Gerd Held / 04.01.2019 / 06:02 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 23 / Seite ausdrucken

Sieben Einsichten zur politisch-moralischen Konkurrenz 2019

1.

Das sehr knappe Abstimmungsergebnis über den CDU-Vorsitz ist ein Ereignis, das die politische Entwicklung des vergangenen Jahres recht gut widerspiegelt. Dabei geht es weniger um die Frage, inwieweit Kamp-Karrenbauer tatsächlich in jeder Hinsicht eine Merkel-Fortsetzung ist und inwieweit Merz tatsächlich auf der Höhe der Aufgaben einer Alternative für Deutschland ist. Wichtiger ist der Vorgang, dass das Bedürfnis nach einem Richtungswechsel und die Suche nach einem Ausweg aus dem Erosionsprozess, dem Deutschland unübersehbar ausgesetzt ist, an Breite gewonnen hat. In diesem Punkt fügt sich Deutschland – endlich, möchte man sagen – in die politische Entwicklung in anderen Ländern ein. Die Wahl Trumps in den USA und die bemerkenswerte Behauptung der Republikaner in den Mid-Term-Wahlen zeigt eine ähnliche Zweiteilung der politischen Landschaft. Die hartnäckige Auseinandersetzung um den EU-Austritt Großbritanniens ebenso. 

2. 

Und nun zeigt sich auch in Frankreich mit der Bewegung der „Gelbwesten“ (gilets jaunes) eine breite, tief im Lande verankerte Gegenbewegung gegen ein Macron-Lager, das gerade noch für sich allein den Anspruch erhob, die aktiven Bewegungskräfte Frankreichs zu repräsentieren. Das Macron-Lager nannte sich „La France en marche“ und wollte sich über alle Alt-Parteien erheben. Das war ein Schachzug, der mit einem Schlag „jenseits aller Parteigrenzen“ einen politischen Alleinvertretungsanspruch installieren wollte. „Die Anderen“ sollte es gar nicht mehr geben. Man dachte, man könnte die Nichtwähler, die die Wahlbeteiligung bei den Macron-Wahlen unter 50 Prozent hatte sinken lassen, schlichtweg ignorieren – als hätte dieser Teil des politischen Frankreichs keine politischen Interessen mehr! Als säßen diese Menschen irgendwo „abgehängt“, „ängstlich“, „resigniert“ oder einfach nur „stumpf“ auf dem Sofa!

Dann kamen die „gilets jaunes“ und zeigten vor allem eins: dass es ein anderes „France en marche“ gab, einen großen Sektor der Gesellschaft, der einen Großteil der Arbeit der Nation trägt. Und zwar gerade der physischen Arbeit, die sich in unserer heutigen Zeit nicht in der Mitte der großen Städte vollzieht, sondern in der engeren und weiteren Peripherie. Das war exakt der gesellschaftliche Sektor, der in den USA Trump an die Regierung brachte, und der in Großbritannien die Mehrheit für den Brexit herstellte. Auch in anderen Ländern lässt sich das beobachten und hat auch hier mancherorts – zum Beispiel in Mittel-Ost-Europa – neue Regierungsmehrheiten hergestellt.

3.

Zwei Dinge verdienen es, in der Bilanz des Jahres 2018 festgehalten zu werden. Erstens kann die Tatsache auch in Deutschland nicht mehr ignoriert und verdrängt werden, dass es eine politische Opposition gibt, die einen sozialen Sektor repräsentiert, der aktiv ist, der kraftvoll ist, der in der Arbeitswelt verankert ist und hier oft belastende und ermüdende Tätigkeiten aushält (mit eigenem Stolz und auch mit eigenem Humor), die in dem sozialen und politischen Sektor des „Weiter-so“ als unerträglich gelten. Es gibt inzwischen eine vielfache Erfahrung, dass diejenigen, die für sich beanspruchen, die Zukunft  zu repräsentieren, dann, wenn sie einmal in die Arbeitswelt der Anderen geraten, dort schnell wieder verschwinden – weil die Arbeit dort nicht „intelligent“ oder „kreativ“ genug ist, oder weil die „work-live-balance“ nicht stimmt. 

4.

Die Tatsache, dass sich im Laufe des vergangenen Jahres eine neue Breite und Qualität des anderen gesellschaftlichen Sektors gezeigt hat und die neue politische und moralische Konkurrenz, die das eröffnet, eigentlich unübersehbar ist, bedeutet nicht, dass das abfällige Gerede – vor allem in den Medien und insbesondere in Deutschland – damit beendet wäre. Nein, unverdrossen wird hierzulande die Mär von den „Ängsten“ der Menschen (zum Beispiel angesichts der Migrationswelle) weitererzählt, womit man die Auseinandersetzung in der Sache gar nicht erst eingeht, aber sich selber schon den Titel des „Mutigen“ reserviert hat. Tolle deutsche Zustände: Diejenigen, die die Zügel schleifen lassen und darauf setzen, dass es schon irgendwie gutgeht, wollen als die Mutigen gelten.  

5.

Die zweite Wahrheit, die mit der neuen Knappheit der Mehrheiten verbunden ist, besteht darin, dass die Opposition in Deutschland ihrerseits nicht ignorant sein sollte, sondern die Gesellschaftshälfte, die ihr gegenübersteht, ernst nehmen sollte. Die Überhöhung der Person Merkel und die Zuspitzung aller politischen Auseinandersetzung auf das „Merkel muss weg“ darf nicht dazu führen, dass man sich mit dem sozialen Sektor, der sie trägt, nicht sorgfältig und aufrichtig beschäftigt.    

6.

Das sind zwei Wahrheiten, die wir mit ins Jahr 2019 nehmen sollten: Dass die Opposition in Deutschland und anderen Ländern selbstbewusst als große gesellschaftliche Kraft auftreten kann und dass es zugleich eine zweite große gesellschaftliche Kraft gibt, die die bisherigen Verhältnisse und das Weiter-so billigt – und sie tut das nicht deshalb, weil sie dazu gezwungen ist oder von irgendwelchen höheren Mächten verführt würde. Auch dieser gesellschaftliche Sektor hat seine inneren Gründe.

Ja, wir haben eine gesellschaftliche Zweiteilung – und wenn man so will: eine „gesellschaftliche Spaltung“. Aber das ist nichts Schlimmes. Es ist kein Zeichen, dass unser Land verloren wäre. Denn es ist keineswegs so, dass nur eine einmütig zusammenhaltende Gesellschaft geschichtliche Entwicklungskraft hätte. Das ist eine ganz schädliche und einschüchternde Vorstellung. Ein Ammenmärchen. In Wirklichkeit kann sich ein Richtungswechsel gar nicht anders durchsetzen, als dass er zunächst nur von einem Teil der Gesellschaft verfolgt würde, während der andere den Status quo vertritt. Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Teilungen sind bei großen politischen Aufgaben unvermeidlich und auch notwendige Stadien, ohne die das politische Handeln gar nicht anfangen könnte.  

7.

Die Opposition sollte ihren Weg gehen und zugleich versuchen, ihn dem sozialen Sektor des Weiter-so verständlich zu machen. Dabei wäre es wichtig, eine Frage in den Vordergrund zu stellen, von der die Anhänger des Weiter-so zwar bisweilen sprechen, aber die sie nicht wirklich beantworten: die Entwicklungsfrage. Das lässt sich sehr gut beim Problem der Massenmigration zeigen. Der sogenannte „Migrationspakt“ (die Abstimmung darüber hat auch sofort zwei Lager offenbart) hat nämlich exakt bei der Entwicklungsfrage seinen blinden Fleck.

Er kann überhaupt nicht erklären und begründen, wie aus Migration (dem ganz oberflächlichen, isolierten Vorgang der Fortbewegung von einem Land zum anderen) Entwicklung entstehen soll. Er verdeckt diesen blinden Fleck mit kruden Floskeln, dass Geschichte „schon immer“ durch Migrationen gemacht wurde und dass in der heutigen Globalisierung (also etwas, was nicht „schon immer“ da war) die Migration besonders positiv sei. Dass gerade aus Gründen der Entwicklungsfähigkeit in der Geschichte unserer Neuzeit begrenzte Territorialstaaten mit Eigenverantwortung (und dafür mit harten Zugangsbegrenzungen) gebildet wurden, wird ignoriert. Und zugleich wird bei dem UN-Vorhaben „Migrationspakt“ ignoriert, dass die Vertragsgrundlage der Vereinten Nationen (ihre Charta) die Souveränität und territoriale Integrität ihrer Mitgliedsstaaten ist und die große Vermischung durch eine ausufernde Massenmigration ein Anschlag auf die UN selbst ist.   

Diesen Beitrag hat Gerd Held auch in seinem Rundbrief veröffentlicht, den sie hier auf seiner Website abonnieren können.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Matthias Braun / 04.01.2019

Ein “weiter so” geht nur ,wenn es weiter so ginge. Das ist aber nicht mehr der Fall-es zeichnen sich dunkle Wolken ab im Wirtschaftssektor und der inneren Sicherheit. Hier müßten alle (demokratischen)Kräfte an einem Strang ziehen, bevor es zu spät ist.

dr. michael kubina / 04.01.2019

Gute Analyse, aber man kann den irrationalen Faktor nicht einfach ausblenden, v.a. auf Seiten der Migrations- und Status quo Verteidiger. Sie entziehen sich ja gerade der rationalen Argumentation. Das ist doch das Problem, nicht allein die Spaltung über Sachfragen!

Frank Pressler / 04.01.2019

Schön beschrieben, Herr Held. Der Weltgeist schreitet eben voran. Bildeten früher „Bourgeoisie“ und Linke Gegensätze, so hat sich daraus die Denationalisierung als Synthese gebildet, in der die ökonomische und moralische Globalisierung eine „höhere“ Einheit bilden und das „freie“, jedoch entwurzelte, stets mobile, der Wirtschaft dienliche, dem Massenkonsum unterworfene, sich individualistisch fühlende Einheitsindividuum diese scheinbar höhere Einheit personifiziert. Und jetzt erleben wir halt gerade, wie sich zu dieser Synthese ein neuer Gegensatz formuliert.

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