Von Anfang an wussten beim „Fall Weinstein“ alle, dass der gewöhnliche Kapitalismus in Kombination mit dem Ausnahmeort Hollywood – vom Ausdruck „Traumfabrik“ adäquat wiedergegeben – eine spezifische Form der Prostitution, und damit ziemlich privilegierte „Opfer“, hervorbringt. Und von Anfang an sollte – wie im schwedischen Prostitutionsgesetz – allein der Freier für den von vornherein (oder rückwirkend via Bestechung hergestellten) „einvernehmlichen Sex“ bluten.
So schrieb die FAZ bereits zu Beginn des Skandals:
Argento (Asia, die Tochter des Regisseurs Dario Argento, T. M.) spricht auch von der Angst, die sie dazu trieb, einen der mächtigsten Männer der Filmbranche gewähren zu lassen. „Ich hatte das Gefühl, ich muss das tun, denn mein Film kam gerade heraus, und ich wollte ihn nicht verärgern.“ Ähnliches berichten Schauspielerinnen nun über viele Übergriffe, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Gemeinsam ist den Frauen, dass sie alle jung waren und neu in der Branche. Es war bekannt, dass Weinsteins Filme Oscars gewannen. Eine Rolle in seinen Produktionen konnte Jungschauspielerinnen zu Stars machen – und er konnte Besetzungen auch leicht verhindern. Weinstein nutzte diese Macht schamlos aus, davon zeugt die Lawine an Anschuldigungen, die jetzt über ihm niedergeht. (faz.net, 11.10.2017)
Dem deutschen Sexualstrafrecht nach beginnt justitiable Nötigung/Erpressung nicht erst mit der Anwendung oder Androhung von physischer Gewalt, sondern mit der Androhung eines „empfindlichen Übels“. Dem Ruch eines mindestens sexuellen Nötigers konnte Weinstein also gar nicht entkommen in einer Welt, die es als „empfindliches Übel“ auslegt, kein reicher und berühmter Weltstar werden zu können, worauf im vollendeten Narzissmus anscheinend jeder ohne Gegenleistung oder zufälliges Glück einen Anspruch hat.
In die Prostitution locken
Den Bezichtigungen und ihren Kolportagen zufolge besteht das eigentliche Verbrechen Weinsteins also darin, das personenunabhängig angeblich Nötigende, in Wirklichkeit: in die Prostitution Lockende „seines Amtes“ – seiner Machtposition – im Unterschied zu anderen unverhohlen ausgesprochen bzw. gestisch – Bademantel, Alkohol – unterstrichen (eben „schamlos ausgenutzt“) zu haben.
Bei all dem ist das Verhältnis von sexueller Selbstbestimmung und bürgerlicher Subjektform zur Prostitution doppelbödig, bzw. macht sich eine verquere Dialektik in ihm geltend. Der Logik des das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau beschränkenden schwedischen Prostitutionstabus folgend, geben die Hollywood-Schauspielerinnen ihren Subjekt-Status zugunsten einer Selbstviktimisierung preis.
Statt die Folgen eigener Entscheidungen und Handlungen noch irgendwie zu verantworten, vereinigen sich zum Schwestern-Kollektiv der Weinstein-Opfer jene, die für die Karriere entweder mit Weinstein Sex hatten oder lediglich penetrante Nachstellungen über größere Zeiträume ertrugen, die, welche für ihr Stillschweigen über sexuelle Belästigungen in Form von arbeitsrechtlichen Vergleichen oder inoffiziellen Bestechungen Geld erhielten, und solche, die jede Beziehung mit Weinstein nach der ersten „schlimmen Erfahrung“ abbrachen. Um anlässlich des Weinstein-Skandals so etwas wie die Entstehung einer neuen Frauenbewegung zu simulieren, wurde via „MeToo“ dann noch alles eingebunden, was von den tatsächlichen Opfern einer Vergewaltigung bis zu den Adressatinnen von Herrenwitzen schon einmal irgendwie unangenehme Erfahrungen mit Männern machen musste.
Dabei bauten nicht nur der allgemeine Hang zur öffentlichen Selbstentblößung und die Funktionsweise sozialer Medien die neue Gemeinschaft störende Distanzen und potenziell Trennendes ab, wie es mit Prominenz und Klassenzugehörigkeit der Anführerinnen gegeben gewesen wäre. Man setzte der Melange aus Kitsch und Verlogenheit im obligatorischen Charity noch eins drauf und gründete – statt Kinder armer Weltregionen zu adoptieren – unter dem Namen „Time’s Up“ eine Initiative samt Spendenfonds, um „künftig auch weniger privilegierten Frauen wie Arbeiterinnen, Kellnerinnen und Zimmermädchen Schutz vor und Rechtshilfe nach sexuellen Angriffen zu bieten.“ (faz.net, 1.1.2018).
Unschuldslämmer in Schwarz
Als die Weltstars dann anlässlich der 75. Verleihung des Golden Globe wieder zusammenkamen und „über den roten Teppich vor dem Beverly Hilton Hotel in Los Angeles flanierten“, ging das nicht mehr, ohne zahlreiche Zeichen zu setzen:
Die meisten verzichteten auf bunte Roben und trugen stattdessen Schwarz, als Protest gegen sexuellen Missbrauch und die Benachteiligung von Frauen in Zeiten der #MeToo-Bewegung. Emma Watson und Laura Dern zählten zu einer Reihe weiblicher Stars, die von acht Frauen-Aktivistinnen zu der Gala begleitet wurden. […] Als Zeichen der Solidarität für mehr Geschlechtergleichheit trugen viele Stars einen Anstecker der Initiative Time’s Up (Die Zeit ist vorbei). (Zeit.de , 8.1.2018)
Man möchte meinen, für die aus einem mit religiöser Hysterie betriebenen Exorzismus von Prostitution gereinigt hervorgegangenen Unschulds- und Opferlämmer wäre weiße Kleidung die passendere gewesen. Andererseits kam in der Ikonographie des Auftritts – Trauerkleidung und Anstecker – angemessen zum Ausdruck, dass die weiblichen Opfer von „Missbrauch“ und „Benachteiligung“ in den Augen ihrer Patronage mindestens den Status von Aids-Toten genießen, obwohl sie bisher weder krank noch gestorben sind.
Der Perhorreszierung von Prostitution zum Trotz – und dass das kein Widerspruch ist, zeigt wiederum die schwedische Gesetzgebung – machen sich, durch die Weinstein-Affäre und „MeToo“ verstärkt, zunehmend Momente moderner Prostitution gerade dort geltend, wo sie am wenigsten zu suchen hätten.
Indem die jüngste Sexualstrafrechtsreform in Schweden als Reaktion auf „MeToo“ das wechselseitige Einvernehmen als Voraussetzung legaler Sexualität an ein aktives Ja – statt wie zuvor an ein ausbleibendes Nein – bindet, wird nämlich nahegelegt, dass die nur noch als schutzbedürftiges pozentielles Opfer männlich-aggressiver Benutzung gedachte Frau ihre Freiheit und Selbstbestimmung allein in einer vertraglichen Reglementierung des Sexualaktes verwirklichen kann, die diesen, abgesehen von der Bezahlung, strukturell der Prostitution gleichsetzt, wie sie im Modell „autonomer Sexarbeit“ konzipiert ist: Prostituierte setzen dem Freier klare Grenzen, es wird vorab konsensual abgestimmt, wer was tun und unterlassen muss, erste Informationen zum Aussehen der Hure, zu Preis und Bestimmung des Standardprogramms sowie zu Aufpreisen für Extras sind dem Internet zu entnehmen bzw. lassen sich via Tinder et al über den potenziellen Partner in Erfahrung bringen.
Nach Vollzug der vereinbarten Handlungen ist das Ganze vorbei, es darf keine darüber hinausgehenden Gefühle geben, weil die nur abhängig und unfrei machen.
Kurz, wenn man von der Prostitution alles abzieht, was ihr Verruchtheit und den Reiz des Halbseidenen verleiht, inklusive der Tatsache, dass für sie bezahlt wird, sie also an sich selbst als Warentausch erscheint, dann hat man das, was Genderfeministen von Schweden bis Hollywood allenfalls noch als legitime sexuelle Handlung gelten lassen wollen.
Fahndungsaufrufe in sozialen Medien
Ausgerechnet da also, wo beide Geschlechter – Frauen wie Männer – die Erfahrung glücklicher Ohnmacht in der Hingabe machen könnten, welche die Subjektform, ein souveränes Selbst, vorübergehend suspendiert, fordern Opferschützer eine Rationalität ein, die alles, was geschehen kann, einem selbstherrlichen Kontrollwahn bzw. pedantischen Verhandlungen unterwerfen soll. Aus (insbesondere hetero-)sexuellen Beziehungen wäre damit alles getilgt, womit die Partner einander eventuell überraschen könnten, auf dass die Beziehung genauso überregelt, selbstrepressiv und öde ist wie das übrige Leben.
Gesamtgesellschaftlich fügt der einzelne tatsächliche Sexualverbrecher der Hoffnung auf eine Versöhnung der Geschlechter somit weniger Schaden zu als die Initiativen zu seiner Bekämpfung. In diesem Sinn war es unfreiwillig ehrlich, als sich die Selbstbeweihräucherung der Stars auf dem roten Teppich die Anmutung einer Trauerfeier gab.
Im informellen Bündnis aus Opferschutz, Puritanismus und Narzissmus wurde bei der sekundären Verarbeitung des Weinstein-Skandals die Verbindung von Prostitution(sabwehr) und Hollywood aus der Gleichung genommen bzw. verdrängt. Nur der Name „Weinstein“ blieb das einzig Konkrete in einem allgemeinen Gebrabbel von nötigender Gewalt, sexueller Übergriffigkeit, Belästigung, Macht, Opfer und Patriarchat. So konnte die strunzdumme Frage, „ob es solche Typen wie Weinstein auch außerhalb Hollywoods gibt?“ (Zeit) – in der Form selbstverständlich nicht –, zum Fahndungsaufruf in den sozialen wie seriösen Medien („Wider die Weinsteins“, Handelsblatt, 21.12.2017) samt der entsprechenden Abwehrgesten mutieren: „‚Aber ich bin doch kein Weinstein!‘ Das sagen viele aufgeklärte Männer, wenn sie lesen, was Frauen unter dem Hashtag #Me-Too posten.“ (Süddeutsche.de, 20.10.2017)
Am 18.10.17 hieß es auf faz.net:
#metoo […] avancierte zum globalen Megatrend in den sozialen Netzwerken. In den Twitter-Charts rangiert der Hashtag seit Tagen ganz oben. Unter ihm berichten Frauen von anzüglichen Bemerkungen in der Schule, an der Universität, im Beruf, auf der Straße; von Grabschern auf der Tanzfläche und der Angst allein auf dem Nachhauseweg im Dunkeln, von Vergewaltigungen, von Männern, die sie gegen ihren Willen berührten, verbal erniedrigten, ihre physische Stärke oder hierarchische Autorität ausnutzten. Harvey Weinstein ist überall, das will der Hashtag „#myharveyweinstein“ signalisieren.
„Unser Weinstein“
Anfang November 2017 zogen die Veranstalter der traditionellen Bonfire Night in Edenbridge erste praktische Konsequenzen aus dieser Omnipräsenz des Bösen, indem sie die dieses Jahr zur Verbrennung bestimmte Figur bekanntgaben: „Es handelt sich um eine halbnackte Weinstein-Figur, die eine Oscar-Statue umklammert hält. Mit einer offenen Filmklappe im Schritt der Weinstein-Figur deutet eine Frauenfigur das Abschneiden des Genitals des Filmproduzenten an. Die Klappe trägt die Aufschrift Final Cut.“ (Vgl. hier, wo auch die Figur abgebildet wird.)
Nachdem also Harvey Weinstein oder auch nur sein jüdischer Nachname weltweit als von jedem Kontext losgelöster Inbegriff des nötigenden Sexmonsters etabliert war, griffen deutsche Journalisten nur noch unbedarft zur naheliegenden Formulierung, als im Januar 2018 – im entscheidenden Unterschied zum Fall Weinstein – halbwegs konsistente Vorwürfe sexueller Nötigung gegen den Regisseur Dieter Wedel laut wurden und man von FAZ bis Tagesspiegel am 5.1.18 titelte: „Ist Dieter Wedel unser Weinstein?“ oder „Ist Dieter Wedel ein deutscher Weinstein?“
Legitimiert sich die Verbindung im Konkreten divergierender „Fälle“ allgemein über „die Filmindustrie“, dann hätte bereits der Fall Weinstein dieser Logik nach unter der Schlagzeile „Ist Weinstein ein weißer (oder jüdischer) Bill Cosby?“ verhandelt werden müssen, insofern der afroamerikanische Schauspieler und Komiker seit den 2000ern mit Beschuldigungen und Prozessen überzogen wird, die sich auf konkret und zumeist glaubwürdig geschilderte Fälle mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs von Frauen (sexuelle Handlungen mittels Medikamenten wie K.o.-Tropfen) seit den 1960er Jahren beziehen. Am 27. Juli 2015 waren auf dem Cover der Zeitschrift New York 35 Frauen abgebildet, die darin ihren Missbrauch durch Cosby schilderten.
Wäre aber Weinstein als Wiedergänger des mittlerweile verurteilten Cosby dargestellt worden, wäre das antirassistische Geschrei groß gewesen. Das letzte, das übergreifende Hassbild musste „der Weinstein“ sein, weil sich gegen ihn und seinesgleichen alle einig sind.
Dass sich das alte neue Unbehagen gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung der Frau in ihrer Verschränkung mit der bürgerlichen Subjektform als im Grunde antizivilisatorisches Ressentiment mit Weinstein an einem jüdischen Amerikaner entzündete, mag dem Zufall geschuldet sein. Ein weißer, alter Sack musste aber wohl auf jeden Fall her. Auf einen solchen haben antirassistische Postfeministinnen insbesondere in Deutschland gelauert, seit ihre Diffamierungen der tatsächlichen Opfer der Kölner Domplatte als rassistische Trittbrettfahrerinnen und ihr verharmlosender Fingerzeig aufs Oktoberfest im Mainstream noch nicht so richtig verfingen.
Ende der Serie
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Dies ist ein leicht überarbeiteter und aktualisierter Text von Thomas Maul, der zuerst in Bahamas Nr. 78 erschienen ist.