Während in Ostafrika, namentlich Kenia, Tansania und Uganda, aus Asien überwiegend Inder (nach der Vertreibung durch Idi Amin wächst die indische Minderheit in Uganda seit der Jahrtausendwende wieder) als Nachfahren der Vertragsarbeiter für den Eisenbahnbau (ab 1896) und Händlerfamilien aus der britischen Kolonialzeit leben, spielen im frankophonen Westen Libanesen eine ähnliche Rolle in den früheren französischen Kolonien. (Die relativ junge Entwicklung einer wachsenden Präsenz von chinesischen Unternehmen lasse ich in diesem Text außer Acht.) Inder sind wirtschaftlich weitgehend unabhängig. Sie haben sich bis heute kaum in afrikanische Gesellschaften integriert.
Zwischen 200.000 und 500.000 Libanesen leben in West- und Zentralafrika. Genaue Zahlen kennt niemand. Oft werden sie aus politischen Gründen übertrieben oder heruntergespielt. Viele Familien sind vor oder nach dem Ersten Weltkrieg nach Afrika emigriert. „Libanesisch“ ist allerdings eine weitreichende Bezeichnung. Aus der früheren osmanischen Provinz Syrien wanderten viele Syrer aus, die dann als Libanesen bezeichnet wurden.
Frankreich ermunterte Libanesen, nach Französisch-Westafrika auszuwandern, um die Kolonialwirtschaft in Gang zu bringen. Sie begannen oft als Händler mit Import/Export. Sie kamen in der Fremde rasch zurecht und waren oft erfolgreich. Weil sie für ihren Fleiß, ihre Zuverlässigkeit und ihre Geschäftstüchtigkeit bekannt waren, gewährten ihnen europäische Firmen langfristige Kredite. Heute arbeiten sie in vielen Bereichen. Im kollektiven Bewusstsein der Afrikaner sind alle Libanesen reich. Tatsächlich aber gilt das nur für schätzungsweise zehn Prozent. Die Libanesen mit ihren Großfamilien sind die einflussreichsten Wirtschaftsakteure mit ausländischen Wurzeln im frankophonen Afrika. Daneben gibt es noch zwischen 70 und 80 Prozent Familien, die man als gewerbliche Mittelklasse bezeichnen könnte. Diese Mittelklasse hat sehr viel höhere Einkommen als die „afrikanische Mittelklasse“.
Beispiel Côte d’Ivoire: 100.000 Libanesen steuern etwa 40 Prozent der ivorischen Wirtschaft (Vertrieb von Nahrungsmitteln, Automobilen, Möbeln, Baumaterialien, Immobilien, Hotels, Restaurants, Kakao, Gebrauchsgüter, Güterkraftverkehr und kleinere Fabriken). Sie beschäftigen 300.000 Angestellte. Sie tragen 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) und 15 Prozent zum Steuerertrag des Landes bei. Die Mehrzahl lebt in der Hauptstadt Abidjan. Etwa 90 Prozent sind ivorische Staatsbürger. Die Ivorer nennen sie scherzhaft „die 63. Ethnie“. Es ist die größte Diaspora von Libanesen in Afrika. Nachdem 2004 während des Bürgerkriegs in der Côte d’Ivoire französische Geschäftsleute das Land verlassen hatten, übernahmen vorwiegend die libanesischen Unternehmer ihre Geschäfte. Sie haben seit 2010 ihre eigene Handelskammer. 273 Unternehmen sind Mitglied. Von Abidjan aus sind die Firmen in zahlreichen Nachbarländern tätig.
Libanesen engagieren sich kaum in politischen Parteien
Die Zahl der Libanesen (Christen und Moslems) variiert erheblich von einem Land zum anderen. In Mali oder Burkina Faso leben höchstens 1.000 Libanesen, eingebürgert oder nicht. In Guinea leben 3.000 und im Senegal etwa 30.000. Zuallererst kamen Libanesen in den Senegal und sind später wegen der besseren Perspektiven nach der Côte d’Ivoire weitergezogen. Während des Bürgerkriegs im Libanon (1975–90) gab es eine neue Einwanderungswelle.
Libanesen engagieren sich kaum in politischen Parteien, haben aber meist gute Beziehungen zu den Regierungen oder den Familien der Regierenden. Ausnahmen gab es in Liberia, wo Monie Captan von 1996 bis 2003 Außenminister der Regierung von Charles Taylor war. Im Senegal war Haidar El Ali Minister für Umwelt und anschließend für Fischerei (2012–2014). Für die meisten gilt, was Max Weber gesagt hat: „Eine Bourgeoisie ist wirtschaftlich mächtig, aber politisch verwundbar.“
Libanesen sind meist diskret. Streitigkeiten werden in der Regel außerhalb der Gerichte geregelt. Allerdings beispielsweise die Familie Tajeddine in der Demokratischen Republik Kongo sucht die Öffentlichkeit und konstruiert ihren Futur Tower im Zentrum von Kinshasa.
Wie in der Côte d’Ivoire haben sich die meisten Libanesen auch in den anderen Ländern einbürgern lassen. Anders als die Inder in Ostafrika, die sich meist in ihrem Familienclan oder auch in religiösen Gemeinschaften abschotten, haben die Libanesen durch ihre Bereitschaft zur Integration und Gleichbehandlung der Einheimischen zu einem spannungsfreien Verhältnis in den Staaten beigetragen. Sie genießen in der Regel Respekt und Anerkennung für ihren geschäftlichen Erfolg.
Zur Sicherheit auch noch einen französischen Pass
Im Senegal mussten sie nach der Unabhängigkeit (1960) ihre Staatsangehörigkeit wählen. Es war untersagt, neben der senegalesischen noch die libanesische Staatsangehörigkeit zu behalten. Einige Jahre später wurde die doppelte Staatsangehörigkeit erlaubt. Alle Libanesen, die ich bei meinen Aufenthalten in West- und Zentralafrika kennenlernte, haben (wie sie sagen, zur Sicherheit) auch noch einen französischen Pass. Um das zu rechtfertigen, gab es auch noch ein Handelshaus in Marseille.
Der Libanon hat heute etwa 4 Millionen Einwohner (verlässliche Zahlen gibt es nicht, denn seit 1932 wurde aus konfessionellen Gründen keine Volkszählung mehr durchgeführt; das libanesische Staatswesen beruht auf einem Gleichgewicht zwischen den Glaubensgemeinschaften der Christen und Muslime), aber mehr als 12 Millionen leben im Ausland, vorwiegend in Lateinamerika, USA und Australien. Zahlreiche Libanesen sind, nachdem mehrere Generationen in Afrika tätig waren, nach dem Libanon zurückgekehrt, auch weil die Erben nach dem Studium in den USA, Kanada oder Frankreich das „family business“ nicht fortführen wollen. Emigration und Rückwanderung haben im Libanon Tradition. Die meisten Libanesen haben schon im Ausland gelebt. Libanesen sind sich ihrer Wurzeln bewusst und betonen, dass ihre Vorfahren, die Phönizier, schon vor 3.000 Jahren ihre Schiffe und Kaufleute bis nach Afrika schickten, um Handel zu treiben.
Mehr und mehr reiche libanesische Familien investieren in Immobilien und – auch aus Imagegründen – in Schulen und Krankenhäuser in ihrem Heimatland. Auslandslibanesen tragen durch ihre Geldüberweisungen zur Entwicklung ihrer Heimat bei. Die Byblos Bank in Beirut hat errechnet, dass Auslandslibanesen 2017 etwa 7,1 Milliarden Dollar (13 Prozent des BIP) nach dem Libanon transferiert haben. Etwa ein Viertel der Summe soll von Libanesen aus Afrika gekommen sein.
Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe erschien im September 2018. Zwei Nachauflagen folgten 2019. Volker Seitz publiziert regelmäßig zum Thema Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika und hält Vorträge.