Von Kristina Spohr.
Russland hat dem Westen wiederholt Verrat vorgeworfen. Haben die NATO-Partner eine verbindliche Zusage gemacht, auf eine Osterweiterung zu verzichten, um dann irgendwann eine klandestine Kehrtwende zu vollziehen?
30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion ist ein alter „Krieg der Narrative” neu entfacht: Gab es in den 1990er Jahren ein Versprechen an die Sowjetunion beziehungsweise an Russland, dass sich die NATO nicht weiter Richtung Osten ausdehnt? Inmitten erneuter Spannungen durch einen massiven russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine präsentierte Russlands Präsident Wladimir Putin im Dezember 2021 auf seiner alljährlichen Pressekonferenz weitreichende Forderungen an die USA und die NATO nach verbindlichen Sicherheitsgarantien.
Kurz danach veröffentlichte die Regierung in Moskau Entwürfe für zwei Abkommen mit dem Ziel, eine weitere Öffnung der Atlantischen Allianz nach Osten sowie die Errichtung von US-Militärstützpunkten in früheren Sowjetrepubliken, die nicht der NATO angehören, zu verhindern. Auch müsse die NATO ihre Truppen auf die Positionen von 1997 zurückziehen und die USA müssten ihr Nukleararsenal aus Westeuropa entfernen. Die NATO und die USA hatten Ende Januar jeweils schriftlich auf die Forderungen Moskaus geantwortet, wobei sie klar machten, dass es in den großen Prinzipienfragen keinen Verhandlungsspielraum gibt. Zugleich boten sie jeweils weitere Gespräche an.
Für die NATO (und die EU) gilt: Jeder Staat ist frei, seine Bündnisse selbst zu wählen. Wer mit wem verbündet ist, liegt in der souveränen Entscheidung einzelner Staaten. Das ist die Grundbedingung der europäischen Sicherheitsordnung. Die russische Absicht: ein Ausdünnen der US-amerikanischen Präsenz in Europa und eine Neuaufteilung des Kontinents in Einflusszonen. Dies weist die Allianz strikt zurück.
„Verrat von 1990“
Aus russischer Sicht liegt aber genau hier die Crux. Die europäische Sicherheitsordnung, wie sie sich seit 1992 herauskristallisiert und entwickelt hat, ist für den Kreml unter Putin nicht akzeptabel. Russland will einen cordon sanitaire, eine Pufferzone, zwischen sich und dem Westen schaffen.
Der Kreml ist nicht nur der Ansicht, dass die NATO-Erweiterung eine Bedrohung für Russland darstellt – sondern auch, dass sie im Widerspruch zu westlichen Zusicherungen steht, die Russland beziehungsweise der sowjetischen Führung 1990 im Zuge der deutschen Einheitsdiplomatie und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gegeben wurden. Die NATO habe seit dem Kalten Krieg sein Land mit „fünf Erweiterungswellen“ ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen „dreist betrogen“, behauptete Putin zuletzt im Dezember 2021.
Zur Zeit der Krim-Annexion, im März 2014, sprach er gar vom „Verrat von 1990“ – der Westen habe Russland „viele Male belogen, Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen … Das ist [auch] bei der NATO-Osterweiterung passiert“. Sieben Jahre vorher, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, hatte er beklagt: „Was wurde aus den Zusicherungen unserer westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes?“
Putins Vorgänger Boris Jelzin nannte die NATO-Osterweiterung schon 1993 „illegal“ – und bezog sich dabei auf den 2+4 Vertrag von 1990. 1997 erklärte Außenminister Jewgeni Primakow, ehemaliger Gorbatschow-Berater und Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes, dass mehrere westliche Führer „Gorbatschow gesagt hätten, dass kein einziges Land, das den Warschauer Pakt verlässt, der NATO beitreten würde“.
Haben die NATO-Partner eine verbindliche Zusage gemacht, auf eine Osterweiterung zu verzichten, um dann irgendwann eine klandestine Kehrtwende zu vollziehen?
Laut Jelzin und Putin gab es nach dem Fall der Berliner Mauer fixe Zusagen des Westens bezüglich einer territorialen Ein- oder Selbstbegrenzung der NATO. Der Kontext hierzu ergab sich aus dem Umstand, dass Deutsche und Sowjets im Zuge der deutschen Wiedervereinigung aushandeln mussten, was genau und in welchem Zeitraum mit den 380.000 Soldaten der Roten Armee, die in der (ehemaligen) DDR stationiert waren, geschehen würde, und wie die UdSSR die ihr vorbehaltenen (Alliierten-)Rechte aufgeben würde. Moskau stimmte schlussendlich sowohl dem Rückzug seiner Truppen zu als auch dem Ende seiner alliierten Kontrollrechte. Außerdem erlangte das vereinigte Deutschland seine volle Souveränität und konnte frei seine Bündniszugehörigkeit wählen: Die nun größere Bonner Republik blieb Mitglied der NATO.
„Keinen Zoll ostwärts“: Was war gemeint?
Laut Putin hatte Moskau in diesen Fragen nur nachgegeben, weil die NATO dem Kreml zugesichert habe, sich künftig „keinen Zoll ostwärts“ auszudehnen. Dieses Versprechen sei später immer wieder gebrochen worden. Dass der Westen damit durchkam, liege vor allem daran, dass es nie eine verbindliche Vereinbarung oder ein schriftliches Abkommen zu diesem Punkt gegeben hatte.
Dieser Teil der Erzählung, mit Bezug auf 1990, beruht jedoch sowohl auf einem Missverstehen der diplomatischen Prozesse auf verschiedenen Ebenen als auch auf der Missinterpretation des 2+4 Vertrags.
Bei der vielzitierten „keinen Zoll ostwärts“-Aussage vom 9. Februar 1990 handelt es sich um eine Formel des US-Außenministers Baker, und nicht (wie mitunter kolportiert) des US-Präsidenten George H. W. Bush, dem die außenpolitische Richtlinienkompetenz und Entscheidungsgewalt letztlich unterlag. Baker benutzte jenen Wortlaut in einem frühen Stadium der Sondierungsgespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, die bei der Lösungsfindung zur deutschen Frage in einer sich stetig verändernden europäischen Sicherheitsordnung helfen sollten.
Hier ging es vor allem darum, der Sowjetunion die Angst vor einem sich vergrößernden Deutschland zu nehmen, indem man zusicherte, weder integrierte NATO-Kommandostrukturen auf das „Territorium der vormaligen DDR“ zu verlegen noch NATO-Truppenstationierungen dort vorzunehmen.
Da Bakers Formulierung „keinen Zoll ostwärts“ es allerdings verunmöglicht hätte, die Sicherheitsgarantien der NATO gemäß Artikel 5 auf Gesamtdeutschland anzuwenden, schlug Bush Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief am selbigen Tag vor, künftig von einem „speziellen Militärstatus“ für die DDR zu sprechen. Dieser Wortlaut wurde am 24./25. Februar 1990 von beiden bei ihrem Treffen in Camp David bestätigt und fand auch Eingang in den späteren 2+4 Vertrag.
Die Zukunft Mittel- und Osteuropas blieb unberücksichtigt
Bei den Gesprächen im Februar 1990 ging es also nie um die Erweiterung der Mitgliedschaft der NATO, sondern einzig um die Ausdehnung der integrierten NATO-Verteidigungsstrukturen nach Ostdeutschland. Dabei ist auch zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt noch bestand und es somit gar keinen Anlass gab, sich mit der Sowjetunion über zukünftige NATO-Osterweiterungen auszutauschen oder sich gar auf mögliche territoriale Einschränkungen einzulassen.
Bei aller Unsicherheit, wie die Sowjetunion mit der deutschen Frage umging, standen im Winter/Frühjahr 1990 natürlich auch andere europäischen Sicherheitsmodelle im Raum, und hinter verschlossen Türen wurden vielerlei diplomatische Versuchsballons gegenüber Moskau gestartet, um die politischen roten Linien der sowjetischen Führungsriege in Erfahrung zu bringen.
So träumte nicht nur Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen europäischen Haus“, sondern unter anderem der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher schon lange von einer pan-europäischen, institutionalisierten KSZE-Option, die möglicherweise nun im Zuge des geopolitischen Umbruchs umgesetzt werden könnte. Dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand dagegen schwebte eine europäische Konföderation ohne die USA vor, die sich in konzentrischen Kreisen um die Kernstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) entwickeln würde.
Von den sich überschlagenden Ereignissen überholt, wurden diese Optionen aber schon bald als unrealisierbar ad acta gelegt. Anders als ursprünglich angenommen, vollzog sich die deutsche Einheit, und im Zuge dessen die Lösung der Bündnisfrage, aber viel schneller. Damit lagen sie zeitlich vor – und nicht nach – allen anvisierten europäischen Integrationsprozessen. Die damaligen Protagonisten US-Präsident Bush, der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl gaben dabei die Richtung vor: Am 12. September 1990 unterzeichneten sie das Endergebnis ihres gemeinsam ausgearbeiteten und von allen Seiten getragenen Kompromisses im 2+4 Vertrag – „über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“.
Zusammengefasst: Der Vertrag ermöglichte schlicht, dass die NATO die Sicherheitsgarantie gemäß Artikel 5 auf die ehemaligen Gebiete der DDR ausdehnte. Die Zukunft Mittel- und Osteuropas blieb dabei unberücksichtigt.
Auf das Lösen der vielen innersowjetischen Probleme fixiert
Damit erlangte das Bündnis zwar die Handlungsfähigkeit östlich der alten Trennlinie des Kalten Krieges. Doch lag diese in keinem neuen Mitgliedstaat, sondern in einer einfach vergrößerten Bundesrepublik – und auch erst nach dem vollständigen sowjetischen Truppenabzug, der auf 1994 terminiert wurde. Des Weiteren wurden erhebliche Einschränkungen beim Einsatz ausländischer NATO-Truppen und Nuklearwaffen auf ostdeutschem Boden vereinbart. Als Gegenleistung für seine Kompromissbereitschaft hatte Kohl Gorbatschow in bilateralen Gesprächen ein Geldpaket von insgesamt rund 100 Milliarden DM angeboten: als Kredite, Wirtschaftshilfe und zur Finanzierung des Abzugs der Rotarmisten.
Der 2+4 Vertrag stellte also eine friedliche Übereinkunft aller Parteien zur Lösung der deutschen Frage dar. Im Kontext der großen politischen Veränderungen von Polen bis Bulgarien agierte Gorbatschow allerdings keineswegs blauäugig. Wie er schon im Mai 1990 erklärte, war er sich, was die mögliche „Absicht einer Reihe von Vertretern osteuropäischer Staaten“ betraf, „aus dem Warschauer Pakt auszutreten“ um „anschließend der NATO beizutreten“, völlig bewusst. Dennoch gehörten diese Entwicklungen damals noch einer Zukunft an, die noch nicht scharf umrissen war, und Gorbatschow selbst war zu diesem Zeitpunkt völlig auf sein politisches Überleben und auf das Lösen der vielen innersowjetischen Probleme fixiert.
Entscheidend ist, dass der 2+4 Vertrag die NATO-Osterweiterungsfrage in keiner Form tangierte, auch nicht indirekt dadurch, dass dieser ein späteres Öffnen der Allianz nach Osten gar nicht ansprach oder gar ausdrücklich ausschloss.
Der Wendepunkt: Auflösung des Warschauer Pakts 1991
Der eigentliche Wendepunkt, der später dazu führte, dass sich die Beziehungen zwischen dem Kreml und dem Westen verschlechterten und jene Verschlechterung den „Krieg der Narrative“ heraufbeschwor, lag im Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 und in der vorausgegangenen Auflösung des Warschauer Pakts. Denn mit dem Verschwinden des Sowjetimperiums veränderten sich die sicherheitspolitischen Parameter in Europa grundsätzlich. Es entstand ein Sicherheitsvakuum im sogenannten „Zwischeneuropa“ – den Ex-Satellitenstaaten und Ex-Sowjetrepubliken zwischen Ostsee und Schwarzem Meer.
Die Tragik der russischen Situation nach Ende des Kalten Krieges war weniger dem US-amerikanischen Triumphalismus oder dem Überleben der NATO im Zentrum der neuen Sicherheitsarchitektur in Europa geschuldet als Jelzins Scheitern bei der Demokratisierung Russlands, bei den Marktwirtschaftsreformen, bei der Einführung von Recht und Ordnung und beim Versuch, eine Partnerschaft mit den USA und der NATO aufzubauen. Tatsächlich hatten sich die USA und NATO seit dem Sommer 1990 dem Osten und der UdSSR konstruktiv zugewandt und ihnen über den neuen Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) „die Hand der Freundschaft“ ausgestreckt – ein Prozess der Annäherung, der auch nach plötzlicher sowjetischer Implosion 1991, mit allen neuen unabhängigen Staaten, inklusive Russlands, beibehalten wurde.
Mit dem Moment allerdings, mit dem Russland 1993 im politischen Chaos versank und revisionistische Stimmen anfingen, Gehör zu finden, begann die aktive Suche nach Sicherheit der Zwischeneuropäer, die nun immer dringlicher den Anschluss an die westlichen Institutionen suchten. Dieser Druck von außen auf die NATO war maßgeblich für die Entwicklungen und Entscheidungsfindung um den Osterweiterungsprozess in den 1990ern und 2000ern. Zwar haben viele der damaligen US-Politiker tatsächlich das Diktum vom „Ende der Geschichte“ beherzigt, für ein immanent betriebenes Expansionsbestreben der Allianz (mit dem Ziel der „Einkreisung“ Russlands) – so wie es heute in der russischen Propaganda dargestellt wird – gibt es aber keine Belege.
„Geist des Vertrags“
In jener innen- wie außenpolitischen Defensivlage Russlands begann Jelzin 1993, den 2+4 Vertrag als Verbot der NATO-Erweiterung östlich Deutschlands auszulegen – weil der Vertrag, wie er (und später Putin) betonte, explizit nur Bündnisaktivitäten auf ostdeutschem Gebiet erlaubte. Die Nichterwähnung Osteuropas zusammen mit den festgeschriebenen Beschränkungen in Bezug auf die ehemalige DDR wurden nun also post-hoc als eine implizite westliche Absage an die Osterweiterung interpretiert. Es sei der „Geist des Vertrags“, so schrieb Jelzin dem neuen US-Präsidenten Bill Clinton im September 1993, der „die Option, das NATO-Gebiet nach Osten auszudehnen“, ausschließe.
Außenminister Jewgeni Primakow erklärte 1997, „die wahre rote Linie“ Moskaus sei, „wenn sich die Infrastruktur der NATO in Richtung Russland bewegt“. Dies sei „inakzeptabel“. Um Russland die bittere Pille ihrer Erweiterung nach Osteuropa zu versüßen, hat die NATO aber gleichzeitig mit dem Kreml die NATO-Russland-Grundakte ausgehandelt. Diese wurde am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnet – noch vor dem Madrider Erweiterungsgipfel. Auf Jelzins Forderung nach bindenden Beschränkungen für die Errichtung einer NATO-Sicherheitsinfrastruktur in neuen Mitgliedstaaten ging Bill Clinton bei ihren bilateralen Vorgesprächen in Helsinki im März erst gar nicht ein. Und auch Jelzins Versuch, ein russisches Veto gegen eine zukünftige Expansionsrunde, gerade auch in die sowjetischen Ex-Republiken „insbesondere die Ukraine“, in das Abkommen einzubringen, scheiterte.
Dass Boris Jelzin, nach allem öffentlichen Einklang vor der Weltpresse, den Inhalt der NATO-Russland-Grundakte in seiner Radioansprache an das russische Volk am 30. Mai 1997 wohlwissentlich falsch beschrieb, nämlich als „Befestigung des Versprechens der NATO, keine Atomwaffen auf den Territorien ihrer neuen Mitgliedsländer zu stationieren – weder ihre Streitkräfte in der Nähe unserer Grenzen aufzubauen […] noch Vorbereitungen für eine relevante Infrastruktur zu treffen“ – das musste in Russland das Gefühl erwecken, einer wiederholten westlichen Täuschung erlegen zu sein. Diese wissentliche Falschaussage verstetigte sich seit Ende der 1990er Jahre zu einem zentralen Propagandamotiv russischer Staatsmedien.
Die historischen Akten in Ost und West jedoch beweisen, dass solche Narrative von gebrochenen Versprechen so nicht stimmen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Dekoder.
Kristina Spohr, Jahrgang 1973, ist Professorin für Internationale Geschichte an der London School of Economics (LSE). Von 2018 bis 2020 war sie erste Inhaberin der Helmut-Schmidt-Ehrenprofessur am Henry A. Kissinger Center for Global Affairs an der SAIS-Johns Hopkins University in Washington D.C., wo sie auch weiterhin als Senior Fellow tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die internationalen Beziehungen und besonders die Geschichte Deutschlands im globalen Kontext seit 1945. Sie schrieb zahlreiche Bücher, darunter „Wendezeit – Die Neuordnung der Welt nach 1989“, das 2019 erschien.