Von Paul M. Seidel
Herr K. will nur in Länder reisen, in denen es politisch sauber zugeht, also nicht dorthin, wo Rechte regieren. Da muss er nun wohl Italien meiden, denn dort regiert bald eine „Postfaschistin“. Oder was ist diese Giorgia Meloni?
Unser Nachbar, Herr K., ist ein reiselustiger Mensch. Bei der Wahl seiner Reiseländer achtet er allerdings sorgfältig darauf, dass es dort politisch sauber zugeht. Länder, in denen Politiker regieren, die von der Tagesschau als „rechts“ eingestuft werden, meidet Herr K.. Polen, Ungarn, demnächst wohl Schweden – geht gar nicht. Als Joe B. in den Staaten ans Ruder kam, erklärte Herr K., jetzt könne man endlich wieder nach Amerika reisen. Besonders gern fährt Herr K. jedoch an den Gardasee. Oder soll man sagen: Fuhr?
Am Sonntag haben die Italiener ihr neues Parlament gewählt, das aus zwei Kammern besteht (schon im September 2020 war per Volksabstimmung beschlossen worden, beide Kammern abzuspecken: die Abgeordnetenkammer von 630 auf 400, den Senat von 315 auf 200 Sitze). Wie erwartet, haben Giorgia Meloni und ihre Partei Fratelli d'Italia (deutsch: Brüder Italiens) einen erdrutschartigen Triumph eingefahren und sind zur mit Abstand stärksten politischen Kraft aufgestiegen. Konnten sie bei der letzten Wahl 2018 noch magere vier Prozent verbuchen, kletterten sie jetzt auf rund 26 Prozent. Mit ihren Bündnispartnern, der Lega von Ex-Innenminister Matteo Salvini und der Forza Italia von Polit-Urgestein Silvio Berlusconi (inzwischen 85) wollen die Fratelli das neue italienische Kabinett bilden. Giorgia Meloni steht in den Startlöchern, als erste Frau Italiens in den Palazzo Chigi, den Sitz des Regierungschefs, einzuziehen.
Deutsche Regierungsfunker und -schreiber haben der 45-jährigen Parteichefin das Etikett „Postfaschistin“ aufgeklebt (was sagt eigentlich die Post dazu?). Die Berliner Zeitung Tagesspiegel nannte Meloni charmant eine „Faschisten-Hoffnung“, eine Hamburger Illustrierte machte ihr gar das Kompliment, die „gefährlichste Frau Europas“ zu sein. Wer ist die Dame wirklich?
Giorgia Meloni, Jahrgang 1977, hat süditalienisches Blut in den Adern (daher wohl ihr Temperament). Ihre Mutter stammt aus Sizilien, der Vater aus Sardinien. Letzterer, schreibt Meloni in ihrer 2021 erschienenen Autobiographie „Io sono Giorgia“ (Ich bin Giorgia), sei überzeugter Kommunist gewesen und habe sich kurz nach ihrer Geburt Richtung Kanarische Inseln aus dem Staub gemacht. Mit ihrer alleinerziehenden Mutter wächst Giorgia in Roms Arbeiterviertel Garbatella auf. Bis heute versteht und spricht sie die Sprache des einfachen Volkes.
Die jüngste Ministerin Italiens
Ihr Studium finanziert sie mit Jobs als Kellnerin und Kindermädchen. Arbeitet gelegentlich als Journalistin. Es sind die Jahre, als die einst starken italienischen Christdemokraten kollabieren und in Norditalien die Lega erstarkt, damals noch unter dem Namen Lega Nord. Meloni, die junge Römerin, sucht eine Alternative. An der Uni kommt sie in Kontakt mit der Studentenorganisation der Alleanza Nazionale (AN), der von Gianfranco Fini reformierten Nachfolgepartei des MSI (Movimento Sociale Italiano, einst gegründet von Mussolini-Anhängern), und legt eine Blitzkarriere hin. Als 2008 die AN in Berlusconis damaliges Kabinett eintreten und AN-Parteichef Fini zum Außenminister aufsteigt, wird die 31-jährige Meloni Jugend- und Sportministerin – die jüngste Ministerin in Italiens Geschichte. Später gibt es Meinungsverschiedenheiten. 2012 hebt sie ihre eigene Partei, die Fratelli d'Italia, aus der Taufe.
Meloni ist geradlinig, diese Stärke bescheinigen ihr auch ihre politischen Gegner. Nie wäre sie, wie Matteo Salvini 2018, mit den populistischen Movimento 5 Stelle (deutsch: Fünf-Sterne-Bewegung) zusammengegangen. Und anders als Salvini und Berlusconi hat sie sich auch nicht an der Draghi-Regierung beteiligt, die Fratelli blieben in der Opposition. Diese Konsequenz hat sich jetzt ausgezahlt. Dagegen wurde der vor nicht allzu langer Zeit noch viel höher gehandelte Salvini bei der aktuellen Wahl abgestraft und auf rund 9 Prozent geschrumpft. Innenminister könnte er trotzdem werden. Im Wahlkampf hat Salvini angekündigt, in Italien eine Volksabstimmung über das von der EU für 2035 geplante Diesel- und Benzinerverbot abzuhalten und die Fernsehgebühren (90 Euro/Jahr) auf den Prüfstand zu stellen.
Was ist von Georgia Meloni als Regierungschefin zu erwarten? Politische Beobachter sehen in ihr den „Typus der neuen christlichen Nationalkonservativen“ (Marco Gallina), wie sie in Polen und Ungarn bereits erfolgreich agieren. Sie selbst nennt als ihre großen Vorbilder Ronald Reagan, Johannes Paul II. und Charles de Gaulle. Wie in Frankreich möchte Meloni auch in Italien den Staatspräsidenten vom Volk wählen lassen und mit größeren Machtbefugnissen ausstatten, um das Land endlich stabiler zu machen. Wie Reagan möchte sie mit Steuersenkungen die Wirtschaft ankurbeln. Als überzeugte Transatlantikerin lässt sie keinen Zweifel an Italiens Westbindung, der Verankerung in der NATO und der Unterstützung der Ukraine im Krieg mit Russland. Um den Migrantenstrom aus Afrika zu regulieren, möchte Meloni in Libyen Asylzentren einrichten, die von der EU finanziert werden sollen.
„Das lasse ich mir nicht wegnehmen“
Gesellschaftspolitisch verkörpert Meloni vieles, was den Brüsseler Technokraten und Weltverbesserern verhasst ist: Respekt vor der abendländischen Tradition, Förderung der natürlichen Familie, Erhöhung der Geburtenziffer. Letztere ist im einst kinderfreundlichen Italien, im Land der Bambini, heute eine der niedrigsten der Welt, das Durchschnittsalter hingegen eines der höchsten weltweit. Ähnlich wie in Ungarn und Polen dürfte die neue Regierungschefin deshalb versuchen, die demografische Krise zu bekämpfen und mit Hilfe staatlicher Zuschüsse die Geburtenrate zu erhöhen. Obwohl sie selbst mit dem Vater ihrer 5-jährigen Tochter, einem italienischen TV-Journalisten, nicht verheiratet ist, glaubt Giorgia Meloni fest an den Wert der traditionellen Familie. Ein Kind habe das „Recht auf einen Vater und eine Mutter“, betont sie. 2019 rief die charismatische Rednerin auf einer Veranstaltung in Rom: „Wir werden unsere Identität verteidigen. Ich bin Giorgia. Ich bin eine Frau. Ich bin eine Mutter. Ich bin Italienerin, ich bin Christin. Das lasse ich mir nicht wegnehmen.“ Diese leidenschaftlichen Sätze sind zu ihrem Credo geworden.
Was unser Nachbar, Herr K., über diese Dinge denkt, weiß ich nicht. Es sieht aber ganz danach aus, als würde die Welt für ihn bald wieder ein Stück kleiner werden.
Nachtrag vom 30.9.2022:
Paul M. Seidel schreibt hier unter einem Pseudonym. Er ist Journalist mit Schwerpunkt Außenpolitik/Internationale Beziehungen/Reisen. Lebt in Berlin.