In der Berufung fällt die Strafe für Akif Pirinçci etwas milder aus, in den Kerker muss er nicht. Aber auch das Bonner Landgericht sieht im Blogbeitrag des Schriftstellers den Straftatbestand der Volksverhetzung als erfüllt an.
„Noch gerade!“ – Zeilenumbruch, Einrückung – „sehr gut“, schrieb mir mein Lateinlehrer vor 30 Jahren typischerweise unter die Klassenarbeiten. „Gerade noch“ vertreten könne das Gericht eine Bewährung, erfuhr der Schriftsteller Akif Pirinçci am Montag in Bonn. Richter Eugen Schwill erhebt bei diesen Worten so die Stimme, dass der Angeklagte zusammenzuckt. Das freut den Vorsitzenden Richter am Landgericht Bonn. Acht Monate auf Bewährung für Volksverhetzung anstelle von neun ohne, wie es das Bonner Amtsgericht als Vorinstanz entschieden hatte (Achgut berichtete). Obendrauf gibt es noch 3.600 Euro Geldbuße, damit der Verurteilte, wenn er jeden Monat 100 davon abstottert, sich immer daran erinnert, dass seine Äußerungen „Mist“ gewesen seien.
An nur einem Verhandlungstag statt vieren unter Amtsrichter Christian Schneider bringt der erfahrene Richter Schwill das Verfahren zu Ende. Seine Verhandlungsführung unterscheidet sich von der Schneiders wie Tag und Nacht, was die Atmosphäre im Gerichtssaal gleich viel angenehmer macht. Wirkte Schneider noch auf einige Prozessbeteiligte und -beobachter voreingenommen und teilweise überfordert, gab sich Schwill souverän, konziliant und humorig. Hatte sich Pirinçcis Anwalt Mustafa Kaplan mit Schneider noch mehrfach heftig gezofft, zeigt er sich am Montag über diesen Richter erfreut. Der revanchiert sich, indem er Kaplan als guten Verteidiger lobt, ohne den der Schriftsteller vielleicht Gefängnis ohne Bewährung aufgebrummt bekommen hätte.
Schwill übt sogar Kollegenschelte: Amtsrichter Schneider war „vielleicht auch emotional sehr eingebunden“ in das Verfahren der ersten Instanz. Dass Letzterer fälschlicherweise in seiner Urteilsbegründung u.a. – wie berichtet – behauptet hatte, Pirinçci befände sich wegen eines xenophoben Delikts auf Bewährung, konnte bei Landgerichtsrichter Schwill nicht verfangen. Denn Schwill selbst hatte auch genau dem Verfahren vorgesessen, das zur ersten – zur Bewährung ausgesetzten – Freiheitsstrafe für den zuvor immer zu Geldstrafen verurteilten Pirinçci führte. Nämlich, weil der Autor sich öffentlich bereit erklärt hatte, mit Klimaaktivistin Luisa Neubauer – also keiner Ausländerin – den Geschlechtsakt zu vollziehen, selbst wenn sie ihm dabei einen politischen Vortrag hielte.
In vino veritas
Deshalb kann sich Schwill auch noch erinnern, dass der Angeklagte damals zu seinen persönlichen Lebensverhältnissen ausführte, am Abend immer zwei Flaschen Wein zu trinken. Inzwischen begnügt er sich, wie er zu Protokoll gibt, mit anderthalb. Er möge künftig seine „Feder auch nach ein oder zwei Flaschen abends im Griff behalten“, gibt ihm der Vorsitzende Richter auf den Weg. Der changiert – gegenüber dem allerdings unwesentlich älteren Angeklagten – zwischen väterlicher Strenge und ebensolcher Güte.
Die Diskussion mit seinen beiden Schöffen, ob Pirinçci nicht doch hinter Gitter gehört, habe eine Weile gedauert. Immerhin hat dieser über seinen Anwalt eine „Mini-Entschuldigung“ (Schwill) vorgebracht, und zwar ein Bedauern an die Adresse jener, die die inkriminierten Textpassagen falsch verstanden haben. Außerdem geht der Schriftsteller ja mit dem Versuch, seine Novelle Odette zu verfilmen, einer ordentlichen Tätigkeit nach. Wie von mir schon Anfang des Jahres vorgetragen, handelt es sich auch aus Sicht des Vorsitzenden bei einer Volksverhetzung um ein etwas anderes Delikt als das, weswegen die Bewährung läuft.
Der Richter hat nach eigener Aussage schon Leute wegen „krasserer“ Äußerungen verurteilt. Er erkennt daher an, dass Pirinçci wohl kaum den „rasierten Reichsbürger mit Springerstiefeln“ aufhetzen könne, da seine Texte vom Niveau her bereits dessen Leseverständnis überstiegen. In diesem Zusammenhang sieht die dreiköpfige Spruchkammer die Tatbestandsvariante der Aufstachelung zum Rassenhass – anders als die erste Instanz und die Staatsanwaltschaft – als nicht erfüllt an. Die andere Variante, Verletzung der Menschenwürde, bleibt nach ihrer Auffassung jedoch einschlägig. Hatte Schneider noch pauschal von „Migranten“ gesprochen, die der Schriftsteller verächtlich gemacht habe, konkretisiert Schwill das in seiner mündlichen Urteilsbegründung das insofern, als er insbesondere diejenigen nennt, die 2015/16 hereingeströmt sind.
Mikroben statt Meinungsfreiheit
Der Vorsitzende räumt ein, dass der Volksverhetzungs-Paragraph (§ 130 StGB) mehr als andere Delikte an Wertungsfragen hängt, und das Merkmal, was „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“, Probleme bereitet. Bei der Begründung schwirren jedoch wieder die „Mikroben“ durch den Raum, mit denen Pirinçci angeblich Personengruppen pauschal gleichgesetzt haben soll. Aus meiner Sicht ein Missverständnis und jedenfalls nicht die einzige mögliche Lesart der Formulierung. Mündlich wird außerdem auf einen Gesamtzusammenhang verwiesen, ähnlich wie in der ersten Instanz. Laut Bundesverfassungsgericht darf man „bei mehrdeutigen Äußerungen“ niemanden verurteilen, „ohne vorher die anderen möglichen Deutungen“ – gemeint sind legale – „mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben“. Ein solcher sauberer Ausschluss ist zumindest in der mündlichen Urteilsbegründung abermals unterblieben.
Rechtsanwalt und Achgut-Autor Joachim Steinhöfel hat erst kürzlich bei Indubio beklagt, dass „die Strafrechtspflege auf der ersten Instanz sehr deutlich […] fragwürdig agiert und zu wenig von den Grundrechten weiß“. Auch in der zweiten Instanz kann man damit zu kämpfen haben. Der Schriftsteller und sein Advokat jedenfalls betrachten das alles nach wie vor als von der Meinungsfreiheit gedeckt. Kaplan plädiert dementsprechend auf Freispruch (und hilfsweise auf Bewährung), Staatsanwalt Erdinç Ünükür in seinem eher lieblos heruntergerasselten Plädoyer für die neun Monate Gefängnis aus der Vorinstanz.
Wie geht es weiter?
Bei Rechtskraft des jetzt ergangenen „Kompromiss“-Urteils könnte sich die andere, noch bis nächsten März laufende Bewährung verlängern. Wenigstens bliebe dem Schriftsteller dann die erneute Bestellung eines Bewährungshelfers erspart. Der jetzige, ein Sozialarbeiter, äußerte sich heute in der Verhandlung, und sieht genau wie sein ‚Schützling‘ wenig Nutzen in dieser Tätigkeit, da er Pirinçci nicht – wie etwa jüngere Delinquenten im Behördendschungel – nennenswert unterstützen könne.
Bis nächsten Montag kann die Staatsanwaltschaft Revision einlegen, wenn ihr das Strafmaß nicht hart genug erscheint. Dieses Rechtsmittel steht auch dem – noch nicht rechtskräftig – Verurteilten offen, wenn er einen Freispruch erreichen möchte. Pirinçcis Anwalt Kaplan, ein Triathlet, hat noch Puste. Und der Meinungsfreiheit in diesem Lande wäre ein grundlegend anderes Urteil zu wünschen.
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn.