Von Jonathan Spyer.
Wie der Führer der in Syrien siegreichen Islamisten das Land beherrschen will, sagen nicht seine Worte. Er hat es in der Zeit zwischen 2017 und 2024 in der Provinz Idlib schon gezeigt.
Ende Februar 2012 war ich in der syrischen Provinz Idlib unterwegs. Ich blieb einige Tage in einer Stadt namens Binnish, nicht weit von der Hauptstadt der Provinz entfernt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Stadt unter der vorläufigen Kontrolle des neu entstandenen Aufstands gegen das Regime von Bashar Assad.
Der junge Gastgeber des Hauses, in dem ich wohnte – ich werde ihn „D“ nennen –, hatte Verbindungen zu den noch im Entstehen begriffenen Strukturen dessen, was damals allgemein als „Freie Syrische Armee“ (FSA) bekannt war. Über einen Cousin von ihm hatte er aber auch Verbindungen zu einer anderen Gruppe von Kämpfern, die sich gerade in der Stadt organisierte. Diese Männer waren etwas älter als die FSA-Mitglieder und in ihrem Auftreten und ihrer Ausrichtung deutlicher sunnitisch-islamistisch. D. sagte mir damals: „Diese Sache [der Bürgerkrieg] hat in Idlib begonnen, und er wird auch in Idlib enden“. Das schien mir damals eine äußerst wichtigtuerische Aussage zu sein. Assads Armee kontrollierte noch immer den größten Teil der Provinz. Die Aufständischen hatten der Militärmaschinerie des Diktators nur ein paar Schusswaffen entgegenzusetzen.
Wie sich jedoch herausstellte, hatte D. recht. Nicht nur mit seiner allgemeinen Einschätzung, dass der Aufstand siegreich sein würde. Sondern auch mit seiner klaren Vorhersage, dass die islamistischen Kreise, die sich damals in Binnish organisierten und eine erste Form der späteren Hayat Tahrir al Sham (HTS) repräsentierten, den Sieg davontragen würden. Denn entgegen allen Vorhersagen brach der syrische sunnitisch-islamistische Aufstand Ende November in der von der Welt längst vergessenen Provinz Idlib aus, um seinen endgültigen Siegeszug durch die syrischen Städte nach Damaskus anzutreten.
Was sagt uns die bisherige Führungsbilanz der HTS?
Infolge dieses kühnen Schachzugs ist HTS-Führer Ahmed Sharaa / Abu Mohammed al-Jolani nun der eigentliche Herrscher in der syrischen Hauptstadt. Westliche Medien und Regierungen wägen jede seiner Äußerungen ab, um zu verstehen, wie die Zukunft Syriens aussehen könnte. Hat er sich gemäßigt? Ist er immer noch ein Dschihadist? Gibt es Hoffnungen auf eine repräsentativere Regierung in Syrien?
Aber es gibt einen besseren Weg als die Analyse jedes einzelnen Satzes von al-Jolani, um zu verstehen, was jetzt vor uns liegen könnte. In der Zeit zwischen 2017 und 2024 waren al-Jolani und seine Bewegung de facto die Herrscher der Provinz Idlib. Eine genaue Beobachtung der Art und Weise, wie sie dort regierten, wird daher wahrscheinlich mehr Hinweise auf die Richtung der aktuellen Ereignisse liefern als die Analyse der Aussagen des PR-erfahrenen al-Jolani in der letzten Woche.
Was sagt uns die bisherige Führungsbilanz der HTS? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, ist es vielleicht wichtig, den Mann zu würdigen, der die Regierungsführung der HTS in Idlib überhaupt erst möglich gemacht und der damit eine strategische Meisterleistung vollbracht hat. Das Verdienst dafür gebührt nicht al-Jolani, sondern dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Eine genaue Untersuchung der Vorgänge
Erdoğans hartnäckige Weigerung, dem scheinbar besiegten Aufstand jemals den Nährboden zu entziehen, und seine Entschlossenheit, ihm eine winzige Ecke im Nordwesten Syriens zu erhalten, war die notwendige Voraussetzung für alles, was nun folgte. Die westlichen Regierungen betrachteten die Entscheidung des türkischen Führers als eine bizarre Weigerung, eine offensichtliche Realität zu akzeptieren. Russland und das Assad-Regime nutzten sie indes gerne aus. Aufständische in anderen Teilen des Landes, die eine „Versöhnung“ mit dem Regime ablehnten, wurden mit Bussen in die kleine türkische Enklave im Nordwesten gebracht. Sie wurde zu einem bequemen Abladeplatz für die Unversöhnlichen. Moskau und Assad gingen davon aus, dass diese Männer in der Dunkelheit und in der Bedeutungslosigkeit weiterleben würden. Stattdessen brach die HTS Ende November aus dieser Enklave aus.
Was lässt sich also aus dem siebenjährigen Experiment der HTS mit der Regierungsführung in Idlib lernen? Der israelische Forscher Alex Grinberg hat in einer Arbeit, die demnächst von einer Jerusalemer Denkfabrik veröffentlicht werden soll, eine genaue Untersuchung der Vorgänge vorgenommen. Was hat er herausgefunden?
Erstens ist es wichtig zu erwähnen, was nicht passiert ist. Die HTS in Idlib hat sich nicht an den verrückten Exzessen der rivalisierenden Dschihadisten der Organisation Islamischer Staat (IS) beteiligt. Es gab keine Versklavung von nicht-muslimischen Frauen (Das stimmt nicht ganz. Es wurden einige Sklaven des IS gefunden, die von Familien gehalten wurden, die nach dem Fall des Islamischen Staates nach Idlib gekommen waren. Aber die Institution der Sklaverei wurde von der HTS nicht offiziell gebilligt). Es gab keinen Kannibalismus, keine Versuche, vermeintliche Teufelsanbeter in Massen abzuschlachten. Nichts von dem blutrünstigen Wahnsinn, den man mit dem Namen IS verbindet.
Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und Folterungen
Andererseits wurde ein repressiver, autoritärer Staat errichtet, der nach der islamischen Scharia regiert wird. Frauen mussten den Hidschab tragen, Musik und Alkohol waren verboten. Gegen die Erlasse der HTS war kein Widerstand erlaubt. Nichtmuslime und Frauen durften in den eingerichteten repräsentativen Einrichtungen nicht anwesend sein. Al-Jolani, der Anführer der Organisation, war sozusagen der de-facto-Diktator der Provinz. In seinen Gefängnissen waren Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und Folterungen an der Tagesordnung.
Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass das von al-Jolanis „Syrischer Heilsregierung“ in Idlib entwickelte System nun im ganzen Land oder zumindest in den von ihm kontrollierten Teilen des Landes (30 Prozent Syriens sind nach wie vor in der Hand der syrischen kurdischen Streitkräfte) errichtet werden soll. In dieser Woche ernannte er sogar seinen „Premierminister“ von damals, Mohammed al-Bashir, zum provisorischen Premierminister in Damaskus.
Die oberste religiöse Autorität der HTS in Idlib ist Abd al-Rahim Atoun, dessen Vorstellungen der Verwaltung der Organisation zugrunde liegen. Atouns Einstellung zur Staatsführung lässt sich daran ablesen, dass er im September 2021 in Idlib einen Vortrag mit dem Titel „Dschihad und Widerstand in der islamischen Welt: die Taliban als Modell“ hielt.
Die höchste religiöse Autorität der HTS
An anderer Stelle sagte Atoun in Bezug auf die Anschläge vom 7. Oktober letzten Jahres, dass „das, was die Mudschaheddin im Namen Allahs, des Allmächtigen, in der Schlacht der Flut von Al-Aqsa (Battle of al-Aqsa Flood ist die Bezeichnung der Hamas für den 7. Oktober 2023) tun, die größte Tat des Islam in dieser Ära ist, und es ist ein gesegneter Dschihad, um Aggressionen abzuwehren und die Religion zu verteidigen“. Atoun vergleicht den Marsch der HTS von Idlib nach Damaskus mit den Anschlägen vom 7. Oktober und bittet „den Allmächtigen, die Juden zu entehren, sie zu unterdrücken und sie und diejenigen zu verfluchen, die sie gegen die Mudschaheddin unterstützen und ihnen beistehen“.
Atoun ist die höchste religiöse Autorität der HTS und kann daher als al-Jolanis Ratgeber in diesen Fragen angesehen werden. Diese Organisation und diese Einstellung ist es, die D. als die Kraft bezeichnete, die den syrischen Bürgerkrieg in Idlib sowohl beginnen als auch beenden würde – was auch tatsächlich geschah. Dies ist die Kraft, die dank Erdoğans beeindruckender strategischer Weitsicht über sieben Jahre in der Provinz brütete.
Wie bereits mehrfach berichtet wurde, hat sich die israelische Regierung in den letzten Tagen dafür eingesetzt, dass das entstehende islamistische Regime in Damaskus nur über rudimentäre militärische Kapazitäten verfügt. Einige haben die Beweggründe für dieses Vorgehen infrage gestellt. In diesem Zusammenhang kann man davon ausgehen, dass die israelische Regierung weiß, was der zivile Forscher (und ehemalige Offizier des militärischen Nachrichtendienstes der IDF) Alex Grinberg weiß. Was HTS in Idlib begonnen und beendet hat, befindet sich nun in Damaskus. Israels Entscheidung, sie so weit wie möglich zu entwaffnen, wird wahrscheinlich noch als vorausschauend angesehen werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Middle East Forum.
Jonathan Spyer ist Leiter der Forschungsabteilung bei Middle East Forum und Autor von Days of the Fall: A Reporter´s Journey in the Syria and Iraq Wars.