Die Unglücksritter der Popmusik
Die Musik schien aus einem Dämmerlicht zu kommen, aus dem Reich zwischen Traum und Wirklichkeit. Schon in der inzestuösen Mischung von Orgel und Klavier lag der Reiz einer verbotenen Liebe. Denn Klavier und Orgel sind wie Bruder und Schwester – Tasteninstrumente, die sich sehr stark ähneln, aber verschiedenen Lagern angehören, sie vertragen sich nicht gut, weil sich die Frequenzbereiche mischen und zusammen einen unreinen Sound ergeben.
Die Texte waren verschlüsselt, und die Schlüssel waren gut versteckt. So konnten wir sicher sein, dass unsere Erziehungsberechtigten ausgeschlossen blieben. Hier sprachen Autoritäten zu uns, die wir uns selber ausgesucht hatten, es waren wunderbare große Brüder, wie wir sie im richtigen Leben nicht hatten, aber gerne gehabt hätten. Unsere Stars waren deutlich älter als wir, doch in der Welt der Erwachsenen waren diese Botschafter der neuen Musik noch nicht richtig anerkannt, sie waren immer noch Fremde.
Auch sie lebten im Zwielicht, sie waren von Halbstarken zu Halbgöttern aufgestiegen. Sie führten uns eine Wunderwelt vor, die keiner von uns je betreten würde. Doch wir konnten Devotionalien erwerben, konnten uns ihren Segen geben lassen, wenn wir eins ihrer Konzerte besuchten.
Es war geheimnisvoll. Man konnte immer nur Stichworte aufschnappen. Die Texte waren in einer altmodischen Kunstsprache gehalten, gewürzt mit Fachausdrücken aus der Seefahrt, Anspielungen auf Shakespeare und auf östliche Mythologie.
Obendrein war die Aussprache undeutlich; wenn da von tulips gesungen wurde, waren nicht etwa „Tulpen“ gemeint sondern two lips und unter dem Fantasienamen Luskus konnte man sich vorstellen, was man wollte: lust kiss, lost kiss oder last kiss... mit solchen Verkleidungen versuchten sie, sich dem Unaussprechlichen zu nähern wie ein Messerwerfer, der immer dann einen besonders guten Wurf gemacht hat, wenn sein Messer ganz nah an der gefesselten Frau auf der Zielscheibe steckt und zittert. Knapp vorbei ist auch daneben.
Es war ein Spiel mit Missverständnissen
Gut so. Mir konnte es nicht kompliziert genug sein, schließlich waren meine erwachenden Gefühle an der Schwelle zum erotischen Leben auch kompliziert, sehr kompliziert sogar. Ich hatte eine derart große Bereitschaft, Entdeckungsreisen ins Unbekannte anzutreten, dass ich möglicherweise selbst an Stellen etwas hineingeheimnist habe, wo es nichts zu entdecken gab, there’s nothing hidden anywhere.
Es war ein Spiel mit Missverständnissen, mit misheard lyrics, schon der Name Procol Harum enthielt einen Fehler, richtig müsste es Procul Harum heißen – procul asinus clamat, aus der Ferne ruft der Esel, hatten wir im Lateinunterricht gelernt. Schon meine Texte, die ich über Procol Harum schrieb, wurden regelmäßig von Lektoren mit großem Latinum verbessert. Aus dem zweiten o macht sie ein u. Doch der Fehler war Absicht. Man sollte sofort merken, dass sich hier niemand Mühe gab, sich verständlich zu machen. Sie wollten in allem – auch in der Schreibweise – anders sein als die anderen, fern von jenen, procul harum mit kleinem Fehler.
Ich hatte die LPs wohlweislich auf Tonband aufgenommen und durch häufiges Hören zwischen meinen Ohren gespeichert, als hätte ich da eine Musikbox, in der ich die Schätze auch dann abrufbereit hatte, wenn ich gerade nicht in Reichweite einer Steckdose war.
Das Gefühl verlassen zu werden
Die songs begleiteten mich wie ein Schatten, waren Füllstoff in den Übergangszeiten und Futter für die Halbträume. Sie gaben mir Rätsel auf: Your multilingual business friend has packed her bags and fled leaving only ash-filled ashtrays and the lipsticked unmade bed – heißt es bei ‚Homburg’.
Ich fühlte mich sofort um Jahre älter, als wüsste ich längst, wie es ist, wenn man leidenschaftlich eine Frau geliebt hat, die – wie man dann erkennen muss – nur eine „vielsprachige Geschäftsfreundin“ war, die mit gespaltener Zunge gesprochen hatte. Obendrein hatte sie volle Aschenbecher mit vielsagenden Lippenstiftspuren hinterlassen.
Mir war das alles fremd, doch das Gefühl, verlassen zu werden, glaubte ich bereits gut zu verstehen. Ich konnte es kaum erwarten, dass mir auch endlich so ein wunderbares Leiden widerfahren würde.
Besonders gut gefiel mir, dass die Turmuhr selber auf die Zeit wartete, dass sich die Zeiger rückwärts drehten andon meeting will devour (das musste ich im Wörterbuch nachschlagen: to devour = verschlingen). Die Zeiger würden sich „verschlingen“, wenn sie aufeinander zu liegen kämen in einer unerlaubten, verhängnisvollen Berührung mit sich selbst.
Dass einem unter diesen Umständen der „Mantel zu groß“ erscheint, ist völlig klar, das ist noch die einfachste Stelle im ganzen Lied, your overcoat is too long – das ist leicht zu verstehen, das kennt jeder, das ist nur noch ein weiteres Beispiel für das Gefühl, sich als kleiner zu erleben, als es einem angemessen ist.
Natürlich kannte ich das. Für mich war es der Normalzustand. Eigentlich war er das bei allen Jungs der zehnten Klasse. Wir liefen immer so rum, als würden wir Kleider unserer Väter auftragen. Uns passten die Mäntel der Welt der Großen noch nicht.
Ich wollte dringend in diese Welt aufgenommen werden mit diesem großartigen Reichtum an Unglück. Es musste eine besondere Art von Traurigkeit sein – weit mehr als die bloße Trauer über eine missglückte Affäre oder gar über eine Liebe; es musste das Gewicht der ganzen Welt sein, das man auf den Schultern tragen musste.
Warum, Mister Brooker, sind die Texte so unverständlich?
In dieser zwielichtigen Übergangszeit suchten wir nach neuen Geheimnissen, nach unerhörten Märchen, die der allgemeinen Entzauberung, die wir erlebten, entgegenwirken. Deshalb wollten wir gar nicht, dass jemand die Texte übersetzt und erläutert; wir wollten, dass sie möglichst viel Raum behalten für eigene Missverständnisse und persönliche Deutungen, damit vom Widerschein der untergehenden Sonne unserer Kindheit möglichst viel erhalten bleibt.
Ich habe ihn dennoch gefragt. Warum, Mister Brooker, sind die Texte so unverständlich? Why? Weil sie nur dann Wirkung entfalten. Sie wirken nur auf diejenigen, die bereit sich, sich darauf einzulassen. Wer will, der kann. Wer nicht will, hat immer noch die Musik. Doch für Gary Brooker stand am Anfang stets der Text, den er dann vertont hat. Es sind fast immer Texte von Keith Ried, der sogar auf einem ihrer Plattencover nach vorne gerückt ist, er steht im Vordergrund. Für Procol Harum gilt das Primat des Textes, wie es einst Christoph Willibald Ritter von Gluck für die Oper gefordert hatte: „prima le parole, poi la musica“.
Procol Harum sind, um auch mal ein Wortspiel mit kleiner Ungenauigkeit zu machen, die Gluck-Ritter der Popmusik – die Glücks-Ritter. Oder besser gesagt: die Unglücks-Ritter, die ständig von Schmerz, Untergang und Tod singen und von der Lebensreise, bei der wir nur Reisegefährten sind auf einer Strecke, die von einem Schatten zum nächsten Schatten führt, from shadow to shadow.
Schon Goethe hatte gesagt – oder war es Hape Kerkerling? –, dass Europa durch Pilger entstanden ist – durch Pilger, die zu Fuß das Christentum verbreitet und damit den europäischen Kulturraum erschaffen haben.
„Pilgrim’s Progress“ heißt das letzte Stück der LP „A Salty Dog“ aus dem Jahre 1968. Der Titel bezieht sich auf das gleichnamige Buch von John Bunyan aus dem Jahre 1678, worin ein Pilger symbolisch von der Erde zum Himmel reist, so dass der innere und zeitliche Prozess der versuchsweisen Hinwendung eines Menschen zu Gott als äußerer Vorgang der Bewegung erscheint – als Pilgerfahrt.
Den Text habe ich mehr nachempfunden als übertragen und noch mit zusätzlichen Zeilen aus „In Held Twas in I“ und „Shine on Brightly“ versehen. Es ist so gesehen überhaupt nicht mein Text, ich gebe ihn nur weiter:
Weitersagen
Hör mal kurz zu: ne einfache Geschichte,
so gut ich sie in Worte fassen kann,
und die ich ganz alleine an dich richte ...
na gut, ich fang mal ganz von vorne an.
Am Anfang war der Wunsch nach einer Reise.
Eines Tages hätte ich vielleicht
auf meine viel zu wilde Art und Weise
einen stillen Ruheplatz erreicht.
Jedoch am Ende mancher langen Leiter
hab ich kein Piratengold entdeckt.
Die Wege führten alle immer weiter,
und nirgendwo war irgendwas versteckt.
Und was ich auch mit meiner Mühe machte,
so viel hab ich immerhin gelernt:
Das Glück kam meistens anders als ich dachte,
und von Zuhause war ich weit entfernt.
Und habe ich je ein Ende angenommen,
fing alles gleich noch mal von vorne an.
War jemand mir besonders nah gekommen,
dann hab ich dem besonders weh getan.
Das kleine Lied ist mir ganz leicht gelungen;
denn alles, was ich hier verraten hab,
hat jemand anders längst schon mal gesungen.
Wir wechseln uns beim Weitersagen ab.
Den ersten Teil dieses Beitrags finden Sie hier.