Der Streit um die Offenheit von Grenzen spaltet die westlichen Gesellschaften. Während die Globalisten „Weltoffenheit“ für den Kern der freien Weltwirtschaft und zudem einer humanistischen Ethik halten, kämpfen neue Protektionisten und Partikularisten für die Abgrenzung und Stärkung eigener Identitäten und Interessen.
Dieser neue Konflikt ist längst an die Stelle der alten Kämpfe um „linke“ Veränderung und „rechte“ Bewahrung getreten. Wenn der „kleine Mann“ immer häufiger diejenigen wählt, die ihn mit Abgrenzungen gegenüber der Weltoffenheit schützen wollen, greifen die alten Begriffe nicht mehr, sondern behindern die diskursive Suche und notwendige Analysen.
Über die Folgen der Entgrenzungen haben sich west- und osteuropäische Staaten bereits zerstritten. Auch zwischen dem alten Europa und den USA unter Donald Trump scheint das Tischtuch fast zerschnitten. Im Kern geht es um unterschiedliche Auffassungen über die Notwendigkeiten der Selbstbehauptung, vor allem gegenüber illegaler Einwanderung, gegenüber Chinas Handelspraktiken und zur militärischen Stärke.
So viele Probleme, so wenige Lösungen
Während die alte Linke die Globalisierung durch eine Art „Global Governance“ zwischen möglichst vielen Partnern ins Positive zu wenden hoffte, flüchten die Protektionisten in die Vergangenheit. Sie müssten erklären, wie sie die messbaren Vorteile der Vernetzungen einschließlich des Internationalen Rechts bewahren wollen. In der Schweiz ist seit 1995 die Summe von Im- und Exporten von 80 Prozent der Wirtschaftsleistung auf rund 120 Prozent gewachsen.
Der neue Partikularismus könnte in Nullsummenspielen, schlimmstenfalls in neuen Kriegen enden. Globale Krisen wie Masseneinwanderung, Bevölkerungsschwund und öffentliche Sicherheit wären vom Nationalstaat noch schwerer zu bewältigen als im Staatenverbund der Europäischen Union. Die vielen kleinen Staaten Europas würden zu Spielbällen außereuropäischer Großmächte. Die Brexitverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU zeigen die Ausweglosigkeit einer bloßen Antihaltung. Die italienische Regierung flieht noch mehr als ihre Vorgänger in eine astronomische Staatsverschuldung. Alte Entgrenzungen werden auf diese Weise mit neuen beantwortet.
Die Europäische Union wäre eigentlich für Mittelwege zwischen utopischem Globalismus und regressivem Partikularismus prädestiniert gewesen. Doch die wehrhafte Synthese von Offenheit und Selbstbehauptung im Kalten Krieg ist mit dem Untergang des Sowjetsystems verloren gegangen. Gegenüber neuen Herausforderungen wie dem religiösen Extremismus, transnationalem Verbrechen, Flucht und Migration scheint die Europäische Union – anders als die USA und Australien – nicht in der Lage, ja nicht einmal willens zu sein, sich selbst zu behaupten.
Werden wir von unseren eigenen Idealen gefressen?
Die nationale Souveränität wurde durch den Wegfall der Grenzen innerhalb des Schengen-Raumes verringert. Dies wäre nicht beklagenswert, wenn dies durch eine effektive Sicherung der Außengrenzen, Einhaltung des Dublin-Abkommens, gemeinsames Asylrecht und gemeinsame Einwanderungspolitik kompensiert worden wäre. Ohne diese Voraussetzungen entpuppen sich innere Entgrenzungen als zweite Schritte vor dem ersten, worüber fast alle beteiligten Regierungen ins Straucheln gerieten.
Der zunehmende Wunsch nach mehr Abgrenzung richtet sich vor allem gegen die Zuwanderung aus der islamischen Welt. Je mehr in ihr die Einheit von Religion und Politik vorangetrieben wird, desto weniger ist sie mit Säkularität und Ausdifferenzierung Europas kompatibel. Sobald der Islamismus die Toleranz der offenen Gesellschaft für die Ausbreitung seiner Absolutheitsansprüche ausnützt, wächst das Unbehagen.
In der Türkei, Malaysia und Indonesien wird Säkularität mit Hilfe der Demokratie beseitigt. Dies erlaubt angesichts der Zunahme des Islamismus in Europa keine gute Prognose. Die offene Gesellschaft müsste sich wieder zur Wehrhaftigkeit gegenüber ihren Feinden durchringen. Mit ihrer permissiven Offenheit droht sie, ansonsten von eigenen Idealen besiegt zu werden.
Die Entgrenzung der Märkte fällt auf die Europäer zurück. Der chinesische Staatskapitalismus und Wirtschaftsnationalismus hebelt den Freihandel leicht aus. Das Ziel ist kein Win-win, sondern nur das eigene Wachstum. Joint Ventures haben ihre Schuldigkeit getan. Die Gegenwehr der USA ist verständlich, aber eine Operation am offenen Herzen mit der Gefahr des Handelskrieges.
Die Wissenschaft rät: Kontrollierte Offenheit
Rationale Diskurse über die Grenzen der Grenzenlosigkeit und die Notwendigkeiten der Selbstbehauptung sind nicht länger aufschiebbar. Es wird Zeit, uns von den Diffamierungen der Politik abzuwenden und Ratschlägen von Wissenschaftlern zuzuwenden.
Die Migrationsforscher Alexander Betts und Paul Collier verlagern die Debatte über die Grenzen Europas hin zur Notwendigkeit lokaler Hilfe – mit dem Aufbau von Sonderwirtschaftszonen und massiven Investitionen, die aus Lagern neue Städte entstehen ließen. Diese wäre zugleich humaner und effizienter als die gefährlichen und alle Beteiligten überfordernden Wanderungen. Für eine gesteuerte Einwanderung müssen wir uns unangenehme Fragen stellen. Wer soll Priorität haben und zuerst kommen dürfen? Wen wollen wir nicht einreisen lassen und wie setzen wir das durch? Wie viel Platz gewährt die eigene Infrastruktur?
Dem Philosophen Julian Nida-Rümelin scheint die Aufnahme von Armutsflüchtlingen kein guter Beitrag zur Bekämpfung der Weltarmut zu sein. Aufwand und Gefahr für den Einzelnen, die Kosten der Aufnahmegesellschaft sowie die kulturellen Verluste der Migrierenden und der Zurückgebliebenen seien zu hoch. Gerade kosmopolitische und humanitäre Perspektiven sprächen gegen eine Politik der offenen Grenzen. Denn nur mit staatlichen Grenzen lasse sich das Primat des Politischen und damit auch Humanität behaupten.
Vielfalt nach innen, Gemeinsamkeit nach außen
Jenseits vom Eine-Welt-Denken und Nationalismus ginge es in internationalen Abkommen wieder um die Gegenseitigkeit von Interessen. Dafür werden sowohl handlungs- als auch kooperationsfähige Nationalstaaten gebraucht. Der Nationalstaat wurde zu früh als veraltet abgetan. Innerhalb der Europäischen Union ließen sich Supranationalität und Nationalität in föderalen Strukturen aufheben. Sie müssten aber eher nach dem Modell von locker gefügten Imperien als nach dem des einheitsgebietenden Nationalstaates strukturiert werden.
Die EU müsste den Nationen maximale Autonomie und Vielfalt gewähren und ihre Gemeinsamkeiten vor allem in der Selbstbehauptung nach außen suchen. Diese Strategie bedeutet nicht weniger als eine Umkehrung der bisherigen Prioritäten. Vielfalt nach innen und Gemeinsamkeit nach außen – dies wäre ein tragfähiges Motto für eine erneuerte Europäische Union.
Volksparteien hätten die Aufgabe, Cosmopolitans und Locals zu versöhnen. Glokale Wege zwischen Globalismus und allzu lokalem Nationalismus wären in ihrer Bedeutung vergleichbar mit denen zwischen Religion und Politik in der Säkularität und denen zwischen kapitalistischem Dschungel und sozialistischem Zoo in der Sozialen Marktwirtschaft.
Nicht autoritäre, aber autoritativere Haltungen würden die Offenheit bewahren helfen. Die Behauptung einer rechtsstaatlichen Ordnung ist nicht „rechts“, sondern eine der wichtigsten Voraussetzung von Liberalität. Solche und andere Umwandlungen von Gegensätzen in Gegenseitigkeiten erfordern aber weit offenere Diskurse, als sie bisher über die Weltoffenheit üblich waren.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Print-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 16.01.2019.
Heinz Theisen ist außerdem Autor von „Der Westen in der neuen Weltordnung“, erschienen 2017 im Kohlhammer-Verlag, Stuttgart.