituelle Endzeitstimmung abgewinnen können.
Die Rechtfertigung von Lügengebäuden, sind dann kaum noch von willentlicher Selbsttäuschung oder einem „Leben-als-ob“ zu unterscheiden. Daher finden insbesonders westliche Christen ihr „Jerusalem-als-ob“ immer wieder in weltlichen Katastrophenszenarien. Im realen Israel finden sie sich dann selbst und am Grenzzaun oder im Gazastreifen wieder. Für eine kleine, aber sehr laute Minderheit ist der Grenzzaun zwischen Gaza und Israel ein Ort der heilsamen Katastrophe – die aktuelle Version der Rechtfertigung des Menschenopfers. In Israel und an dessen Grenzen prallen Kulturen und Zivilisationen aufeinander. Hier werden Konflikte real und ihre Lösung existenziell. Es betrifft alle, und es braucht (fast) alle für eine gelingende, gewaltfreie Lösung. Die Stadt auf dem Berg ist ein Hoffnungszeichen, dass es Wege gab und gibt, diese Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Wir brauchen solche Hoffnungszeichen von jenen, die hautnah mit diesen Konflikten leben.
Was viele im Westen nicht mehr verstehen können oder wollen: Es gibt eine Front, eine existenzielle Grenze. Ein Name (ha shem) und ein Ort (ha makom) dieser Grenze ist „Jerusalem“. Für einige Jahre haben viele gehofft, die Grenze könnte verschoben werden und nur noch entlang des Gaza-Streifens oder der Westbank verlaufen. Das hat sich als unbegründete Hoffnung erwiesen. Im Gegenteil, die Palästinenser und ihre Verbündeten im Westen wollten seit langem diese Grenze und diesen Konflikt internationalisieren; das ist ihnen gelungen. Heute verläuft diese Grenze auch durch unsere Städte und Gemeinden. In Israel ist sie deutlich sichtbar und anzufassen, real und tödlich. Die Situation in Israel ist durch die Mischung aus dauerhaftem Kriegszustand im Außenverhältnis und dauerhafter Kulturanstrengung der friedlichen Ko-Existenz im Inneren gekennzeichnet. Daher trägt Israel das Modell für einen Weg zur friedlichen Ko-Existenz mit seinen Nachbarn in sich: äußere Sicherheit und innere Koexistenz.
Frieden ohne unerträgliche, gegenseitige Opfer
Das weitgehend gewaltlose und friedliche Zusammenleben völlig gegensätzlicher Gruppen und Interessen auf engstem Raum ist Vorbild und Beweis, dass eine Lösung möglich ist. Was es bräuchte: Verzicht auf die Rechtfertigung des Menschenopfer zur Erreichung politischer Ziele, konsequent gewaltloser Widerstand, demokratische Prozesse. Noch 1994 gaben über 80 Prozent der Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen an, Israel sei die stärkste Demokratie in der ganzen Welt, noch vor den USA. Erst die massive Propaganda der palästinensischen Eliten und der Kollaps der illusionären Gleichung der Friedensbewegung („land for peace“) haben dieses Bild nachhaltig verändert.
Damals wäre noch ein palästinensischer Martin Luther King möglich gewesen, der – ähnlich der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung – den Weg des gewaltlosen Widerstands bis zur Bildung eines friedlichen, palästinensischen Staates an der Seite Israels vorausgegangen wäre. Aber dieser Vorschlag (von Haviv Rettig Gur) widerspricht heute der Selbstlüge und Fremdlüge der meisten Akteure. Im Moment ist noch nicht einmal erkenntlich, wer einen palästinensischen Martin Luther King auch nur einen Tag vor einem Attentat schützen könnte. Martin Luther King und Yitzhak Rabin haben ihr Angebot, Frieden an Gewaltverzicht zu koppeln, nicht überlebt; aber Ehud Barak hat fünf Jahre nach Rabins Ermordung (Camp David 2000, Taba 2021) das Undenkbare getan und das Angebot maximal erweitert: fast die ganze Westbank, Siedlungen abbauen, Gaza und Ost-Jerusalem als Hauptstadt – und Arafat hat erneut das Undenkbare getan und abgelehnt.
Es war damals möglich: Frieden ohne unerträgliche, gegenseitige Opfer; ein paar Kompromisse und Zugeständnisse auf beiden Seiten, schmerzhaft wie jede Geburt; aber die Freude am Glück der Kinder hätte alles vergessen lassen. Wie so oft kristallisieren sich diese Fragen an der Bedeutung der Familie und Kinder. Im Judentum kann es keine Rechtfertigung dafür geben, die eigenen Kinder in Kriege zu schicken, die nicht der puren Selbstverteidigung des Stammes und Staates dienen. Religiöse, ideologische, sozial oder klimatisch motivierte Kreuzzüge sind niemals religiös begründbar. Dagegen steht die offenbar gezielte Zerstörung von Familien durch die Hamas. In einem kaum zu ertragenden Interview beschreibt Cochav Elkayam-Levy die Politik der gezielten Schändung und Ermordung von Frauen und Kindern, um ganze Familien auszulöschen.
Verdorrte Hoffnungen, erfrischendes Jerusalem
Nachdem Arafat abgelehnt hat, was Palästinenser Jahrzehnte ersehnt haben, sind alle Hoffnungen auf eine friedliche Lösung durch eine Zwei-Staaten-Lösung verdorrt. Die israelische Linke ist dadurch ebenso ausgetrocknet und marginalisiert. Das scheinen viele außerhalb Israels nicht mitbekommen zu haben. Im Gegenzug haben sich in diese lokale Dürre drei Strömungen der ebenso an geistiger und menschlicher Magersucht leidenden westlichen Wohlstandsgesellschaft gemischt und dem lokalen Konflikt den kitschigen Zuckerguss einer globalen Befreiungsbewegung verpasst. In Israel nimmt das niemand, der ernst genommen werden will, ernst. Das Erfrischende an Israel und dem Judentum ist die Gelassenheit der Absage an die drei Grundannahmen der Ideologie oder Religion unserer Tage: Selbstvergöttlichung, Theokratie, Katastrophenlust. Die jüdische Tradition ist eine ständige Auseinandersetzung mit diesen drei Sünden der Menschheit. Es ist auch ein unerschöpfliches Reservoir an Absagen und Widerstand gegen deren Versuchungen:
1. Eine Absage an die Selbstverherrlichung des Menschen und des Staates (= an die Religion der internationalen Institutionen und des Sozialismus).
2. Eine Absage an die freiwillige Selbstunterwerfung unter die Theokratie enttäuschter Imperialisten (= an den gegenwärtig dominierenden Islam und die WHO/WEF-Vision der Weltregierung).
3. Eine Absage an den permanenten Notstand der inszenierten Katastrophe als erlösende Apokalypse im Endkampf gegen Natur (Klima) und Krankheit (= an die christlich angehauchte Rechtfertigung des Menschenopfers als gesellschaftliche Solidarität der guten Menschen).
Diese dreifache Absage gilt auch den damit verbundenen politischen Mächten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts massiv Fahrt aufgenommen und sich – trotz ihrer Widersprüchlichkeit – immer wieder zusammengeschlossen haben. Ihr gemeinsames Ziel ist die Verhinderung einer Heimstätte für Juden und des Staates Israel. Alle drei Strömungen jammern noch heute über ihr verlorenes Imperium und geben sich anti-imperialistisch. Wer sich heute ganz sicher ist, es könne keine Koalition von sozialistischen Anti-Imperialisten mit muslimischen Imperialisten – also kein grün-sozialistisches Kalifat – geben, ist gut beraten sich mit der Geschichte der Region seit 1881 zu befassen.
Enttäuschung der imperialen Träume
Seitdem die ersten jüdischen Flüchtlinge nach den Pogromen in Russland 1881 im osmanischen Imperium (Kalifat mit Sitz in Istanbul) aufgenommen wurden, werden Juden als missliebige Störenfriede und Fremdkörper in der Region behandelt. Ob als mögliche russische Spione nach 1881 oder als nicht zu trauenden Verbündeten der imperialen Mächte Deutschland, Frankreich oder England (nach 1918); ob als atheistisch-sozialistische Bedrohung des muslimisch-arabischen Nationalismus (nach 1948) oder heute als Verbündete des westlichen Kapitalismus und der USA – die Juden Palästinas wurden von den imperial gesonnenen, muslimischen und arabischen Eliten gerne als Agenten des Imperialismus dargestellt. Der Hass auf Juden vereint auch jene, die jederzeit und anderenorts bereit sind, sich gegenseitig den Garaus (Jemen, Syrien, Irak, Pakistan) zu machen. Dass Juden aus Russland und Europa sowie aus den muslimischen und arabischen Ländern des Nahen Osten geflüchtet sind, weil ihnen die dortigen Imperien schlimmste Gewalt antaten, wurde und wird nicht gesehen. Damals wie heute dominiert ein von Enttäuschung über das verlorene Weltreich geprägter Blick. Besonders bitter war es für die arabischen und muslimischen Eliten, anzuerkennen, dass die eigene, imperiale Religion das größte Hindernis für den Erhalt der Großmacht war. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts war dem Kalifen und allen klar, dass das osmanische Reich chancenlos gegen die geistigen und technischen Entwicklungen des Westens war.
Die muslimische Welt hat es über Jahrhunderte verpasst, eine eigene Zivilisation aufzubauen und wurde daher Stück für Stück von den europäischen Imperien übernommen. Die Enttäuschung der imperialen Träume führt bis heute zum Vorwurf mangelnder inner-arabischer oder inner-muslimischer Solidarität. Der geistige Vater und Namensgeber der Brigaden und Raketen der Hamas, Izz ad-Din al-Qassam, ist die Verkörperung dieser verbitterten und gewalttätigen Tradition. Aus dieser Gefühlslage ist zu verstehen, warum die Hamas (= arabischer Widerstand) weder das Wort Palästina im Namen trägt noch besonders am Schicksal des palästinensischen Volkes interessiert ist. Jede Gewalttat gegen Juden wird mit der Begleitmusik der enttäuschten Bruderschaft untermalt: dem Aufruf an die muslimischen und arabischen Eliten, sich endlich dem Aufstand (Intifada) anzuschließen. Seit einige arabische Staaten die Zwangssolidarität mit Palästinenser-Organisationen (von Fatah über Hamas bis islamischer Jihad) aufgegeben und die „Abraham Accords“ unterzeichnet haben, wurde das Ende dieser Periode eingeläutet. Die Palästinenser-Organisationen haben sich auf Geiselnahme spezialisiert, aber ausgerechnet die eigenen arabischen Brüder wollen nicht länger Geiseln der politischen Inkompetenz oder selbstzerstörerischen Politik der PLO und Hamas sein; sie wollen sich ihre eigenen Ambitionen und Visionen für eine aufstrebende Region nicht länger von Teheran oder vom Terror der PLO zerstören lassen. Daher richten sich heute die Aufrufe der sunnitischen Hamas vor allem an die schiitischen Erzfeinde.
Wenn eine sunnitische Terrororganisation sich von einem schiitischen Staat finanzieren und führen lässt, ist das entweder eine brenzlig-instabile Bruderschaft unter Erzfeinden oder aber der verzweifelte Versuch, sich an die eigenen Henker zu verkaufen. Für jene Palästinenser, die ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand wollen, ist diese Allianz ein trauriger Beweis, auf welchen Abwegen sich ihr Traum von einem eigenen Staat heute befindet. Die einzige Hoffnung liegt derzeit im erklärten Willen vieler Bewohner der Region, eine bessere Zukunft auf der Basis der gemeinsamen Kindschaft zu gestalten: Wir sind alle Kinder von Abraham, Sarah und Hagar. Für die Realisierung dieser Hoffnung werden sich die regionalen Akteure auf die Erfahrungen der israelischen Gesellschaft stützen, trotz extremer Gegensätze ein gewaltfreies und freudiges Miteinander demokratisch gestalten zu können: mit National- und Gemeinschaftsgefühl, in Nachbarschaft und Freundschaft, mit riesigen Familien und vielen Kindern. Jerusalem ist der Ort, an dem die Kinder in Zukunft gemeinsam spielen werden, während ihre Eltern sich mit hitzigen Argumenten die Köpfe heiß reden. Alle wollen nach Jerusalem, ich auch.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei hannah-arendt.de.
Peter Levin hat im Paul-Tillich-Haus am Religionswissenschaftlichen Institut der FU Berlin studiert. Er lehrt und forscht in der ganzheitlichen Medizin und lebt mit seiner Familie in Hamburg.