Gerade war der internationale Tag der Frauen. Den gleichen Lohn wie die Männer zu bekommen, die Gleichstellung von Mann und Frau in Wirtschaft und Beruf ganz allgemein – alles wichtige Themen, für die wir Frauen kämpfen müssen. Nur driftet der Kampf von Frauen für Frauen heute immer öfter ins Absurde.
Manche Feministinnen sind nämlich besessen von dem Bestreben, ein möglichst frauenverachtendes Bild unserer Gesellschaft zu zeichnen. Schlimm muss es dann für sie sein, wenn sie Vorfälle beklagen, mit denen die angeblich verachteten Frauen selbst kein Problem haben.
Das Werbefoto einer Berliner Allianz-Agentur sorgte für die jüngste Sexismus-Debatte. Darauf steht der Firmenchef im Vordergrund, hinter ihm stehen seine acht Mitarbeiterinnen. Und, du liebe Güte, die Damen zeigen Bein! Sie tragen Minikleider und Highheels! Wegen dieses Fotos, das sie wahrscheinlich nächtelang wachgehalten hat, entschloss sich die prominente Publizistin Inge Bell, auf Facebook anzuklagen: Frauen könnten so auch für ein Bordell werben. Das Bild sei "sexistisch, entindividualisierend, frauenverachtend", schob sie im Spiegel nach. Im Netz stiess sie auf Zustimmung.
Sich gegen Missstände einzusetzen, ist löblich. Und ja, Sexismus existiert. Etwa, wenn eine antiquierte Firmenpolitik die Jobchancen einer Frau verhindert, der Vorgesetzte seine Stellung ausnutzt, um seiner Angestellten näherzukommen oder wenn bei der Amtseinführung von Frank-Walter Steinmeier zum neuen Bundespräsident für Damen tatsächlich ein "Minikleid" Pflicht wäre (der Aufschrei diesbezüglich hatte sich schon in die digitale Welt hinausgezwitschert, war aber rasch wieder verstummt, da es sich um ein Missverständnis handelte).
Nennen wir es den Opfergruppen-Persilschein
Das Foto, entindividualisierend? Jedes Firmenbild ist hoffentlich entindividualisierend, weil es dabei ja nicht ums Individuum, sondern die Firma geht. Das wesentliche Detail: Die Mitarbeiterinnen haben sich freiwillig und gerne in der Aufmachung präsentiert, wie sie erklärten. Ein Gedankengang, prädestiniert, die jahrzehntelang auf dem Opferstatus der Frau aufgebaute Agenda von Feministinnen über den Haufen zu werfen. Dabei haben sie uns doch so eindringlich erklärt, was uns alles schadet. Wir kapieren es einfach nicht.
Hier liegt das Problem: Wir leben in Zeiten der Spaltungen. Menschen werden nur mehr pauschal in Gruppen eingeteilt statt als Individuum behandelt. Ich bin nicht mehr Tamara Wernli, sondern Mitglied der vordefinierten Gruppe der Frauen, also bin ich gewohnheitsmässig benachteiligt, schutzbedürftig und lauerndem Sexismus ausgesetzt – auch wenn ich es nicht bin. Jede Gruppe erhält einen bestimmten Status, je nach Grad ihrer Diskriminierung: In der Hackordnung der Unterdrückten schlägt Frau Mann, ethnische Minderheit schlägt Frau, und so weiter.
Auf irgendeine Art diskriminiert zu sein, hat heute seine Vorteile: Als Mitglied einer Opfergruppe ist man berechtigt, andere zu benachteiligen und es wird einem verziehen – nennen wir es den Opfergruppen-Persilschein. Warum sonst blieb der grosse Aufschrei fast sämtlicher Frauenaktivistinnen nach der Kölner Silvesternacht gegenüber Männern und Flüchtlingen aus gewissen Kulturkreisen aus? Keinen Stich hat der weisse hetero Mann. Auch wenn er sich tadellos verhält, ihn trifft immer eine gewisse Erbschuld.
Der undifferenzierte, inflationäre Gebrauch von Buzz-Wörtern wie "sexistisch" führt den Kampf um Gleichstellung in die Bedeutungslosigkeit. Wer wegen solcherlei Firlefanz eine Sexismus-Debatte lostritt und dabei die Rhetorik und Dramatik anwendet, als hätte eine Massenvergewaltigung stattgefunden, bagatellisiert die tatsächlichen Missstände.
Uns Frauen vor jedem und allem schützen zu wollen, ist in der heutigen westlichen Gesellschaft genauso unnötig wie die Auswechslung des kritisierten Fotos, mit der die Berliner Firma schlussendlich einen Deckel über die Empörung stülpte. Diese selbstgefällig erregten Gemüter sollte man nicht ernst nehmen.
Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.