Kommen wir von dort, oder werden wir eines Tages dahin gelangen? Lag es in der Vergangenheit, oder kommt es noch? Ist es ein Ort oder ein Nicht-Ort – eine Utopie also? Wir sprechen gerne davon, dass wir etwas „verorten“ – ein Ausdruck, an den ich mich noch gewöhnen muss. Ich will ihn trotzdem verwenden und fragen: Können wir das Paradies verorten?
Als Kolumbus aufbrach, suchte er bekanntlich den Seeweg nach Indien. Er war sich allerdings nicht sicher, wohin ihn seine Expedition tatsächlich führen würde. Für alle Fälle hatte er den getauften Juden Rodrigo de Jerez an Bord, der Hebräisch und Aramäisch sprach. Falls er im Paradies anlanden würde, hätte er einen Dolmetscher dabei, denn er vermutete, dass eine der beiden Sprachen die Verkehrssprache im Paradies sein würde.
Als später die Missionare folgten, um die Heiden in der neuen Welt zu bekehren, brachten sie ihre Vorstellung von Paradies mit, als wäre es eine Beiladung, die sie auf ihren Schiffen eingeschleppt hatten. Es war eine Vorstellung, die von den Eingeborenen wortwörtlich so verstanden wurde, dass dieses wundersame „Land der Unsterblichkeit und der ewigen Ruhe“ ganz in der Nähe sein musste, vielleicht nur eine Tagesreise entfernt. So wird etwa von den Stämmen der Guarani und der Tupi berichtet, dass sie aufbrachen ins „Land der großen Ahnen“, als hätte ihnen jemand gesagt: „sieh, das Gute liegt so nah!“ Sie machten es den Europäern nach und suchten nun ihrerseits das Paradies.
Das Paradies ist die Kindheit
Die zu Hause gebliebenen Europäer meinten, dass die Eingeborenen schon im Paradies lebten. Sie glaubten sogar, das gelobte Land sei entdeckt worden. Die Menschen der Wildnis erschienen ihnen grundsätzlich „gut“, besser jedenfalls als die Menschen der alten Welt.
Jean-Jacques Rousseau kannte viele solcher Reiseberichte und bastelte daraus den Mythos vom bon sauvage, die Vorstellung vom „edlen Wilden“. Er brachte es auf die Formel: Alles, was aus der Hand des Schöpfers kommt, ist gut, es verdirbt in den Händen der Menschen, und er schrieb über den glücklichen Menschen, der in solch paradiesischen Verhältnissen leben konnte: „Der Mensch blieb ein Kind.“
Mit dieser Formulierung sind wir bei der folgenreichen Umorientierung, die sich daraus ableiten lässt, angekommen. Hier findet eine Übertragung vom Ort auf den Menschen statt, eine Verlagerung des Reiches der Sehnsucht ins Innerweltliche. Das Paradies wurde nicht mehr im fernen Südamerika vermutet, es lag im Menschen selber, in einer frühen Entwicklungsstufe, in der Kindheit.
Das Paradies wurde also, um die Frage, die ich oben gestellt hatte, selber zu beantworten, nicht mehr irgendwo auf dem Globus verortet – es gibt tatsächlich alte Landkarten, auf denen das Paradies eingezeichnet ist –, sondern in der Kindheit. Einen Abklatsch dieser Vorstellung finden wir im „Kinderparadies“ von einem großen Möbelkaufhaus.
Das Paradies liegt im Augenblick
Wie lange dauert die Kindheit? Kommt man – wenn man im Paradies ist, jemals wieder raus? Mark Twain hatte angekündigt, dass er nicht ins Paradies wollte, wenn er da nicht rauchen dürfte und wollte wissen, ob da ewiges Rauchverbot herrscht und ob er kurz mal zum Rauchen rausgehen kann. Das sind berechtigte Fragen.
Denn wenn die Vorstellung vom Paradies von der Landkarte in die Kindheit umgetopft wird, dann wird sie damit zugleich vom Raum in die Zeit transformiert. Hatten wir erst das Problem, den richtigen Ort auszumachen, so haben wir nun das Problem, den genauen Zeitpunkt festzulegen.
George Orwell hatte sich vorgestellt, dass im Paradies überall Papageien in Bereitschaft stehen, die ununterbrochen: „Achtung, Achtung, hier und jetzt!“ schreien – was ich ziemlich ungemütlich finde. Doch die Papageien machen es richtig: Das Paradies liegt nämlich nicht in der Unendlichkeit, sondern im Augenblick.
In einem besonderen Augenblick. In einem Augenblick, den wir den Kindern bescheren. Noch nicht. Gleich. Am Heiligen Abend. Das soll dann jedoch kein Abklatsch von einem Kinderparadies eines Möbelkaufhauses sein, vielmehr soll dann die Vorstellung vom „Paradies des Kindes“ einen Moment lang im festlichen Glanz erstrahlen. Natürlich nur mit dem richtigen Zubehör, das man rechtzeitig vorher besorgen muss. Teelichter nicht vergessen …
Den ganzen virtuellen Adventskalender mit den bereits geöffneten Türchen 1-18 finden Sie bei o-gott.com.
Noch ein Tipp: Geschichten und Gedichte zu Weihnachten von den so genannten Dienstagspropheten (das ist eine Gruppe von Literaten und Musikern – Martin Betz, Sebastian Krämer, Bernhard Lassahn und Georg Weisfeld –, die im Zebrano-Theater in Berlin am zweiten Dienstag des Monats auftreten) gibt es hier: Diesmal wird Weihnachten ein Dienstag.