Für afrikanische Regierungen zahlt es sich aus, ihre Länder im Ausnahmezustand zu halten, anstatt Probleme zu lösen. Europa kann die Völkerwanderungen jedoch nicht bewältigen.
Ich habe mich an jedem meiner Dienstorte in Afrika mit Migrationsfragen beschäftigt. Meine Erfahrungen werden von vielen noch aktiven Kollegen geteilt. Selbstverständlich werden diese sich – dem heutigen Zeitgeist entsprechend – niemals so offen äußern können. Sie fürchten, in die nationale Ecke gestellt zu werden, wenn sie den allzu sorglosen Umgang mit Begriffen wie Asyl, Flucht oder Illegalität bemängeln. Leider ist die Diskussion von moralischen Urteilen durchsetzt. Ein anderer Blick auf die Migration ist dringend nötig.
Der langjährige Afrika-Korrespondent der Los Angeles Times, David Lamb, schrieb schon 1987 in seinem Buch „The Africans“ („Afrika Afrika“):
„Tragischerweise ist Afrikas Flüchtlingsproblem eher die Sorge der internationalen Gemeinschaft als die der afrikanischen Regierungen. Dasselbe gilt für Nahrungsmittelknappheit, Bevölkerungswachstum und die Nöte, die durch Dürre und andere Naturkatastrophen verursacht werden. Es ist für die meisten afrikanischen Regierungen in der Tat vorteilhaft, ihre Länder in einem ständigen Ausnahmezustand zu halten, weil sie dann die Krise zu einer Geldquelle machen und unterdrückerische Maßnahmen im Namen des Überlebens der Nation rechtfertigen können.“
Radiosender – in Afrika ist das Radio nach wie vor das wichtigste Medium – und soziale Medien verbreiten eine frohe Botschaft: Wer es nach Europa schafft, hat beste Chancen, dauerhaft zu bleiben, egal, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht. Rechts-, Aufnahme- und Versorgungsansprüche sind in Einzelheiten bekannt. Diese Politik ist auch eine Goldgrube für Menschenschmuggler, denn es sind nicht die Ärmsten, die die lebensgefährliche Reise wagen. An der illegalen Einwanderung verdient die organisierte Kriminalität gut. Ein Schleuser kann, wie der franko-beninische Journalist Serge Daniel ermittelt hat, derzeit zwischen 1.000 und 8.000 Euro pro Person verlangen.
Viele Migranten haben keine Vorstellung davon, was sie in Europa erwartet; sie sind „auf gut Glück“ aufgebrochen, wie sie Reportern von Radio France Internationale (RFI) häufig erzählten. Dennoch sind die jungen Afrikaner gut informiert. Sie kennen die „Regeln“ von Landsleuten, die vor ihnen nach Europa kamen. Diese informieren über den Anspruch auf finanzielle Leistungen, von Griechenland bis zur Schweiz, sogar in abgelegenen Regionen. Sie wissen sehr genau, um welche Länder sie einen Bogen machen sollten.
Illegale Einwanderung darf sich nicht lohnen
Sie wissen auch, dass Ausweisungsbescheide nicht vollstreckt werden können, wenn die Immigranten ohne Papiere angekommen sind. Bei Asylverfahren sind auch immer wieder gefälschte Zeitungsartikel im Einsatz, um die politische Verfolgung des Asylbewerbers zu untermauern. Gefälschte Dokumente waren zu meiner Zeit als Botschafter in Kamerun alltäglich und wurden von kamerunischen Behörden gerne dann toleriert, wenn die Fälschungen „nur“ bei ausländischen Vertretungen eingesetzt wurden. Neben der Tatsache, dass man auf einem bestimmten Markt in der Hauptstadt Jaunde so ziemlich jede kamerunische Urkunde kaufen kann, ist die Stadt Kumba in der Südwestprovinz dafür bekannt, dass dort Urkunden häufig gefälscht werden.
Europäische Politiker arbeiten seit Jahren mit dem Textbaustein „Fluchtursachen beseitigen“, doch über eine wichtige Ursache wird nie geredet: Es sind die Anreize. Wer jedem illegalen Einwanderer Kost, Logis, Taschengeld und kostenfreie Gesundheitsversorgung verspricht, der lädt jeden ein, in dessen Land die Lebensbedingungen spürbar schlechter sind als hierzulande. Erst wenn klare Signale ausgesendet werden, dass die Ankunft in Europa über illegale Einwanderung nicht mehr möglich ist, werden die Zahlen der illegalen Migranten, die im Mittelmeer sterben, zurückgehen.
Dass die „Migration den Politikern sogar gelegen kommt“, wie einige meiner afrikanischen Bekannten meinen, ist sicher nicht ironisch gemeint. Da es die Unbequemen sind, sehen Afrikas Herrschende sie nur zu gerne ziehen. Kameruns Präsident Paul Biya (seit 1982 im Amt) hat zu meiner Zeit als Botschafter in dem Land gar öffentlich das Recht auf Migration nach Europa gefordert.
Migration bleibt ein kontroverses, emotionales Thema: für die Migranten selbst wie für die in Armut Zurückgebliebenen und ebenso für die Bürger der Aufnahmeländer. Wer als multikulturell Gesinnter offene Grenzen und uneingeschränkte Migration als Allheilmittel gegen die Armut auf der Welt fordert, macht es sich jedenfalls zu einfach. Die Länder, die ihre jungen Menschen durch Auswanderung verlieren, geben damit die Personen auf, welche die Zukunft des Landes aufbauen können.
Europa kann nicht dauerhaft die Folgen des afrikanischen Bevölkerungsdrucks auffangen. Illegale Einwanderung, insbesondere bei Menschen aus Ländern, in denen es politische Freiheit gibt, darf sich nicht lohnen.
Europa blamiert sich
„Afrika steht vor einer Bevölkerungsexplosion, die zwangsläufig zu einer massiven Migration in Richtung Europa führen wird“, schreibt der amerikanische Journalist, Professor und Weltwoche-Autor Stephen Smith in „La ruée vers l’Europe“ („Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“). Der linksliberale Smith wendet sich gegen den unerschütterlichen Glauben, dass mittels Entwicklungshilfe die meisten Afrikaner zum Bleiben in ihren Ländern bewegt werden könnten.
Er schreibt:
„Entwicklungshilfe hilft nicht, Einwanderungsströme nach Europa zum Versiegen zu bringen, sondern sie trägt im Gegenteil dazu bei, dass Auswanderung ein mögliches Projekt wird [. . .] Die Zahlen afrikanischer Einwanderer nach Europa sind deutlich gestiegen, seit es Afrika besser geht. [. . .] wenn wir Millionen von Afrikanern in unsere Gesellschaften integrieren, werden wir auch andere Normen und Wertbegriffe importieren, ein anderes Autoritätsverständnis, andere Erziehungsideale, ein anderes Frauenbild und vieles mehr.“
Das angebliche große Interesse der Partnerstaaten an Kooperation kann ich nicht bestätigen. Die Interessen unserer Länder werden meist nicht formuliert oder im Rahmen der Möglichkeiten nicht durchgesetzt. Dafür werden theoretische Vorträge gehalten mit einer überheblichen Zurschaustellung von Moral und Gesinnung. Selbst Afrikaner nehmen uns außenpolitisch nicht mehr ernst.
Wir brauchen ein Ziel, um die Menschen mit ihren Fähigkeiten im eigenen Land zu halten, weil sie dort zur Entwicklung gebraucht werden. Wenn man eine Erfolgsgeschichte auf dem Kontinent sucht, kommt man heute an Ruanda nicht vorbei. Die positiven Resultate der Politik von Paul Kagame zieht kaum jemand in Zweifel. Ruanda hat sich unter Kagames Führung in den vergangenen zwei Jahrzehnten schneller entwickelt als jedes andere afrikanische Land. In den Flüchtlingsbooten, die übers Mittelmeer nach Europa kommen, sitzen keine Ruander. Sie fliegen mit dem Flugzeug in die entgegengesetzte Richtung. Die Rückkehrer bringen Kapital, Wissen und Innovation mit. 3,5 Millionen Menschen sind seit dem Genozid zurückgekehrt.
Europa blamiert sich vor Afrikanern, wenn es überheblich moralisch urteilt und bewertet. (Medien kritisieren Ruanda sehr gerne als autokratisch regiert.) Es ist nicht an uns, afrikanischen Ländern Vorgaben zu machen. Afrikaner können selbstständig ihre Entwicklung in die Hand nehmen. Wir sollten alte Einsichten überdenken, das Besserwissen überwinden und uns fragen, ob der Anspruch, Afrika zu retten, nicht ein paar Nummern zu groß ist. Afrikaner können nur so Selbstvertrauen und Selbstachtung gewinnen. Ich habe festgestellt, dass politische europäische Initiativen nichts ändern. Wir zahlen und haben keinen Einfluss.
Billiger als eine dauerhafte Arbeitslosigkeit in Europa
Über Länder-Patenschaften könnten einige der Fluchtursachen bekämpft werden. Auch würde sich Europa durch den Fokus auf einzelne Staaten, etwa im Trockengürtel des Sahel, aus dem die meisten afrikanischen Migranten stammen, bei seinen Hilfsaktionen weit weniger als bislang verzetteln. Wir sollten dabei nur Staaten unterstützen, die bereit sind, die eigene Regierungsarbeit und zentrale Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung – etwa die berufliche Bildung und Familienplanung – konsequent zu fördern. Wir sollten anfangen, unsere Mittel auf Länder zu konzentrieren, die Ansprüchen auf Rechtstaatlichkeit annäherungsweise standhalten. Das sind in Westafrika Benin, Ghana, Senegal und neuerdings Niger (das Transitland für Migranten).
Jeder Afrikaner, der in sein Land zurückkehren will, sollte großzügige Starthilfen bekommen, um ihn beim Berufsstart in seiner Heimat zu unterstützen, beispielsweise mit Anschubfinanzierungen für eine Firmengründung. Ein Betrag bis zu 50.000 Euro wäre schon nach einigen Monaten billiger als eine dauerhafte Arbeitslosigkeit in Europa. Es sollte eine konkrete, transparente Ergebnisvereinbarung zwischen Geber und Nehmer geben. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) könnten bei einem Businessplan helfen und die Firma für eine festgelegte Zeit betreuen. Sobald der ehemalige Migrant Ergebnisse nachweist, die von unabhängigen Prüfern abgenommen wurden, zahlen die Botschaften sukzessiv die zugesagte Summe. Dieses Konzept bringt die Leute dazu, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Weltwoche. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitpublikation.
Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte 11. Auflage erschien am 18. März 2021. Volker Seitz publiziert regelmäßig zu afrikanischen Themen und hält Vorträge (z.B. „Was sagen eigentlich die Afrikaner“, ein Afrika-ABC in Zitaten).