Thilo Schneider / 22.09.2022 / 14:00 / Foto: Timo Raab / 37 / Seite ausdrucken

Abends in Stade beim Antrikot

Eine laue Herbstnacht im beschaulichen Stade vor den Toren Hamburgs. Vor „Renas Grill“ fallen Schüsse nach „einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Menschen“. Worum ging es bei dem Streit? Und wer stritt sich da?

Kennen Sie Stade? Falls nicht, macht das nichts, denn Stade kennt Sie auch nicht und Sie sind quitt. Und Sie haben wahrscheinlich auch Glück gehabt, dass das so ist. Aber beginnen wir am Anfang mit dem Anfang: Stade ist eine Kleinstadt mit knapp 48.000 Einwohnern und liegt irgendwo links von Hamburg, ist aber schon Niedersachsen, wenngleich das Örtchen, das im Niederdeutschen aus unerfindlichen Gründen „Stood“ genannt wurde, zur Metropolregion Hamburg gehört. Stade ist noch beschaulich, aber nicht mehr ganz so ansehnlich, das macht die Nähe zur Stadt der großen Freiheit und noch größeren Vielfalt aus. 

In Stade ist nun, wie die lokale Presse berichtet, Folgendes passiert: Bei „Renas Grill“ gab es Schüsse nach „einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Menschen“, was logisch ist, da Tiere eher selten Schusswaffen benutzen. Einer dieser Menschen wurde tödlich getroffen, der 23-Jährige (das Alter ist erstaunlich präzise bekannt) verstarb nach kurzer Reanimation im Krankenhaus. Im weiteren Verlauf der lauschigen Herbstnacht stritten sich vor einem Haus in der Nähe von „Renas Grill“ drei weitere Männer, da hat ein 28-Jähriger eine schwere Kopfverletzung davongetragen und die Polizei sammelte hinter dem besagten Haus auch noch einen 39-Jährigen mit Schussverletzungen ein. Im Haus selbst fand die Polizei dann auch noch eine Knarre, ob das die Tatwaffe ist, wird derzeit noch ermittelt. Es liegen ja genug Pistolen in der Gegend herum, da kann man das nicht sicher sagen. Jeder Offenbacher versteht das. Das Gewaltmonopol sammelte alle vier Beteiligten ein und prüft nun, inwieweit die Taten zusammenhängen könnten. Man weiß es ja nicht. 

Was wir wissen: Es gab vor „Renas Grill“ eine „Auseinandersetzung zwischen mehreren Menschen“. 

Ich gebe zu, beim ersten Lesen stellte ich mir „Renas Grill“ (das sich dankenswerterweise ohne Deppenapostroph geschrieben hat) als die Imbissbude einer barocken Schönheit mit schlecht blondierten Haaren, Mitte 50 vor, in der es ehrliche fettige Currywurst mit Schwimmbadpommes oder lecker Bratwurst auf Senfbett für Dreieurofuffzich auf die Faust gibt. Das habe ich mir aber falsch vorgestellt. Ich stellte mir ferner die Streitenden als eine Gruppe angetrunkener Sozialfälle vor, die sich gegenseitig die Welt erklären und sich beispielsweise über Habermas oder die Inflationsbekämpfungsinstrumente der Europäischen Zentralbank in die Haare bekommen haben und ein wenig eskaliert sind. Auch dies ist wahrscheinlich so nicht ganz richtig. 

Knarre mit Schalldämpfer, um die Nachbarn nicht zu stören

Eine Drei-Minuten-Tiefenrecherche im Internet ergibt, dass „Renas Grill“ ein türkisches Spezialitätenrestaurant – oder, wie wir es nennen, ein Dönerladen – mit Innensitzbereich ist, in dem es laut der wirklich üppigen Speisekarte beispielsweise „Hänchenbrustfilet mit braten Champignons Paprika und Zwiebeln Bratkartoffeln“ für charmante 16,- € oder „Rumpsteak antrikot“ für geschenkte 18,- € zu speisen gibt. 

Und vor jenem Tempel des Lukull kam es nun zu einer „Auseinandersetzung zwischen Menschen“, in deren Verlauf ominöse Schüsse fielen, die einen der Menschen schwer verletzte und einen tötete. Immerhin waren aber der oder die Schützen rücksichtsvoll genug, die Nachbarn nicht zu stören, die gefundene Waffe – wenn es denn die Tatwaffe ist – war mit einem Schalldämpfer ausgestattet. Da mutieren Messer als Argumentationshilfe plötzlich zum Billigmittel armer Schlucker. Eine Pistole mit Schalldämpfer ist da im wahrsten Sinne des Wortes schon ein anderes Kaliber. 

Nun stellen sich mir neue Fragen: Worum ging es bei dem Streit? Die Qualität des Fleisches? Die Menge der Zwiebeln in der „Garnitur“ der Nummer 47 auf der Karte? War jemand mit dem Namen der Nummer 102, der „Imam-Pfanne“ mit „pinnekerne in Joghurtsouse“ nicht einverstanden? Wurde die Auseinandersetzung vor „Renas Grill“ gar von einer Meute aufgebrachter Deutschlehrersterncheninnen vom Jägerzaun gebrochen? Wer geht eigentlich mit einer Schusswaffe abends in ein Lokal, wenn er nicht Leibwächter des Präsidenten ist? Und wo kriegt man überhaupt Schusswaffen nebst Schalldämpfern und anderem Zubehör her? Das bestellt man doch nicht bei Amazon, nachdem man die Rezensionen durchgelesen hat? Bei „Stiftung Warentest“ gibt es da auch keine anständigen Testberichte im Heft!

Opfer toxischer Männlichkeit

Und was mag, sofern die Taten zusammenhängen, die Anderen veranlasst haben, ihren Streit zwei Häuser weiter immer noch auszutragen, wenn doch einer schon mit einer Schussverletzung am Boden liegt? Welchen Zorn können Deutschlehrende eigentlich so entwickeln? Und wie viel Zorn und Chuzpe muss man eigentlich haben, um eine Schusswaffe zu benutzen und zu glauben, man käme mit der Nummer durch? Wie muss man da gestrickt sein? Wir wissen das alles nicht und ich verstehe das auch nicht. Gottlob verstehe ich das nicht!

Die wahrscheinlichste Annahme möchte ich an dieser Stelle gar nicht äußern, denn sie wäre zutiefst rassistisch und vorurteilsbeladen und würde die Lesenden hier nur verunsichern, das will ich ja auch nicht. Bleiben wir also bei dem, was wir wissen: In Stade, 47.611 Einwohner, das bereits seit der Altsteinzeit besiedelt ist und in dem es schon 650 nach Christi Geburt und 617 nach Christi Wiederauferstehung eine befestigte Siedlung gab und das nach der Plünderung durch irgendwelche vorbeifahrenden Wikinger 994 erstmals urkundlich erwähnt wurde („Ezzo kahmen abr Nortmannens zu der Stethu und namen tort gar Weypsfolk und mancheley beuthe“), gab es vor einem türkischen Spezialitätenrestaurant eine Auseinandersetzung zwischen Menschen. Von denen ein maskulin gelesener Mensch Opfer toxischer Männlichkeit wurde, der im Jahr 1999 oder 2000 geboren wurde. So weit, so schlecht, so alltäglich im besten Deutschland, in dem wir je leben durften und manchmal sogar noch dürfen. Wenn wir nicht gerade bewaffneten Deutschlehrern vor die Pistolenmündung laufen.  

(Weitere ungenaue und spekulative Artikel des Autors unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Timo Raab

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Leserpost

netiquette:

Karsten Rotgänger / 22.09.2022

Herr Schneider, lassen Sie mich raten, die Protagonisten entstammten nicht der indigen Bevölkerung….

Thomas Holzer Österreich / 22.09.2022

Herr Schneider! Meinen Sie wirklich “Deutschlehrende” oder vielleicht doch eher “Deutschlernende” ?! ;)

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