Ahmet Refii Dener / 29.04.2025 / 16:00 / Foto: achgut.com / 14 / Seite ausdrucken

Warum aus mir nie ein Muslim wurde

Die meisten bekommen ihre Religion per Geburt übergestülpt. Ich wuchs als amtlicher Muslim auf. In Wahrheit hat der Glaube bei mir jedoch nie verfangen.

In vielen Kulturen ist Religion kein freier Entschluss – sie wird dir ins Ohr geflüstert, bevor du überhaupt sprechen kannst. Ich komme aus einer Welt, in der Glaube keine Wahl war. Und aus einer Familie, die ihn trotzdem vergessen hat. Was passiert, wenn Glaube nur noch Reflex ist? Wenn Fußabdrücke in Palästen und Barthaare in Vitrinen mehr zählen als echte Fragen? Und wenn echte Propheten heute längst verstummt sind? Dies sind ganz persönliche Gedanken über Geburt unter Vorbehalt, Märchen aus Stein und das stille Ende der Glaubensgewissheiten.

Geburt unter Vorbehalt

In der Türkei geboren zu werden bedeutet, mit einer unausgesprochenen Vorschrift aufzuwachsen: Deine Religion ist keine Wahl, sondern ein Fakt. Mit deinem ersten Atemzug wird entschieden, was du zu glauben hast. Kaum hat dein Herz zu schlagen begonnen, raunt dir ein Familienältester deinen Namen und ein kurzes Gebet ins Ohr – ein religiöser Schnellschuss, um sicherzustellen, dass du registriert bist. Deckel drauf, keine Ausweichmöglichkeit.

In meinem Fall jedoch: ein Fehler im System. Niemand in meiner Familie kümmerte sich um diese Pflicht. Religion spielte dort ungefähr die Rolle einer eingelagerten Winterjacke – vorhanden, aber ohne aktuelle Funktion. Ich wuchs auf als amtlicher Muslim, praktisch aber religiös unbeschriftet.

Lernen ohne Glauben

Religionsunterricht war Pflicht. Mohammed, der Koran, die großen Erzählungen. Meine Mitschüler nahmen sie bereitwillig auf, als seien es Naturgesetze. Ich dagegen hörte zu – und fragte mich: Warum sollte ich an etwas glauben, das weder greifbar noch sichtbar ist? Meine ersten Zweifel kamen nicht aus Trotz, sondern aus einem kindlichen Reflex: Verstehen zu wollen, bevor ich akzeptiere und Arabisch kann ich bis heute noch nicht. Auch meine damaligen Klassenkameraden nicht.

Als ich dann eines Tages im Topkapi-Palast in Istanbul stand, vor dem angeblichen Fußabdruck und dem Barthaar des Propheten Mohammed, spürte ich, dass meine Fragen richtig waren. Was für andere ein Moment religiöser Erhebung war, war für mich der Beweis, dass etwas nicht stimmte.

Fußabdrücke und andere Märchen

Der Fußabdruck war nach innen gewölbt – ein offensichtliches Zeichen aktiver Mitwirkung. Mohammed hätte seinen Fuß in feuchten Stein pressen müssen, als wäre er sich seiner späteren Bedeutung bereits sicher gewesen. Eine absurde Vorstellung. Und das Barthaar? Vielleicht echt, vielleicht von einem Menschen. Vielleicht aber auch von einer Ziege, einem Teppich oder einem Händler, der wusste, wie man Geschichten verkauft. 

Dabei kennt der Islam offiziell keine Reliquienverehrung. Ein Kult um heilige Gegenstände wäre zur Zeit Mohammeds als Götzendienst verurteilt worden – mit drakonischen Strafen. Dass diese Reliquien heute existieren, verdanken wir den Osmanen, die ab 1299 Symbole brauchten, um ihr Reich zusammenzuhalten. Nicht Glaube, sondern politische Notwendigkeit schrieb die heilige Legende fort.

Reflexe statt Überzeugung

Heute ist es nicht anders. Auch wenn ein Ex-Muslim sich zum Atheisten oder Deisten erklärt – wenn es um die große Glaubenssolidarität geht, marschieren sie wieder Seite an Seite. Bei Pro-Hamas-Demonstrationen. Bei Aufmärschen gegen Israel. Im Namen einer Zugehörigkeit, die über alle individuellen Überzeugungen hinweg besteht.

Glauben spielt dann keine Rolle mehr. Nur noch der Reflex: Wir gegen die Anderen. Nicht alle sind so. Aber sehr, sehr viele. Und wer hinsieht, wird es nicht übersehen. Die Religion, so könnte man sagen, hat sich aus dem Kopf verabschiedet – aber nicht aus dem Nervensystem.

Das stille Ende der Propheten

Noch vor zwanzig Jahren hätte man jemanden, der sich zum Propheten erklärte, umgehend in psychiatrische Behandlung geschickt. Heute? Heute zuckt man mit den Schultern. Die Welt ist voll von selbsternannten Auserwählten, Erlösern und Endzeitpropheten. Nur echte Propheten – die kommen nicht mehr.

Die göttlichen Direktleitungen sind gekappt. Was bleibt, sind alte Geschichten, politische Instrumentalisierungen – und Reflexe, die sich als Tradition tarnen. Und während die Reflexe weiterwirken, bleibt der Deckel auf dem Kopf. Nicht aus echter Überzeugung. Sondern aus Angst, Bequemlichkeit und der schieren Macht des „Immer so gewesen“.

Vielleicht müsste man einfach einmal ganz von vorn beginnen: Ohne Flüstern ins Ohr. Ohne vorgeschriebenen Glauben. Ohne Deckel. Aber wer glaubt heute noch an echte Neuanfänge?

Ahmet Refii Dener ist Türkei-Kenner, Unternehmensberater, Jugend-Coach aus Unterfranken, der gegen betreutes Denken ist und deshalb bei Achgut.com schreibt. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite und bei Instagram.

Foto: achgut.com

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Leserpost

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Hans Severin / 29.04.2025

Einen “Echten Propheten” nennt man in Indien “Guru”, jemand der der Menschen von der Dunkelheit zum Licht führen kann. Das Konzept des Meisters ist den asiatischen Ländern wie China, Japan, Indien auch heute noch “normal”. So wie man einen Schuhmachermeister dankbar annimmt, wenn man einen handgefertigten Schuh braucht oder einen Friseurmeister für einen exklusiven Haarschnitt, akzpetiert man dort, dass es (einen) Menschen geben muss, der einem den Sinn des Lebens aufzeigen kann. Im Judentum, Christentum, im Islam glaubt man nur an die Einmaligkeit eines derartigen Menschen, oder daran, das es so etwas nur in vergangenen Zeiten gab. Ein indischer Lehrer kommentierte das so: “Gab es für den Großvater von Jesus keine Erlösung? Jesus war ja noch nicht geboren.” Wie man ihn findet (so man denn Interesse hat)? Einen Tip gibt das NT: man muss mit reinem Herzen kommen, mit dem Herzen eines Kindes.

Arnd Stricker / 29.04.2025

Ich kann nur sagen, dass es mir mit dem Christentum ähnlich ging. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der missionarische Eifer in großen Teilen der christlichen Welt einer Wohlstandsverwahrlosung und Beliebigkeit gewichen ist. Ganz unabhängig vom Zustand der Religion kann ich Erzählungen, die sich irgendwie gut neben Grimm oder Andersen einreihen, nicht so richtig Ernst nehmen. Allerdings verstehe ich natürlich, dass diese Erzählungen Macht für Menschen sichern, die sie ohne diese niemals hätten. Deswegen ist Religion immer gefährlich und muss so weit wie möglich ins Private gedrängt werden. Da bin ich ganz bei Nietzsche.

Isabella Martini / 29.04.2025

Ein gut geschriebener Artikel. Trinken ihre türkischen Kollegen trotzdem noch gemeinsam Tee mit Ihnen oder wollen sie mit einem Ungläubigen möglichst wenig zu tun haben? Das würde mich wirklich interessieren. Vielleicht schreiben Sie mal gelegentlich was dazu.

L. Luhmann / 29.04.2025

Wenn die Rahmenbedingungen geändert werden, dann können Menschen sich ziemlich schnell verwandeln. Man muss nur die Jesiden fragen, was sie mit denjenigen Muselmanen erlebt haben, mit denen sie über sehr viele Generationen friedlich zusammenlebten. Kaum waren die halalen Schlächter in Sichtweite, ging das Abschlachten los. Man wollte nicht ja nicht in den Verdacht geraten, ein Ungläubiger zu sein. Friedliche Nachbarn wurden in sehr kurzer Zeit zu blutrünstigen Schlächtern. Die Jesiden haben damals geschworen, dass sie niemals mehr Muselmanen trauen werden! Lippenbekenntnisse sind billig ...

Rolf Wächter / 29.04.2025

Ich bin in der DDR vom kommunistischen Staat als Antisemit und Gottloser erzogen worden. Die Kommunisten lehnen Gott und Christentum ab. Das wäre nur religiöse Instrumentalisierung zur Ausbeutung und Unterdrückung des Volkes. Aber selber erheben sie ihre “Götter” (Marx, Lenin usw.) auf diesselben unantastbaren Sockel mit dem gleichen Ziel.

Lutz Liebezeit / 29.04.2025

Sind Türken in Wahrheit keine Muslime? - Die Frage nach dem Glauben der Türken vorm Islam hat mich schon beschäftigt. Und nicht nur mich, auch Türken bohrt es, das kann man im Internet feststellen. Nach Christi Geburt waren viele Türken zum christlichen Glauben gegangen. Den Übergang zum Islam muß ich nicht darlegen. Vorher waren sie Tengristen, mit der eigentlich typisch animistischen Weltsicht. Wikipedia: “Das höchste Ziel der Anhänger der Tengris ist, mit „allem, was unter dem Himmel ist“, also mit seiner Umwelt, im Einklang zu leben. Der Mensch steht in der Mitte der Welten und sieht seine Existenz geborgen, zwischen dem „ewigen blauen Himmel“ (Mönkh khökh Tengeri auf Mongolisch), der „Mutter Erde“ (Gazar Eje auf Mongolisch, Yer Ana auf Türkisch), die ihn stützt und ernährt, und einem Herrscher, der als „Sohn des Himmels“ gilt.” Das ist nur zusammengesucht, aber ich finde, man sollte wissen, was die Ahnen geglaubt haben. Ohne einen Glauben ist man unter Gläubigen niemand. / Das Christentum interpretiere ich anders als der Vatikan, oder die Kritiker, die behaupten, Jesus habe es nie gegeben, oder, er war völlig anders, die meisten Aussagen sind nicht von ihm, die sind angedichtet. Das stimmt alles nicht. (wir brauchen mal wieder was Christliches im Forum! ?)

Lutz Liebezeit / 29.04.2025

“Im Namen einer Zugehörigkeit, die über alle individuellen Überzeugungen hinweg besteht.” Dasselbe Zusammengehörigkeitsgefühl versucht der Vatikanstaat zu schweißen, indem er Christen “Das Volk Christi” nennt. Vielleicht war das ein Versehen, aber es klingt nun wie die berüchtigte Formel von Lenin: “Proletarier aller Länder vereinigt euch”? Wir Frauen halten ja auch immer zusammen, wir Männer gehen den Weg der Pflicht. Die Gewerkschaften fordern zur Solidarität auf, mach mit, um gemeinsamen “stark” zu sein, was bißchen nach Erpressung müffelt? Was ja auch so ist, man will mehr Geld aus den Arbeitgebern herausquetschen. Solidarität ist ja ursprünglich ein Bekenntnis aus innerer Überzeugung, deshalb wird da, wo die innere Überzeugung fehlt, Solidarität “gefordert”. Zum Beispiel für “unsere Demokratie”. Das klingt nicht nur wie eine gewaltätige Inbesitznahme fremden Eigentums und schwerem Bruch des Gesellschaftsvertrages. Auf die Gesellschafter ist eben kein Verlaß.  “Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.” Quelle: Vertrag von Lissabon; “Solidarität” wird 14 mal vom Vertrag beschworen, da beschleicht einen schon das Gefühl, als wohnte man einer schwarzen Messe bei.

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