Bereits mit seinem Beginn drohte der im Herbst 2017 von selbsternannten Opferschützern inszenierte Skandal um den erfolgreichen Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, kaum entfesselt, grandios in die Hose zu gehen, sich nämlich solcherart gegen Weinsteins „Opfer“ zu kehren, dass man diese als bürgerliche Subjekte ernst nimmt, die mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu leben hätten, ohne die Öffentlichkeit und Weinstein mit ihrer nachträglichen Reue zu belästigen.
Es war schließlich ungünstig, dass ausgerechnet die Bezichtigungen, die Weinstein mit dem Ruch eines Sexualverbrechers umgeben sollten, in den Schilderungen der Betroffenen selbst eher als Akte freiwilliger Prostitution denn als solche sexueller Gewalt erschienen.
Auslöser des „Weinstein-Skandals“ war eine „investigative“ Recherche Ronan Farrows (The New Yorker, 10.10.2017), der, einigen Gerüchten nachforschend, Frauen aufgetrieben hatte, die bereit waren, unter Namensnennung konkrete Erlebnisberichte zu Weinstein abzuliefern. Dank seiner prominenten Eltern – Woody Allen und Mia Farrow – hat Ronan nicht nur eine Bilderbuchkarriere hinter sich, er ist auch Teil einer medial hinreichend ausgewalzten Familientragödie. Nicht nur, dass der Vater die Mutter verließ, um die Adoptivtochter, also Ronans Stiefschwester, zu heiraten, wenig später behauptete eine andere Schwester, von Allen sexuell missbraucht worden zu sein, Vorwürfe, die sie später, inzwischen in den Zwanzigern, noch einmal wiederholte.
Während ein Bruder Ronans mit Allen die Auffassung vertritt, dass die Mutter die Tochter für einen Rachefeldzug gegen den Vater missbraucht, hält Ronan zu Schwester und Mutter. Im Zusammenhang von in dieser Hinsicht unergiebigen Gerichtsprozessen gegen den Vater sowie vergleichbaren Prozessen gegen andere Prominente veröffentlichte Ronan „im Mai 2016 einen Gastbeitrag im Hollywood Reporter“:
Er beklagte, wie die PR-Maschine seines Vaters die Vorwürfe übertönt hatte. Er prangerte das Schweigen der Journalisten an, schrieb, wenn die Justiz die Verletzlichen nicht schütze, seien die Medien umso wichtiger: „Es ist Zeit, harte Fragen zu stellen.“ Der Text las sich wie ein Manifest. Farrow hielt Wort. Einige Monate später begann er die Akte Weinstein zu recherchieren. (Vgl. NZZ, 20.10.2017)
Es war schließlich auch Weinstein, der die Filme des zeitweilig geächteten Vaters trotz allem weiterhin förderte. (Vgl. NZZ, 20.10.2017)
Dieser Opferschutz-Kontext und Farrows – im Nachhinein (mit dem Pulitzer-Preis) bestätigtes – Vertrauen auf den verbreiteten Neopuritanismus ließen ihn wohl bedenkenlos „seine Opfer“ verraten. Zumindest eine aufgeklärte Öffentlichkeit hätte ihm vorwerfen müssen, seine zweifellos leidenden Interviewpartnerinnen empathielos ins offene Messer laufen zu lassen. Echtes Mitgefühl hätte ihn wohl davon abgehalten, dem Publikum als Beschuldigungen sexuellen Missbrauchs zu präsentieren, was Prostitutionsbeichten sind.
Der Sache nach als Prostitution beschrieben
Zu den wenigen, die dies im deutschsprachigen Raum früh – am 9. November 2017 – und in aller gebotenen Deutlichkeit ausgesprochen hatten, gehörte die Schauspielerin Nina Proll, bekannt unter anderem aus der Fernsehserie Vorstadtweiber:
Ist oder war Herr Weinstein der einzige Produzent in Hollywood? Da gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende. Da ein Abhängigkeitsverhältnis als Argument zu bringen, ist verlogen. Und wenn diese Frauen behaupten, sie wären von ihm anfangs zu Oralsex gezwungen worden, aber hätten danach regelmäßig und oft über Jahre einvernehmlichen Sex gehabt, damit ihnen keine Karrierenachteile entstehen, dann kann ich nur sagen: Dafür gibt es einen Namen, das nennt man nämlich Prostitution. Das ist ein Deal zwischen beiden Beteiligten. Dagegen ist auch nichts zu sagen, nur darf man sich nachher nicht darüber beschweren, dass man traumatisiert ist.
Dabei beanspruchte Proll im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der sich zum „Fall Weinstein“ öffentlich Äußernden nicht, ihrerseits besser zu wissen, was wirklich geschehen war – ob und wie vieler Straftaten Weinstein sich tatsächlich schuldig gemacht hat, hätten einzig und allein Gerichte zu klären –, sondern zeigte lediglich auf, dass und wie als justitiabler sexueller Übergriff behauptet und kolportiert wurde, was in den Verlautbarungen der Weinstein-Bezichtiger selbst der Sache nach als Prostitution beschrieben wird.
Gleichzeitig verteidigte Proll elementare Errungenschaften der Frauenemanzipation als etwas inzwischen Selbstverständliches, das für sich genommen so wenig Gewese verdient wie die eigene Partizipation an solcher Freiheit: dass es zum bürgerlichen Gebrauch des sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Frau legitim dazugehört, in der allgemeinen Konkurrenz um Arbeitsplätze – ein Schlachtfeld, in das sich Frauen gerade infolge ihrer Emanzipation nun einmal geworfen sehen – und im Wettbewerb mit den gleich oder gar besser qualifizierten Mitbewerberinnen, mit denen man längst kein schwesterliches Opferkollektiv mehr bildet, gegenüber prospektiven Arbeitgebern eben auch die „Waffen einer Frau“ einzusetzen.
Entsprechend ließ sich Proll auch von der pseudofeministischen Gehässigkeit, nach dem Modell des schwedischen Prostitutionsverbots allein den Freier – also den bösen Mann – und nicht auch die Prostituierte für ihren „Deal“ haftbar zu machen, nicht den Blick dafür vernebeln, was in derlei Opferschutzprogrammen das Hauptangriffsziel ist: nämlich die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen, deren nonkonformen Ausdruck der neue Puritanismus nur dann nicht an ihnen verfolgt, wenn er ihn irgendwie als Resultat von Männergewalt konstruieren und die Frauen damit ins binäre Identitätsschema „Opfer oder Schlampe“ zurückzwingen kann.
Projektiv-wahnhafte Verkehrung von Sachverhalten
Darum ist auch die geläufige Unterstellung, dass der (kriminelle) Vergewaltiger bloß in die Tat umsetzen würde, wovon jeder (normale) Mann insgeheim träume, eine projektiv-wahnhafte Verkehrung von Sachverhalten. Realen Vergewaltigungen liegt eine gänzlich andere Psychodynamik zugrunde als Vergewaltigungsphantasien, in denen im Gegenteil die aggressiven Aspekte von Sexualität umgelenkt, bearbeitet und sublimiert werden. Überdies sind Vorstellungen von Vergewaltigung weit stärker charakteristisch für weibliche als für männliche Masturbationsphantasien, und zwar historisch weit über die gesellschaftliche Dominanz des Patriarchats hinaus. (Vergleiche die Werke von Isabelle Azoulay, Helene Deutsch und Susan Brownmiller zum Thema.)
Dies wiederum spricht keineswegs dafür, dass Frauen etwa tatsächlich vergewaltigt werden wollen, sondern ist Ausdruck dessen, dass sie sich perverse Wünsche beziehungsweise Lust häufig schlechthin nicht als subjektiven Selbstanteil eingestehen dürfen oder möchten, so dass die willensbrechende Vergewaltigung in der Phantasie „unschuldiges“ Selbstbild hier und Erreichung des versagten Triebziels da miteinander versöhnt.
Was Proll allerdings nicht geahnt haben dürfte, ist, wie wirkmächtig der im Aussterben befindlich geglaubte Puritanismus inzwischen gesamtgesellschaftlich – und das weltweit – wieder geworden ist, und wie groß das Bedürfnis unter Nicht-Puritanern, das eigene Gehirn komplett auszuschalten. Zwar war mit den ersten Weinstein-Enthüllungen bloß ausgesprochen, was ohnehin jeder immer zu wissen glaubte: dass Hollywood nicht nur von Liberalen, Juden und Kommunisten, sondern von Promiskuität und prostitutionsähnlichen Verhältnissen beherrscht wird.
Doch hat sich davon offenbar eine ganze Horde von Schauspielerinnen, die mit Weinstein zusammenarbeiteten, genötigt gewähnt, öffentlich zu bekunden, dass erstens zwischen ihnen und Weinstein nichts gelaufen sei und zweitens alles, was sie mit Edelhurerei auch nur in Verbindung bringen könnte, allein auf die Kappe des übergriffigen Produzenten gehe.
Damit erst war die für alles weitere in den Medien tonangebende Sorte „Weinstein-Opfer“ geboren, die in gut getimten Rhythmen eines nach dem anderen ins Licht der Öffentlichkeit traten oder gezerrt wurden, um sich von einer Schuld reinzuwaschen, die ihnen kein Aufgeklärter je ernsthaft unterstellt hat, und dafür Weinstein zum Sündenbock zu machen.
Rose McGowans Leiden
Eine Ausnahme stellte Rose McGowan dar: als nämlich einziges, angeblich unzweideutiges Vergewaltigungsopfer mit medialer Dauerpräsenz. In der Ästhetik der Weinstein-Affäre – links ein größeres Porträt des „Täters“, rechts kleine Portraits seiner schier unzähligen „Opfer“ (siehe z.B. hier) – führte ihr kahlgeschorener Kopf stets die Liste der Erniedrigten an.
Die FAZ bezeichnete sie bald als „Die Jeanne d’Arc der #MeToo-Bewegung“ (11.2.2018). Im spöttelnden Ton drückte sich die Enttäuschung über ein „Opfer“ aus, das monatelang als unantastbar galt. Im Unterschied zu den juristisch defizitären Aussagen etwa Argentos (auf welche die bereits zitierte Äußerung von Proll vor allem anspielt) hat McGowan, die schon lange vor dem Weinstein-Skandal mit Ronan Farrow in Kontakt stand, die Stimmung immer wieder angeheizt, ohne dabei konkret zu werden.
Ein kryptischer Tweet an den Amazon-Chef – „@jeffbezos I told the head of your studio that HW raped me. Over & over I said it. He said it hadn’t been proven. I said I was the proof.“ – und die wiederholte Behauptung, dass diverse Weinstein-Mitarbeiter davon wussten und sie weder bei männlichen „Kollegen“ beziehungsweise (Ex-)Freunden (Rodriguez, Tarantino, Affleck) noch der eigenen Managerin, Jill Messick, Anteilnahme und Zuspruch fand – mehr war von McGowan lange Zeit nicht zu erfahren.
Sie vertröstete das Publikum auf ihre Autobiografie, die ohne die angekündigte Enthüllung der Vergewaltigungsvorgänge, als Lebensbericht einer C-Prominenten, kein großes öffentliches Interesse hervorgerufen hätte.
Immer wieder sei sie von ‚den mächtigsten und bösesten Männern‘ der Welt bedroht worden. […] In ihrer Autobiografie Brave, die im April im deutschsprachigen Raum erscheinen soll, beschreibt die Schauspielerin offen, wie sie von dem ‚Monster‘ – wie sie Weinstein nennt – in einer Hotel-Suite 1997 sexuell genötigt wurde. (diepresse.com, 31.1.2018)
Erst seit Ende Januar 2018 wurde immer klarer, was McGowan – „Eine Vergewaltigung ist wie der Tod“ (ebd.) – unter „Vergewaltigung“ eigentlich versteht. Auf Promotion-Tour zum am 31. Januar erschienenen Buch gibt sie in einer TV-Show mit Moderator Ronan Farrow in New York kund, bereits als 15-Jährige vergewaltigt worden zu sein – und zwar von einem Oscar-Preisträger, dessen Namen sie aber nicht nennen wolle. Die heute 44-jährige schildert das entsprechende Ereignis von vor 30 Jahren so:
„Er nahm mich mit nach Hause, zeigte mir einen Soft-Porno. Dann hatte er Sex mit mir.“ Sie habe die Vergewaltigung jedoch jahrelang nicht als solche realisiert. Das ganze Ausmaß sei ihr erst später bewusst geworden. McGowan: „Ich fand ihn immer sehr attraktiv. Nicht unbedingt an dem Tag. Aber generell fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Deshalb habe ich es auch immer als sexuelle Erfahrung abgetan.“ (bild.de, 3.2.2018)
Im Kampf gegen die mächtigsten und bösesten Männer der Welt
In Brave selbst wiederholte McGowan die Attacken gegen ihre ehemalige Managerin, die am 7.2.2018 dann Suizid beging, was McGowan via Instagram wie folgt kommentierte: „Der böse Mann hat uns beiden das angetan. Mögest du Frieden auf der Astralebene und Ruhe bei den Sternen finden.“ (vip.de, 12.2.2018)
Jill Messik, ohnehin als „Täterschützerin“ am öffentlichen Pranger des allgemeinen Opfersupports, geriet dadurch noch verstärkt unter Druck, dass Weinstein – seinerseits unter Beschuss von McGowan und Medien – eine E-mail von Messik veröffentlichte, in der diese schrieb, McGowan habe ihr damals anvertraut, die sexuellen Handlungen mit Weinstein willentlich begangen, sie aber kurz darauf bereut zu haben. (welt.de, 11.2.2018)
Diese Entwicklung ist nicht zuletzt deshalb besonders tragisch, weil McGowans eigene Schilderung der angeblichen Vergewaltigung durch Weinstein in Brave dafür spricht, dass es sich genauso zugetragen hat, wie von Messik beschrieben:
Das Buch erzählt von der Vergewaltigung durch Weinstein beim Sundance Festival. Und von McGowans Naivität, die sie selbst an sich feststellt, wenn sie von damals, vom Ort des Geschehens, erzählt. Sogar den Orgasmus aus Harry und Sally habe sie schließlich nachgespielt, damit die Sache schneller vorbei sei. […] McGowan erlebte mit Weinstein genau das, was ihr als Sektenkind normal erschien. Nachdem sie sich nicht mehr richtig verhielt, sich also nicht mehr mit ihm traf, nicht mehr zurückrief, nicht seine Geliebte sein wollte, kamen die Konsequenzen. Weinstein erzählte in Hollywood, man solle sie nicht casten, sie sei bad news. Er zahlte ihr 100.000 Dollar, damit sie die Klappe hielt: to buy peace, wie der schöne Fachbegriff heißt. (faz.net, 11.2.2018)
Die Bettgeschichte mit Weinstein war also erstens allenfalls schlechter Sex, wobei McGowan zweitens während des Vollzugs für Weinstein sogar noch die Illusion erzeugte, es würde ihr gefallen, und drittens später eine Stange Geld dafür entgegennahm, über diese Erfahrung nicht öffentlich zu sprechen. Vieles spricht ferner für die Mutmaßung der FAZ, dass McGowans Kindheit und Sozialisation in einer „Sex-Sekte“ für die psychische Disposition des Verhaltensmusters verantwortlich sind, Männern immer wieder sexuell zu Willen zu sein, und dies anschließend zu bereuen.
Verrat von Opfern
Ein individuelles Leid jedenfalls, das weder mit einem „Patriarchat“ noch Weinstein oder Messik zu tun hat, die aber ins Visier des Kreuzzuges einer 44-Jährigen gegen die eigene Biografie bzw. „die mächtigsten und bösesten Männer der Welt“ geraten sind.
Im Juni 2018 berichteten die deutschen Medien noch, dass gegen Rose McGowan Anklage wegen Kokain-Besitzes erhoben wurde und verbreiteten ihre Verschwörungstheorie, nach der ihr die Drogen im Auftrag Weisteins untergeschoben worden seien (z.B. Spiegel-Online, 12.06.). Von McGowans späterer Verurteilung (Geldstrafe in Höhe von 2.500 US-Dollar und 12-monatige Bewährungsstrafe) erfuhr man aus deutschen Medien nichts mehr. Folgerichtig auch nichts von ihrem Kommentar:
Manchmal musst du den Kampf verlieren, um den Krieg zu gewinnen und ich bin auf lange Sicht dabei. Und genau das ist es, was vor sich geht. Sobald man sich im Rechtssystem verheddert, ist es sehr schwer, aus ihm herauszukommen. (The Washington Post, 14.01.2019)
Auch im Fall McGowan wird allseitig als empathische Unterstützung von Opfern ausgegeben, was ihr Verrat ist, indem die wahnhafte Bearbeitung von Symptomen und die kampagnenförmige Umgehung des Rechts (die Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters) als Heilung der Seele angepriesen werden.
Lesen Sie morgen: „Akte Weinstein“ (2): Bademantelphobie.
Den zweiten Teil dieser Serie lesen Sie hier.
Den dritten Teil dieser Serie lesen Sie hier.
Den vierten Teil dieser Serie lesen Sie hier.
Dies ist ein leicht überarbeiteter und aktualisierter Text von Thomas Maul, der zuerst in Bahamas Nr. 78 erschienen ist.