Gastautor / 15.01.2022 / 14:00 / 22 / Seite ausdrucken

Alle Menschen werden Brüder? Offener Brief eines Chorsängers

Von Christian Lehmann.

Offener Brief an
Herrn Max Wagner, Geschäftsführer der Gasteig München GmbH
Herrn Andreas Schessl, Geschäftsführer von MünchenMusik
Herrn Tilman Dost, Intendant der Münchner Symphoniker

Starnberg, den 12. Januar 2022

Sehr geehrter Herr Wagner, sehr geehrter Herr Schessl, sehr geehrter Herr Dost,

Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie zu Silvester und Neujahr aufzuführen, ist Tradition. Feuerwerk und „Freude, schöner Götterfunken“ gehören zusammen, und in diesen Zeiten ist die Freude bereits groß, wenn Konzerte überhaupt stattfinden.

Ich weiß nicht, wie oft ich die „Ode an die Freude“ schon in Profichören, als Aushilfe in Laienchören oder auch in einem kleinen Vokalensemble zur Klavierfassung des Werkes mitgesungen habe – vielleicht 20-, 25-mal. In besonderer Erinnerung sind mir die Aufführungen mit Enoch zu Guttenberg und der KlangVerwaltung. Guttenberg war der Meinung, dass Beethoven ganz am Schluss des letzten Satzes mit dem Prestissimo und Fortissimo des Militärmusik-Instrumentariums und der zum höchsten Geschrei gesteigerten Chorstimmen nicht Jubel, sondern vielmehr ein Schlachtgetümmel abgebildet hat. Die Musik konterkariert Schillers idealistische Botschaft vom Bruderkuss aller Menschen und sagt: Schaut doch, was diese Revolution gebracht hat! – Diese Auffassung Guttenbergs, die ich plausibel finde, haben wir 2017 in meinem arte-Film „Wiegenlied und Schlachtgesang“ thematisiert.

Eine viel grellere, zynische und menschlich kaum erträgliche Dissonanz aber empfand ich während meiner jüngsten Neunten zur Jahreswende 2021/22 – jedoch nicht aus musikalischen Gründen.

Ich wurde als Chorsänger in einem kurzfristig zusammengestellten „Münchner Beethovenchor“ für zwei Konzerte mit den Münchner Symphonikern unter Leitung von Kevin John Edusei und unter „2G-plus“-Bedingungen angeheuert.
Für mich ist ein großes Konzert heute eine seltene Situation. Seit zwei Jahren singe ich fast nur Kirchenmusik. So betrat ich also seit langem wieder einen Konzertsaal – und zum ersten Mal die neue Isarphilharmonie. Man zeigt sein Smartphone vor, auf dem die biologische Zugangsvoraussetzung gespeichert ist. Neue Normalität. Nach der Anspielprobe dann die Ansage: Bis zum Beginn des vierten Satzes hat der Chor, stumm auf der Empore sitzend, Masken zu tragen. Diese werden nur abgenommen, um Schillers Verse aerosolgeladen in den Saal zu schmettern, und danach wieder aufgesetzt. Skurrile Regeln – aber das weiß man ja inzwischen. Rituale, nach deren Sinn man nicht fragt.

Choreinsatz, altbekannt. Wir sangen:

„Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder
Wo dein sanfter Flügel weilt.“

Bei diesen Versen versagte mir kurz die Stimme. „Alle Menschen werden Brüder“? Das singen wir heute in diesem Saal, aus dem ein Teil der Menschen ausgesperrt ist, „streng geteilt“? Wo ist der „Zauber“, sie wieder zu verbinden?
Mir kam das Statement der Opernsängerin Elisabeth Kulman in den Sinn, die vor einigen Monaten ihr Abschiedskonzert in Wien absagte und öffentlich erklärte:

„Die (...) 2G-Regel lädt einen Teil des Publikums aus. Musik ist für mich aber verbindend, allumfassend, nicht trennend. (...) In so einer Situation zu singen, ist für mich undenkbar, weil es mir den Hals zuschnürt."

Den Dirigenten Kevin John Edusei schien dieser Widerspruch nicht anzufechten. Vielleicht lag dieser Eindruck aber an der FFP2-Maske, die Edusei während seines ganzen Dirigats trug, sodass nicht erkennbar war, ob er zu den besagten Zeilen eine Miene verzog.

Wer in dieser Situation noch zu Kalauern aufgelegt war, mochte vielleicht die etwas später folgenden Zeilen Schillers leicht abgewandelt als Lösung des Paradoxons deuten:

„Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Schuss der ganzen Welt!“

Doch mir ist eigentlich nicht zum Scherzen zumute. Vielmehr möchte ich Sie, Herr Wagner, Herr Schessl und Herr Dost, fragen: Bereitet es auch Ihnen Bauchschmerzen, dass Kulturstätten zum Schauplatz der Diskriminierung geworden sind? Ist für Sie die Botschaft der „Ode an die Freude“ mit dem Ausschluss eines Teils des Publikums und der Musiker vereinbar?

Mir ist völlig klar, dass Sie alle nur das ausführen, was von der Bayerischen Staatsregierung vorgegeben wird. Das könnte man aber auch unter Protest tun. Gerade jetzt, da sich immer deutlicher herausstellt, dass die Impfungen eine Virusübertragung nicht verhindern, muss wieder eine rege und mutige Diskussion darüber in Gang kommen, wie sinnvoll und verhältnismäßig die herrschenden Bestimmungen sind. Wir Kulturschaffenden dürfen „alles auf den Tisch“ bringen und dürfen dabei die ethischen Ideale unseres demokratischen Kunst- und Kulturverständnisses niemals aus dem Blick verlieren. Kunst soll die Menschen verbinden, nicht trennen.

Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Ihre Antworten auf diesen Offenen Brief ebenfalls veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Dr. Christian Lehmann

 

Christian Lehmann ist Musikwissenschaftler, Buch- und Fernsehautor und tritt auch als Sänger auf.

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Leserpost

netiquette:

Dr. med. Jesko Matthes / 15.01.2022

Das unlösbare, grundlegende Problem ist Schillers Text. “Freude” ist wertfrei und schließt alle mögliche Freuden ein, sogar die Schadenfreude; “Freude” kann geschwisterliche Gefühle über ideologische Grenzen hinaus weder begründen noch transportieren. Ich habe Konzerte mit diesem Programm nie besucht.

Hans-Peter Dollhopf / 15.01.2022

Keine schlimmere Entmenschlichung kann es für Beethoven und Schiller geben, wie durch Missbrauch der Ode bis zum schmierigen Verwinseln der EU als nützliche Idioten der Propaganda Brüssels vergewaltigt zu werden.

lutzgerke / 15.01.2022

Ich trage die Staubschutzmaske seit kurzem als Hut. Als Trendsetter muß man schon mal was wagen. / Die Empörung vom Herrn Lehmann kann ich gut verstehen; auch sein Musikgeschmack gefällt mir. Aber ich glaube, daß die Leute, welche er anspricht, völlig unmusikalisch sind. Wer die Scheußlichkeiten im Konsumtempel nicht verbietet, der ist innerlich betört. Jammermusik und Tränendrüsengejaule werden von krakeliger Aktivreklame,  Gesundheitsfürsorge und Sparvorschlägen unterbrochen. Der Einkauf wird jedesmal zur Torture, da ist der Spießrutenlauf entspannender. Die meisten Kammerorchester spielen die Humoreske, D-Dur, von Dvorak genauso wie den Marsch, F-Dur, von Bach moderato con moto. Das sind keine Schmalzkuchen, das sind fröhliche Lieder! Und: allegro! Hopp, hopp, hopp! Das Grundgefühl von Bach und Dvorak beim Komponieren war heiter: Mir ist so komisch zumute, Ich ahne und vermute, Es liegt was in der Luft. Könnten Sie das bitte ausrichten?

Hans-Ullrich Hendriks / 15.01.2022

Da bin ich aber froh, dass es nur um die Masken-Be -und Empfindlichkeiten des Autors ging. Ich hatte schon befürchtet, dass die Textzeile „… Alle Menschen werden Brüder“ auf dem Prüfstand steht, also eine Umdichtung in „BrüderInnen“ oder „Brüder und Schwestern“ befürchtet. Dann müsste natürlich auch Beethovens Meisterwerk umkomponiert werden. Das sind heute ja die leichtesten Übungen der Mainstream-Protagonisten. Zu diesem Thema: Den Katholiken wird jetzt immer öfter in den Gottesdiensten mitgeteilt, dass Gott uns Vater und Mutter ist. Demnächst wird wohl „Vater und Mutter unser …“  gebetet und es wird von der Vierfaltigkeit „Vater, Mutter,  Sohn und Heiliger Geist“ die Rede sein.

B. Kurz / 15.01.2022

@August Klose.  Ja, ich “liebe” auch diese Empörung über solche Zustände, bei denen man aber diensteifrig mitmacht. Meine Fresse, was glaubt ihr, was sich damit ändert?  @Sabine Heinrich:  Meine Antwort zu diesem Thema, die ich schon im August 2021 vom weltbekannten Leipziger Gewandhaus erhielt, lautete sinngemäß, dass sich alle Eigenbetriebe der Stadt darauf geeinigt haben, damit man überhaupt wieder Kultur anbieten kann. Kein Wort zur Diskriminierung.

Klaus Keller / 15.01.2022

Für solche Schweine spiele ich nicht! Soll Herr v. Beethoven einmal gesagt haben weil die Leute weiterschwatzten… Das wäre heute auch eine Möglichkeit. PS Die Ode an die Freude ist vermutlich eine Hoffnung für die Zukunft und keine Beschreibung der Gegenwart. War sie vermutlich auch nie.

Frances Johnson / 15.01.2022

“was die Mode streng geteilt” ist wirklich zur Zeit passend.

Jens Knorr / 15.01.2022

“Hier [ in Apolda ] will das Drama gar nicht fort , es ist verflucht , der König von Tauris soll reden , als wenn kein Strumpfwirker in Apolda hungerte .” (Goethe)

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