Volker Seitz / 23.03.2019 / 16:00 / Foto: Pixabay / 9 / Seite ausdrucken

Afrika: Unpünktlichkeit als Statussymbol

Im Westen wurde das Arbeiten nach der Uhr mit der Industrialisierung allgemein verbindlich. Die Arbeitsorganisation des Industriesystems forderte Pünktlichkeit. Das hat dazu geführt, dass heute nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit minutiös geplant werden, ein Phänomen, das viele beklagen. In Afrika konnte ich ein völlig anderes Zeitgefühl beobachten. Afrikaner leben nach einem eigenen Rhythmus. Es gibt ein inneres Widerstreben, Zeit als etwas zu sehen, das verrinnt oder gar verschwendet werden kann. Zeit ist etwas Gottgegebenes, das es nicht zu nutzen, sondern zu verbrauchen gilt. Dies wird nicht nur von Afrikanern, sondern auch von Entwicklungshelfern und anderen Menschen, die dort leben, als größere Freiheit wahrgenommen. Afrikaner machen sich darüber lustig, wenn Europäer Pünktlichkeit als eine Form von Höflichkeit bezeichnen.

Das hat jedoch auch seine Schattenseiten, denn diese Haltung führt dazu, dass man sich ungern im Voraus festlegt und plant. Die Uhr bekommt den Charakter eines Kontrollinstruments. Bei der Arbeit unterwirft man sich kaum einem Zeitmaß. „Arbeit“ und „Freizeit“ werden nicht streng voneinander getrennt. Das gilt auch für die Eliten. Es gibt selten eine konsequente und zielorientierte, das heißt sinnvolle Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit. Die Einstellung zu Terminen ist lässig.

Die Verschwendung von Zeit und die zu kurzfristigen Zeitperspektiven bei den Eliten sind mit ein Grund für die Rückständigkeit. Pünktlichkeit bei der Arbeit und deren Kontrolle – wie durch die damaligen Staatspräsidenten Sankara (Burkina Faso) und Kountché (Niger) – erregen großes Aufsehen. Unpünktlichkeit wird auch bewusst als Mittel eingesetzt, um den eigenen Status zu betonen und an die eigene Wichtigkeit und Macht zu erinnern. Veranstaltungen etwa beginnen erst, wenn der protokollarisch wichtigste Teilnehmer eingetroffen ist – wann auch immer das sein mag. 

Doch es besteht ein Zusammenhang zwischen Pünktlichkeit und Effizienz. Das mangelnde Zeitgefühl führt zu einer statischen und nicht zu einer dynamischen Lebenseinstellung. Die Ethnologin Kundri Böhmer-Bauer versuchte in Simbabwe mehrmals, den Zeitpunkt für eine Verabredung am Nachmittag genauer festzulegen, bis schließlich der Gesprächspartner ungeduldig sagte: „Nach dem Mittagessen und vor Sonnenuntergang.“ Genauer ging es nicht.

Wenn sich die Entwicklungsländer über Geschenke von Kapital und Know-how hinaus aus eigener Kraft auf einen höheren Lebensstandard zu bewegen wollen, wird ihnen die wenigstens teilweise Übernahme westlichen Zeitdenkens nicht erspart bleiben. Dass das möglich ist, zeigen leistungsorientierte afrikanische Emigranten, die den westlichen Arbeitsstil übernehmen und damit erfolgreich sind. Zum wirtschaftlichen Erfolg gehören Disziplin und Zuverlässigkeit sowie eine verlässliche und gut organisierte Verwaltung.

Die Bürokratie in Afrika hat viele üble Wesensmerkmale europäischer Bürokratie übernommen, ohne die entsprechende Effizienz zu bieten. Das ist katastrophal in Verbindung mit weit verbreitetem Fatalismus, Absentismus, das heißt dem gewohnheitsmäßigen Fernbleiben vom Arbeitsplatz, und Gleichgültigkeit. Die Inkompetenz der Bürokratie wird dadurch noch verstärkt, dass sehr viele Stellen nicht nach Ausbildung und Qualifikation, sondern nach dem Verwandtschaftsgrad des Stelleninhabers mit demjenigen, der über die Stelle zu entscheiden hat, besetzt sind. Das „système débrouille“, das System des „Durchwurstelns“ herrscht allenthalben. 

Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Buches „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe erschien im September 2018. Der vorliegende Text ist ein kurzer Auszug aus dem Buch. Volker Seitz publiziert regelmäßig zum Thema Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika und hält Vorträge.

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Peter Volgnandt / 23.03.2019

Zeit ist schon eine merkwürdige Sache. Augustinus meinte, als er gefragt wurde was Zeit ist, wenn ihr mich nicht nach ihr fragt, dann weiß ich es, wenn ihr mich fragt, dann weiß ich es nicht. Einstein antwortete nur auf diese Frage, Zeit ist das was die Uhr misst. Aber zur Sache. In Europa war es bis zum ausgehenden Mittelalter ungefähr so, wie es der Autor für das heutige Afrika beschrieben hat. Erst mit der Erfindung der Uhr hat sich das geändert, Kirchtumuhren, Taschenuhren und die Pendeluhren in den Häusern gaben den Menschen eine verbindliche Zeit. Jetzt konnte man sich verbindlich verabreden, die Uhren wurden zum Taktgeber für den Tagesablauf. Dann kamen Newton und Leibniz, die die Zeit als Parameter in die Physik (mit Differentialrechnung und Integralrechnung) einführten und das war die Geburt der modernen Naturwissenschaft. Wunderbar beschrieben in dem Buch von Thomas de Padova, Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit.

Bernd Leber / 23.03.2019

Nun ist das Phänomen ja nicht nur auf Afrika beschränkt: bekanntlich ist ja schon das südliche Europa terminmäßig da etwas lockerer drauf, von Lateinamerika (Prinzip “Manana”) und dem arabischen Raum (Prinzip “Inschallah) ganz abgesehen. Positiv gewendet gilt für derlei abweichendes (oder einfach anderes) Kultur-Verhalten aus soziologischer Sicht der Begriff “Schedule Independent”. Oder, um es mit dem Kölner Grundgesetz auszudrücken: man muss auch jönne könne!

Werner Arning / 23.03.2019

Letztlich muss man sich entscheiden. Beide Denkweisen haben ihre jeweiligen Vorzüge. Und bringen auch die jeweiligen Nachteile mit sich. Beides gleichzeitig zu haben, geht nicht. Oder höchstens auf die mediterrane Art. Ein bisschen von beidem. Dann bin ich halt nicht so effizient wie der Nordeuropäer, jedoch möglicherweise effizienter als der Afrikaner. Nur darf ich mich dann nicht beschweren und den gleichen Erlös erwarten, welchen sich der Nordeuropäer erwirtschaftet. Und ich darf nicht erwarten, dass dieser dann für meine Gemütlichkeit aufkommt. Dann muss ich zu meinem Verhältnis zu Zeit stehen, dann muss ich dazu stehen, dass ich zwar weniger an materiellen Annehmlichkeiten besitze, dafür aber vielleicht mehr vom Leben habe, etwa die Sonne genieße. Ich darf dann nicht sagen, ich sei benachteiligt und materiellen Ausgleich beanspruchen. Denn ich habe mich doch für meine Vorstellung der Verwendung von Zeit entschieden und diese Entscheidung mag ja sogar die Bessere sein. Ist es nicht diese Einstellung, um die so viele Nordeuropäer die Südeuropäer (und Afrikaner) beneiden? Jeder sollte seine Lebensweise bestimmen können, jedoch auch deren Konsequenzen erwachsen tragen. Es gibt keinen Grund etwa Afrikaner wie unselbstständige Kinder zu behandeln.

Wilfried Cremer / 23.03.2019

Der Deutschen Bahn gebührt das Verdienst, den afrikanischen Zeitbegriff auch hierzulande einzuführen. Der Statuszuwachs der Reisenden lässt dagegen noch zu wünschen übrig.

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