Ein Nachtrag von Vera Lengsfeld und Peter Grimm
Nach der Bundestagswahl könnte der älteste Abgeordnete von der AfD kommen und als Alterspräsident das Parlament eröffnen? Diese Gefahr musste extra mit einer Neuregelung abgewendet werden, nach der nun der dienstälteste Abgeordnete die erste Bundestagssitzung beginnt. Souverän ist das nicht.
Ebensowenig wie die existenzielle Bedrohung von Gastwirten, die Räume an die AfD für Veranstaltungen vermieten. Die öffentliche Brandmarkung des Lokals, der oft Gewalttaten folgen, lässt die Gäste wegbleiben. Wer gar zulässt, dass die Partei in seinen Räumen einen Parteitag abhalten darf – immerhin ein grundlegendes Erfordernis in der deutschen Parteiendemokratie – sieht sich plötzlich Protesten und ebenfalls Drohungen ausgesetzt, wie vor einer Weile das Hotel Maritim in Köln.
Bei jeder anderen Partei hätte es einen Aufschrei gegeben, wenn ein Oberbürgermeister einen Mietvertrag über einen städtischen Saal gekündigt hätte, weil sich die Partei von ihm nicht vorschreiben ließ, wen sie reden lässt und wen nicht. Doch gegenüber der AfD gilt das als mutig, auch wenn Gerichte hernach feststellen, dass solches Handeln rechtswidrig ist.
Der Grund, warum die Nürnberger Stadtväter untersagen wollten, dass Spitzenkandidat Alexander Gauland in der städtischen Meistersingerhalle vor 1500 Anhängern auftritt, war dessen Bemerkung, er wolle Integrationsministerin Aydan Özoğuz nach Anatolien „entsorgen“. Man muss Gauland nicht mögen und kann, wie ich, seine Bemerkung absolut dumm finden. Nur die nachhaltige Empörung ist äußerst selektiv. Der SPD-Oberbürgermeister von Nürnberg würde unter seinen Spitzengenossen so einige finden, die schon mal politische Gegner entsorgt sehen wollten, allen voran Sigmar Gabriel, der sogar davon sprach, die Regierung Merkel „rückstandsfrei zu entsorgen“. Ihnen hätte folglich in Nürnberg auch Redeverbot erteilt werden müssen.
Das geschah natürlich nicht, denn kalkulierte Provokationen gehören zum medial-politischen Handwerk. Dass sich die AfD beim gezielten Provozieren nicht gerade besonders geschickt anstellt, ist sicher richtig, doch das rechtfertigt die dann reflexhaft einsetzenden hysterischen Reaktionen nicht.
Alice Weidel passte nicht ins gut sortierte Weltbild
AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel machte da eine viel bessere Figur. Sympathisch, ohne Krawall, aber dennoch durchaus schlagfertig, immer sicherer auftretend und gern auch mit Fakten argumentierend, konnte sie im ansonsten lahmen, von auswechselbaren Textbausteinen geprägten Wahlkampfspiel beim Zuschauer punkten. Ein attraktives Gesicht der Partei, keine Verstrickung in die Machtkämpfe des Vorsitzenden-Duos Frauke Petry und Jörg Meuthen zeigend, sieht sie nicht nach einer Partei abgehängter alter weißer Männer mit Fünfziger-Jahre-Träumen aus, als die die AfD von vielen Meinungsbildnern gern gesehen und dargestellt wird.
Seit Alice Weidel Spitzenkandidatin der AfD ist, haben Redaktionen, die sich auf dieses Bild festlegten, ein Problem. Die Frau ist nicht nur klug und sieht gut aus – sie hat sich vor allem bislang keinen Lapsus geleistet. Niemanden wollte sie entsorgen oder nicht zum Nachbarn haben. Was ihren Lebensstil betrifft, passt sie eher ins rot-rot-grüne Schema als ins Feindbild AfD, zudem beschreibt sie sich selbst als urliberal. Sicher wird manch einer, dem Alice Weidel nicht ins gut sortierte Weltbild passte, gehofft haben, dass sie doch noch als richtige Rechte entlarvt würde, denn bekanntlich sind Umbauten am eigenen Weltbild zuweilen eine schmerzliche Angelegenheit.
Doch nun ist endlich der rechte Fleck auf der weißen Weste der Frau Weidel gefunden. Das lesen, hören und sehen die Deutschen seit Sonntag auf allen Kanälen. Ein Artikel der Welt am Sonntag vom 10. September ist nahezu überall zitiert und oft auch ausführlich kommentiert worden. Dabei ist die bekannte Faktenlage eher dürftig. Es geht um eine viereinhalb Jahre alte E-Mail, in der Alice Weidel unschöne Sachen geschrieben haben soll. Die Zitate aus der E-Mail klingen wie aus einem Lehrbuch über das Erkennen von Rechtsextremisten:
„Der Grund, warum wir von kulturfremden Voelkern wie Arabern, Sinti und Roma etc ueberschwemmt werden, ist die systematische Zerstoerung der buergerlichen Gesellschaft als moegliches Gegengewicht von Verfassungsfeinden, von denen wir regiert werden.“
„Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK und haben die Aufgabe, das dt Volk klein zu halten indem molekulare Buergerkriege in den Ballungszentren durch Ueberfremdung induziert werden sollen.“
„Dass D gar nicht souveraen ist, duerfte doch fuer den ekelhaften Fatalismus in der Tagespolitik z.B unsere Enteignung durch die Eurorettung, korrumpierte Judikative (Bundesverfassungsgericht) erhellend sein...“
Weidel bestreitet, diese E-Mail geschrieben zu haben. Die Autoren des Artikels der Welt am Sonntag behaupten dies auch nicht, sondern berichten nur, diese Mail von ihrem damaligen Empfänger bekommen zu haben, der versichert, dass sie von ihr stammt. Sie haben noch andere Indizien zusammengetragen, die dem Leser zeigen sollen, dass das liberale Gesicht der AfD vielleicht gar nicht so liberal ist. Und in einem extra Artikel unter dem Titel: „Weidel will die Veröffentlichung von rassistischer E-Mail stoppen“ schreiben sie:
Weidel versuchte die Berichterstattung zu verhindern, bestreitet, dass der Text von ihr stammt, und schaltete Anwälte ein. Sie teilten mit, dass es falsch und rechtswidrig sei, „öffentlich zu behaupten, unsere Mandantin habe diesen Text geschrieben, oder auch nur diesen Verdacht zu äußern“. Doch der Redaktion liegen eine eidesstattliche Versicherung und weitere Aussagen vor, aus denen das Gegenteil hervorgeht.
Sie stammen aus dem ehemaligen Bekanntenkreis von Alice Weidel in Frankfurt am Main. Zu ihnen gehören Banker, Kaufleute und Unternehmensberater. Der Empfänger der Mail führte auf Anfrage der WELT AM SONNTAG mehrere Gründe an, weshalb ausschließlich die heutige AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel die Verfasserin sein könne. In der Betreffzeile der Mail beziehe sie sich auf ein Gespräch mit ihm, und sie habe diese wie üblich mit ihrem Spitznamen „Lille“ gezeichnet. Das an ihn gerichtete Schreiben befinde sich bis heute in seinem E-Mail-Fach.
Die E-Mail stammt von 2013, ist also vier Jahre alt. Damals war in keiner Weise abzusehen, dass aus Weidel die Spitzenkandidatin der AfD werden könnte. Hatte der Mann seherische Fähigkeiten oder aus welchem Grund hebt er eine E-Mail vier Jahre lang auf, um sie dann kurz vor der Bundestagswahl einem Rechercheteam der Welt zur Verfügung zu stellen? Warum bleibt er anonym?
Merkwürdig auch, dass die E-Mail statt Umlauten Umschreibungen enthält. Haben die Rechercheure nachgefragt, ob Frau Weidel gewöhnlich so schreibt?
Wann ist eine E-Mail eigentlich noch privat?
Eigentlich bleiben mehr Fragen als Antworten bei der Lektüre der Welt-Artikel. Aber sind diese wirklich das Problem? Die Autoren dieser Texte machen ja nachvollziehbar deutlich, dass alles auf Informationen des einen E-Mail-Empfängers beruht. Die erfahrenen Journalisten halten die Beweislage offenbar für nicht tragfähig genug, um selbst zu behaupten, diese E-Mail stamme eindeutig von Alice Weidel. Sie berichten lediglich über eine mit eidesstattlicher Erklärung gestützte Behauptung. Lässt sich die Echtheit einer normalen E-Mail überhaupt eindeutig beweisen?
Das eigentlich Beunruhigende ist, dass auf dieser dünnen Grundlage nahezu alle Medien die Nachricht übernommen und etliche sogar noch verstärkt haben, obwohl ja die Welt-Autoren aus den Beweis-Schwächen kein Geheimnis machen. Doch die Empörungswelle rollte, ohne dass die Grundlage hinterfragt wurde.
Mag man die Glaubwürdigkeit des einzigen Menschen, der derzeit die Echtheit der E-Mail bezeugt, noch verschieden interpretieren können, so ist es doch atemberaubend, dass es niemanden der Empörten gestört hat, dass hier der Inhalt einer privaten, persönlichen Korrespondenz als öffentlicher Skandal behandelt wird. Es ist ein Eindringen in die geschützte Privatsphäre, in der sich wahrscheinlich auch die korrektesten Sprachwächter gelegentlich in schlimmem Ton auskotzen, ohne dass die Sätze, die dabei fallen, wirklich weltbildprägende Bedeutung hätten. Wissen Sie noch, was sie alles im Februar 2013 so geschrieben oder daheim am Küchentisch in der Wut geäußert haben? Würden Sie sich darauf festlegen lassen? Genau das geschieht hier gerade.
Den Welt-Autoren ist dieses Problem offenbar bewusst gewesen, weshalb sie die Privatheit dieser persönlichen Korrespondenz zu relativieren versuchen:
„Die Mail enthält nichts Persönliches, sie ist rein politischer Natur, ein bekenntnishafter Beitrag. Ein wütendes Pamphlet, das eine politische DNA offenbart. Wer sie entschlüsselt, begreift, was den Absender umtreibt.“
Auch wenn sie nur Politisches enthalten mag, so ist diese Mail dennoch zunächst persönlich und privat und wurde nicht für die Öffentlichkeit geschrieben.
Eidesstattliche Versicherungen für alte Entgleisungen
Aber ungeschützte Äußerungen aus der Vergangenheit zum Gegenstand der öffentlichen Debatte zu machen, ist leider nicht neu. Blicken wir zurück in den Sommer des Jahres 2001. Damals wurde in Berlin gewählt und der CDU-Spitzenkandidat Frank Steffel sah sich einem ungeheuerlichen Vorwurf ausgesetzt:
Der CDU-Spitzenkandidat Frank Steffel soll als Schüler ausländer- und behindertenfeindliche Sprüche geklopft haben. Er wollte sich gestern aber nicht zu diesen "Jugendsünden" äußern. Die Hamburger Zeitschrift "Max" zitiert in ihrer jüngsten Ausgabe ehemalige Mitschüler. "Schwarze hat er grundsätzlich als Bimbos bezeichnet, Türken als Kanaken, Behinderte waren Mongos". Eine Lehrerin sei "Kommunistenschlampe" genannt worden, weil sie einen Lada fuhr, und auf dem Fußballplatz habe er gebrüllt: "Haut sie um, die Türken". Ein Sportskamerad, so "Max", habe sich daran erinnert.
Über diese Äußerungen liegt der Illustrierten eine eidesstattliche Versicherung vor. Steffel hingegen sprach von "frei erfundenen Teenagergeschichten". Dies sei Teil eines Wahlkampfkonzepts interessierter politischer Kreise. Nun falle dem politischen Gegner offensichtlich nichts anderes mehr ein.
Die AfD ist anders als die anderen Parteien. Nicht nur, weil sie sich als einzige politische Kraft mit Aussicht auf Bundestagssitze klar gegen unbegrenzte Zuwanderung, doppelte Staatsbürgerschaft oder Privilegien für Islamverbände ausspricht. Auch nicht nur wegen manch irrlichternder Person im Führungspersonal, wiewohl gerade diese eine große Medienaufmerksamkeit genießen dürfen. Vor allem, weil es allen Nicht-AfD-Politikern, wie auch vielen Redakteuren namhafter Medienhäuser unmöglich zu sein scheint, die noch vergleichsweise junge und unfertige Partei wie einen normalen politischen Mitbewerber zu behandeln. Die AfD ist schließlich – je nach Textbaustein – rechts, rechtspopulistisch oder zuweilen auch rechtsextrem. Da bekommt jeder Akteur im medialen Raum schnell einen Ausnahmezustands-Reflex, wenn es um die AfD geht. Im einsetzenden Hysterie-Wettbewerb gerät schon mal in Vergessenheit, dass auch für die „Alternative“ die gleichen Regeln gelten sollten, wie für andere auch. Doch sind ihnen zum guten Zwecke fast alle Mittel heilig, dafür wirft man selbst bewährte Regeln über Bord.