Abbrechen oder nicht abbrechen?

Aus aktuellem Anlass hier ein paar Worte zum Thema Abtreibung. Der aktuelle Anlass zeigt, dass der Ozean, der Amerika und Europa trennt und verbindet, immer tiefer wird. Also trennender.

In Deutschland hat die rotgrüngelbe Mehrheit im Parlament gerade beschlossen, das Werbeverbot für Abtreibungen aufzuheben. In Washington hat der Oberste Gerichtshof gerade das allgemeine Recht auf Abtreibung gekippt. Da ziehen zwei politische Züge fast zeitgleich in entgegengesetzte Richtungen.

Das Werbeverbot für Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, war Teil des Kompromisses, der nach langem Kulturkampf die Rechtslage im Lande festlegte. Das Recht der Amerikanerinnen auf Abtreibung war – ebenfalls nach langem Kulturkampf – Ergebnis höchstrichterlicher Entscheidungen. Im Zentrum stand die Entscheidung (Jane) Roe gegen (Henry) Wade, und die hat das jetzige Verfassungsgericht gekippt. Dort geht der Kulturkampf also heftig weiter und spitzt sich noch zu.

Anders als in Deutschland stand das Recht auf Abtreibung in den USA von Beginn an auf konstitutionell wackeligen Beinen, auch wenn diese erstaunlich lange ihre Stellung gehalten haben. Basis war eine Interpretation der über 200 Jahre alten Verfassung, die – wie sollte sie auch – kein Wort zur Abtreibung sagt. Eine Zweidrittel-Mehrheit, die die Verfassung zu diesem neuzeitlichen Thema hätte ergänzen können, kam nie zustande. Zu gespalten waren und sind Kongress und Bevölkerung.

Also entschlossen sich im Jahr 1973 die damals mehrheitlich liberalen Verfassungsrichter im Fall „Roe gegen Wade“ zu einer kreativen Interpretation der US-Verfassung. Sie fanden in dem alten Text ein Recht auf ein vom Staat zu respektierendes Privatleben. Und in dieses Recht auf Privatleben packten sie auch das Recht der Frauen hinein, über ihren Körper, also auch über ihre Schwangerschaft eigenverantwortlich zu entscheiden. 

Verfassungsrichter sind in USA auf Lebenszeit gewählt

Diese Entdeckung eines Rechts auf Privatleben in der Verfassung und das daraus resultierende Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist ein Musterbeispiel einer sehr weitgehenden, sehr aktiven Interpretation der Verfassung, wie sie die liberaleren Richter bevorzugen. Konservative Richter wiederum halten einen so freien Umgang mit den Buchstaben der Verfassung für unzulässig und plädieren auf Werktreue im Sinne der Verfassungsväter von damals. Und genau das ist jetzt geschehen.

Donald Trump hat während seiner Amtszeit drei sehr konservative Richter im Supreme Court untergebracht und freut sich jetzt als (vorläufiger?) Rentner darüber, dass seine politischen Entscheidungen auch nach seinem widerwilligen Auszug aus dem Weißen Haus noch so dramatische Nachwirkungen haben. Und die können lange anhalten. Verfassungsrichter sind auf Lebenszeit gewählt und überdauern jeden Politiker. 

Ganz nebenbei gibt es noch eine zweite Nachwirkung: Der Supreme Court hatte ein paar Tage zuvor dem Bundesstaat New York verboten, den Waffenbesitz seiner Bürger weitgehend einzuschränken. Die konservativen Richter haben auch in diesem Fall die Verfassung nahezu buchstabengetreu interpretiert und das alte Recht eines jeden Amerikaners, Waffen zu tragen, hochgehalten. Höher als das Recht der Bundesstaaten, den Waffenbesitz einzuschränken.

Auch das eine Entscheidung mit Domino-Effekt. Denn anders als im mittleren und wilderen Westen herrschen an der ganzen Nordostküste Amerikas fast europäische Verhältnisse in Sachen Waffenbesitz. Also auf dem Broadway oder in Boston konnte es bisher offiziell keinen Showdown wie am O.K. Corral geben. Das kann sich jetzt ändern.

Ein großer Sieg der Bundesstaaten

In diesem Fall hat das Oberste Gericht energischer in die Rechte der Bundesstaaten hineinregiert, als es in den USA üblich ist. Bei der Abtreibungs-Entscheidung findet genau das Gegenteil statt. „Roe gegen Wade“ war bisher für alle Staaten verbindlich. Das ist nun vorbei. Und die einzelnen Staaten können jetzt frei bestimmen, wer wo was darf beziehungsweise nicht darf.

Das ist ein großer Sieg der Bundesstaaten in dem ewigen Machtkampf zwischen der Washingtoner Zentrale und den einzelnen Staaten, die ohnehin deutlich mehr Rechte haben als unsere Bundesländer. Allerdings wird es jetzt einen bunten Rechte-Reigen geben, mit Staaten, die den Frauen weiter ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch einräumen, und den Staaten, die, unterschiedlich scharf, Abtreibungen verbieten.

Die Unterscheidung Amerikas in einen konservativen Bibelgürtel voller Abtreibungsgegner und in liberale Küstenregionen wird in dieser neuen Gesetzeslage deutlicher denn je. Darum ist es falsch, von einer Niederlage der Frauen Amerikas zu sprechen. Auch die Frauen sind in diesem Kulturkampf auf beiden Seiten anzutreffen. Seit „Roe gegen Wade“ stehen sich kämpferische Abtreibungsgegnerinnen und liberale Verfechterinnen des Rechts auf Abtreibung knallhart gegenüber. Die einen sind in lauten Jubel ausgebrochen, als der höchstrichterliche Spruch aus Washington ins Landesinnere vordrang. Die anderen sind in hellem Aufruhr, von dem man noch nicht sagen kann, wohin er führt.

Zu den Empörten gehört Joe Biden. Er hat in einem Auftritt vor den Medien eine massive Urteilsschelte vorgetragen und den betroffenen Frauen jede ihm mögliche Hilfe versprochen. Aber seine Möglichkeiten sind begrenzt. Die einzig überzeugende wäre eine Verfassungsergänzung in seinem Sinne, von der er und die entsetzten Frauen aber nur träumen können. Seine konkretestes Hilfsangebot dreht sich um den Abtreibungs-Tourismus, der nun zwischen den Bundesstaaten stattfinden wird. Er will dafür sorgen, dass den Touristinnen nach Rückkehr in ihren frommen Heimatstaat keine strafrechtlichen Folgen drohen. Wie er das machen will, hat er noch nicht gesagt.

Die Spaltung noch fester gemauert

Derweil wartet das Land auf weitere Entscheidungen des neuen buchstabengetreuen Verfassungsgerichts. Das nämlich ist – unabhängig von den Einzelentscheidungen – der andere Kulturkampf. Hier drängt sich die Bibel als Beispiel auf. Die ist zwar ein bisschen älter als die amerikanische Verfassung. Aber auch sie wirft die Frage auf: Wie wörtlich muss man die Bibelworte nehmen oder wie großzügig kann man sie interpretieren? Beides hat Licht- und Schattenseiten. Das gilt auch für eine über 200 Jahre alte Verfassung. Klebt man allzu sehr am Buchstaben, so läuft man Gefahr, das ganze Land in eine tiefe Vergangenheit zurückzuversetzen. Legt man die Buchstaben allzu frei aus, läuft man Gefahr, die Verfassung nur noch als eine freundliche, aber wenig verbindliche Empfehlung zu behandeln.

Die Gedankenübungen, die notwendig waren, um aus „Roe gegen Wade“ ein Recht auf Abtreibung zu gestalten, waren beträchtlich. Sie haben zwar vielen Amerikanerinnen fast ein halbes Jahrhundert der Rechtssicherheit beschert, aber das Land auch mehr als zuvor in Fromme und Weltliche gespalten. Die neue Rechtsprechung bringt das strittige Thema wieder näher vor Ort, zu den Menschen der einzelnen Staaten, aber sie hat die Spaltung noch fester gemauert.

Dagegen ist die Aufregung um das neue deutsche Gesetz, das Abtreibungswerbung erlaubt, eher verhalten. Ein lindes Lüftchen, gemessen am amerikanischen Orkan. Der Kulturkampf um das Kernthema, den Schwangerschaftsabbruch, ist hierzulande längst oder jedenfalls weitgehend überstanden. Dies ist kein Land der kämpferischen Frommen. Unser Bibelgürtel ist weit lockerer geschnallt, und das Gebiet der Unfrommen ist so breit, dass kein Gürtel es einschnüren kann. 

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dina weis / 27.06.2022

@M. Bauer Lassen Sie die unchristliche Mutter Teresa aus dem Spiel, die alles andere als barmherzig war. Es gibt genügend Berichte die zeigten, wie Ärzte berichten, dass die Armen und Kranken unter katastrophalen und unhygienischen Bedingungen dahinvegetierten. Ein langer Dokumentarfilm des deutschen Senders ARD dokumentiert es ausserdem eindrücklich. Sie verweigerte auch Schmerzmittel den Kranken mit der Aussage “Zu sehen, wie die Kranken ihr Schicksal ertragen, hat auch etwas ganz Wundervolles. Sie leiden damit so wie Jesus Christus am Kreuz und kommen ihm damit näher.” Zynischer und sadistischer geht es nicht mehr. Für sie selber galt das aber nicht, Mutter Teresa liess sich vor dem eigenen Tod am 5. September 1997 in den USA behandeln und das eigene Leiden mit modernsten medizinischen Therapien lindern. Eine Scheinheilige wie es im Buche steht, so eine hat gar nichts über Abtreibung zu sagen. @Sabine Heinrich Ja Sie haben recht, meist sind es wie in den USA die bigotten “Gläubigen”, die andere regelrecht ihr Glaubensbild aufdrängen und sie “abstrafen” als ob sie Gott selbst wären. Es ist eine Anmaßung, die denen nicht zusteht. Ob Impfen, Abtreibung oder beim Sterben ist eine ganz persönliche Entscheidung . Wenn man in Afrika Kinder kriegt wie die Hasen, sorry, bei dem einkalkuliert wird, dass die Hälfte wegstirbt und man(n) sich ziemlich wenig Gedanken darum macht, dann ist das alles andere als human. Im Übrigen haben Sie recht mit dem Satz “Wenn die Männer die Kinder kriegen müssten, wären wir schon längst ausgestorben!” Das merkt man schon bei den meisten, wenn sie mal den “Männerschnupfen” haben….

Ralf Pöhling / 27.06.2022

Man sieht es immer wieder: Die Amerikaner ticken gegensätzlich zu den Europäern und besonders den Deutschen. Die exakt selben Schlüsselreize führen hier und jenseits des Atlantiks zu exakt gegenteiligen Reaktionen. Das macht ein gemeinsames politisch-mediales Agieren im Sinne der Konsolidierung des Westens unglaublich schwierig.

Michael Fasse / 27.06.2022

@Hans Reinhardt, eine Frage: Ist Ihrer Meinung nach das Verbot von Mord und Vergewaltigung dann auch von „übergriffigen, armseligen Würstchen“ ausgedacht worden? Es gibt göttliche Prinzipien, AN DIE HÄLT MAN SICH. Und dazu gehört: DU SOLLST NICHT TÖTEN (2. Mose 20).

T. Merkens / 27.06.2022

Die moderne Medizin setzt eher auf den Zufallsgenerator mRNA-Spritze: falls der werdende Mensch unerwartet z. B. zwei BioNtech-Booster des Menschen mit Gebärmutter unbeschadet übersteht, sollte gleich nach der Entbindung mit dreifacher Dosis von z. B. Moderna nachbehandelt werden. Weder der gebährende noch der zu gebährende Mensch (altmodisch: Mutter und Kind) spielen dabei irgend eine Rolle - es zählt einzig das Gottesgericht der allwissenden mRNA.

Volker Kleinophorst / 27.06.2022

Gibt auch andere Achse-Autoren: ” Bernhard Lassahn. “Frau ohne Welt: Trilogie zur Rettung der Liebe” Teil 2: Der Krieg gegen das Kind” Teil 1 heißt “Der Krieg gegen den Mann”; Teil 3 “Der Krieg gegen die Zukunft”. Wer das gelesen hat, stellt fest: Die Moslems machen nicht alles falsch. Weshalb deren Frauen ja auch nur im Ausland rumplärren dürfen aber nicht daheim. Natürlich nur gegen uns. Sehr empfehlenswert. Komm mir noch mal einer mit: Die armen Frauen.

Marc Greiner / 27.06.2022

Die Entscheidung des SCOTUS ist sehr erfreulich. Ein Recht auf Tötung von ungeborenen Babys sollte es nicht geben. Sex hat Konsequenzen, immer. Darum muss man sich vorher überlegen ob man bereit ist seine Komfortzone zu verlassen im Falle eines erfreulichen Ereignisses, nämlich der Schwangerschaft. Jeder der hier schreibt und mitliest war einmal das Produkt eines solchen erfreulichen Ereignisses.

Marco Artico / 27.06.2022

Was hat das denn mit “fromm” sein oder mit der Bibel, wenn man der Meinung ist, daß jeder Mensch grundsätzlich ein Recht auf Leben haben sollte? Das Uralt-Argument mit den Vergewaltigungen geht, wie schon 100+ Mal erläutert, komplett am Thema vorbei, denn dies betrifft weit weniger als 1% der Fälle (für diese und im Falle einer Gefahr für die Gesundheit der Mutter kann es natürlich Ausnahmen geben).  Für alle anderen Fälle gilt: Das wäre endlich mal ein sinnvolles Betätigungsfeld für den Staat, der hier Geld und Programme für Mütter in Not zur Verfügung stellen sollte. Genauso schräg ist Uralt-Argument Nr. 2, Männer könnten nicht mitentscheiden, sie “sind ja nicht betroffen”. Abgesehen davon, daß verantwortungsvolle Väter sehr wohl mit im Boot sitzen, sind die meisten von uns auch keine Juden (also kein Wort zu Antisemitismus!) oder Schwarze (also kein Wort zu Antirassismus!). Ist das nicht die übliche Identitätspolitische Soße?

Christian Feider / 27.06.2022

der Supreme Court hat in der Sache GAR NICHTS entschieden,sondern die Rechtslage wieder dahin verwiesen,wohin Sie laut Verfassung gehört! Gesundheitspolitik ist Bundesstaatspolitik,nicht Bundespolitik. Nur zur Richtigstellung P.S in den USA war Abtreibung legal bis in den sechsten Monat hinein,waehrend sie bei uns nur bis zum dritten Straffrei möglich ist

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