Hand aufs Herz, so ganz geheuer waren die Japaner uns Deutschen ja noch nie. Zwar stand man im Krieg gemeinsam auf der falschen Seite, aber während man in Deutschland die eigene Vergangenheit derartig gründlich „aufarbeitete“, dass man eine turmhohe, von niemandem jemals einzuholende moralische Überlegenheit gegenüber allen anderen Nationen erwarb, gingen die Japaner ganz einfach zur Tagesordnung über.
Wirtschaftlich gesehen starteten Deutschland und Japan nach dem verlorenen Weltkrieg durch – zuerst hatte Deutschland die Nase vorn, später überholte Japan. Das gefiel den Deutschen gar nicht – verständlicherweise, schließlich betrieben die Ostasiaten unlauteren Wettbewerb, der darin bestand, härter zu arbeiten. Auch wusste man, dass die japanischen Produkte eh nur billiges Hi-Fi-Gelumpe waren, Imitationen westlicher Produkte eben. Noch in den 60er Jahren konnte der General de Gaulle den japanischen Premierminister als „Transistorverkäufer“ verhöhnen.
Später dann holten die Japaner auch technologisch auf: von nun an machten sie die besseren Produkte. Zuerst kopieren, dann verbessern, nichts anderes hatte die deutsche Industrie im 19. Jahrhundert auch getan, weshalb Deutschland von den damals führenden Engländern gezwungen wurde, das Markenzeichen „Made in Germany“ einzuführen – zuerst eine Warnung vor minderwertigen Imitaten, wurde es später zum allseits respektierten Qualitätszeichen. Die Japaner machten es genauso, nur leider mussten sie es dabei – Fanatiker, die sie nun einmal sind – gleich wieder übertreiben. Das häufigste Wort in der Katastrophenberichterstattung des Deutschlandfunks war vermutlich „technikverliebt“. „Technikverliebt“ seien sie, die Japaner, hieß es immer wieder und das ist im Lande der Gentechnikgegner alles andere als ein Kompliment.
Der japanische Technikwahn ist den Deutschen bestens vertraut. Kaum eine Woche vergeht, in der ARD oder ZDF nicht einen Bericht senden, in dem es darum geht, dass die Japaner jetzt schon Roboter als Altenpfleger einsetzten. Überhaupt, sie scheinen ein skurriles Volk zu sein: essen Algen und Seetang, geben 300 € für 200 Gramm Kobe-Beef aus und Millionen Yen für Zierkarpfen. Das weiß jeder deutsche Fernsehzuschauer. „Ach, da bringen sie schon wieder einen ‚Verrückte-Japaner-Bericht‘“, pflegt eine Bekannte von mir regelmäßig vor dem Fernseher zu sagen. Übrigens, wissen Sie, wie der japanische Premierminister heißt? Oder der Oppositionsführer? Wissen Sie überhaupt, welche Partei regiert? Japan hat 127 Millionen Einwohner und ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, dass in den Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens jemals angemessen über eine japanische Unterhauswahl berichtet worden wäre. Geht ja auch gar nicht, der Korrespondent musste stattdessen gerade auf Kosten der Gebührenzahler nach Hokkaido reisen, um einen Verrückten zu portraitieren, der neunzehneckige Kürbisse züchtet.
Nun sieht man ja, was sie von ihrer High-Tech-Sucht haben. In einer Sondersendung des Deutschlandfunks wurde – zwischen zwei Berichten über Tschernobyl – auch eine in Düsseldorf lebende Japanerin vorgeführt. Sie bekannte sich, wie man das in Schauprozessen zu tun pflegt, schuldig. Ja, auch sie habe bedenkenlos immer mehr Strom verbraucht. Nun kommt heutzutage niemand gerne ohne Elektrizität aus – als kürzlich im Bundestag für drei Stunden der Strom ausfiel, verlor selbst Jürgen Trittin die Contenance (http://bit.ly/ePixUU), aber der muss ja auch rund um die Uhr arbeiten können, um die Welt zu retten – nicht wie diese unvernünftigen Japaner, die den Strom für ihr elektronisches Spielzeug verschwenden. Immerhin, es besteht Aussicht auf Besserung: seit sie in Deutschland lebe habe sie, nach vielen Gesprächen mit deutschen Freunden, endlich begonnen, nachzudenken, sagte die japanische Dame aus Düsseldorf. Woran sollte die Welt auch genesen, wenn nicht am deutschen Wesen? Nach weiteren drei Berichten über Tschernobyl folgte dann noch eine Reportage aus dem württembergischen Neckarwestheim. Dort fand gerade zufällig eine Anti-Atomkraft-Demo statt. Ihre Freude über die Ereignisse in Fernost konnten die Teilnehmer kaum verbergen. Später dann sah ich auf Facebook den Kommentar: „Das ist die Rache der Wale.“ Der Firnis der Zivilisation ist selbst im Lande des moralischen Weltmeisters dünn.
Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/