Eines der Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates heißt: Im Zweifel für den Angeklagten. Das Vorsorgeprinzip in seiner heutigen Auslegung kehrt diesen Grundsatz um. Der gut gemeinte und vernünftige Gedanke der Vorsorge ist in ein freiheitsfeindliches Konzept verwandelt worden. Auch am heutigen Tage wird die "Prävention" beim Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten wieder als panzerbrechendes Argument herangezogen werden. Die Begründungen für einen Lockdown sind ja inzwischen schneller gewechselt worden als die Unterwäsche. Jetzt wo die Zahlen wieder sinken, müssen die vermuteten Eigenschaften auftretender Mutationen als Grund für die Rettung der Menschen vor sich selbst herhalten. Ein Argument für die Ewigkeit, denn Mutieren gehört nun mal zum Grundsatzprogramm von Viren. Nach Zero-Covid kommt dann Zero-CO2. Von der Umweltpolitik salonfähig gemacht, zeigt die Corona Politik das Vorsorgeprinzip endgültig als Schritt ins Totalitäre.
Früher gab es das Prinzip der Risiko-Abwägung: Alles kam auf den Tisch und je nach Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Schwere der Auswirkung wurde abgewogen, beschlossen und entsprechend weiter agiert. Was führt die Politik aber heute dazu, sämtliches Handeln am "Worst Case", am Super-Gau der „Millionen von Coronatoten“, auszurichten?
Schon Mitte der 1990er Jahre wurde klar, das in Deutschland – was Entscheidungsprozesse betrifft – mit dem Wegfall des „Prinzips der Risikoabwägung“ und der Einführung des „Vorsorgeprinzips“ zu rechnen ist. Achgut.com-Leser Thomas Weidner, seinerzeit in einer Arbeitsgruppe der chemischen und pharmazeutischen Industrie mit dem Thema befasst, erinnert sich: "Ab der Regierung Schroeder begann dann tatsächlich die Umstellung – man könnte grob sagen mit der Umgestaltung des Bundesgesundheitsamtes – 1994 beschlossen und um 2000 durch Pensionierung der ‚alten Garde' tatsächlich, von Lücken/Baustellen abgesehen, weitgehend abgeschlossen, in 2006 mit REACH (einer europäischen Verordnung zum Umgang mit Chemikalien) dann endgültig vollzogen. Und das ist – man erinnere sich auch an die Anti-AKW-Begründung – der Knackpunkt."
Denn das Vorsorgeprinzip sei bei weitem nicht nur Basis für die Beurteilung von Stoffen oder Technologien – sondern es diene dazu, grundsätzlich jegliche sich abzeichnende zukünftige Entwicklung, für die Regierung oder Dritte Handlungsbedarf oder Regulierungsbedarf sehen, zu beurteilen.
Das Vorsorgeprinzip lädt geradezu ein – ja verpflichtet fast dazu –, krampfhaft nach Gefahren zu suchen und diese dann als „Super-Gau“ in allen Facetten auszumalen. So wurden in Deutschland und Österreich die Atomkraftanlagen abgewürgt, so wurde Fukushima die 15 bis 20.000 Toten angelastet („hätte doch so kommen können“), so wird die kommende „Klimakatastrophe“ begründet und so kam es zu all den Maßnahmen, Corona betreffend, den teilweise irrwitzigen Zahlen deutschlandweit zu erwartender Todesfälle.
Extrem anfällig durch massenmediale Manipulation
Nicht zuletzt deshalb ist das Vorsorgeprinzip zur Krisenbewältigung so unbrauchbar, weil es extrem einfach durch massenmediale Agitation manipulierbar ist. Kurz – das Vorsorgeprinzip ist prädestiniert für Schaumschläger, die massenmedial maximale Aufmerksamkeit erzeugen wollen – aber absolut ungeeignet für Entscheidungsträger, die vor einer schwierigen Aufgabe und Entscheidung stehen, welche pragmatisch und bestmöglich geschultert werden muss: Da ist das Vorsorgeprinzip geradezu kontraproduktiv über seine Fokussierung auf den Worst Case, auf den Super-Gau.
Das Konzept des Vorsorgeprinzips wird meist auf den deutschen Philosophen Hans Jonas zurückgeführt. Bekannt wurde er mit seinem 1979 erschienen Werk „Das Prinzip Verantwortung“, mit dem er die philosophischen und ethischen Grundlagen dafür legte. Jonas befürchtete, dass neue Technologien große Risiken aufwerfen, die das langfristige Überleben der Menschheit infrage stellen könnten. Um das Leben künftiger Generationen zu sichern (die sich zwangsläufig noch nicht artikulieren können), solle der Staat stellvertretend Verantwortung übernehmen und zur Abwehr menschheitsbedrohender Gefahren schon handeln, bevor die Einschätzung der Wissenschaft völlig unumstritten sei. Hans Jonas hatte dabei Atom- oder Chemie-Katastrophen im Sinn.
Seitdem hat das Vorsorgeprinzip eine in dreifacher Hinsicht problematische Karriere hinter sich. Zum einen hat es inzwischen praktisch zu einer Umkehr der Beweislast geführt: Der Hersteller eines Produktes oder Anwender eines Verfahrens soll deren zweifelsfreie Unschädlichkeit beweisen, was faktisch unmöglich ist. Dieser Nachweis kann noch nicht einmal für ein Fahrrad oder ein Küchenmesser geführt werden. Nichts im Leben ist völlig frei von Gefahren. Der ehemalige Chef des Umweltbundesamtes, Andreas Troge (CDU), empfahl schon vor vielen Jahren aus Gründen der Vorsicht „Nichtwissen als gegen uns gerichtet zu betrachten“. Heute im Angesicht von Corona liest sich dieser Satz noch beängstigender als damals schon.
Das Gleichnis mit den Schwimmflügeln
Man stelle sich einmal vor, die Menschen der Vergangenheit hätten sich an diese Empfehlung gehalten. Erfindungen, Fortschritte und der Aufbruch ins Unbekannte wären unmöglich gewesen. Wir würden heute noch auf den Bäumen sitzen.
Inzwischen wird das Vorsorge-Prinzip überdies vollkommen einseitig angewendet: Es werden nur die Risiken betrachtet, die ein neues Verfahren mit sich bringen könnte. Nicht ins Kalkül gezogen werden hingegen jene Risiken, die durch die Anwendung des Verfahrens künftig ausgeschlossen werden. Beides muss jedoch gegeneinander abgewogen werden. Der britische Forscher Julian Morris schreibt: „Wenn das Vorsichtsprinzip allgemeine Gültigkeit fände, dann erreichte man das Gegenteil des eigentlich Wünschenswerten: Eine Zunahme der Risiken und Unsicherheiten, mit denen der Durchschnittsbürger in seinem Alltag konfrontiert ist. Indem es uns daran hindert, neue und sicherere Technologien zu nutzen, reduziert das Vorsichtsprinzip unsere Fähigkeit, auf die bestehenden Risiken angemessen zu reagieren.“ Und genau dies können wir im Moment an den Auswirkungen der Corona-Politik studieren, wo der Schaden noch nicht einmal ansatzweise bilanziert ist.
Da die grundsätzliche Durchsetzung des Vorsorgeprinzips das Leben sofort zum Stillstand bringen würde, beschränkt man sich auf willkürlich ausgesuchte ideologische Steckenpferde wie Chemikalien oder Gentechnik. So wurde in der EU Babyspielzeug aus PVC verboten, weil nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass dabei winzige Spuren von Chemikalien in den kindlichen Organismus gelangen könnten. Das gleiche gilt natürlich auch für Spielzeug aus Naturkautschuk oder Holz – aber da fragt keiner. Es wägt auch niemand die Gefahren, die durch den Gebrauch von PVC-Artikeln entstehen, gegen jene ab, die durch den Nichtgebrauch auftreten. Preisfrage: Welche Gefahr ist größer: Dass ein Kind durch wochenlanges und ununterbrochenes Herumkauen auf einem Schwimmflügel die Spur eines Weichmachers herauslösen könnte? Oder dass ein Kind durch den Verzicht auf PVC-Schwimmflügel ertrinkt? Dem entsprechend fixieren wir uns gegenwärtig vollkommen einseitig auf Corona innerhalb eines vielfältigen (und oft ebenfalls inektiösen) Krankheits-Geschehens. Krebs gibt es scheinbar nicht mehr.
In einem Memorandum zur Innovationspolitik der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung hieß es zu Anfang der Vorsorge-Manie: „Darum sind beispielsweise Vorbehalte gegen Nahrungsmittel mit gentechnisch veränderten Bestandteilen, auch wenn sie wissenschaftlich unbegründet erscheinen, zu respektieren. Der Respekt vor unterschiedlichen Identitäten und unterschiedlichen Bewertungen, insbesondere wenn sie die Lebensweisen tiefgreifend verändern, ist unerlässlich.“ Hier wurde in schlichten Worten der endgültige Abschied vom Zeitalter der Aufklärung verkündet. Alle Wissenschaft muss hinten anstehen, wenn nur Einer oder Eine laut genug schreit: „Ich habe Angst“. Im Corona-Jargon heißt das heute: "Jeder Tote ist einer zu viel".
Abergläubische und Unwissende sind leichter zu regieren
Angst fällt in der Bevölkerung auf einen fruchtbaren Boden, der in den letzten Jahrzehnten eifrig bewässert und gedüngt wurde. In einer einschlägigen Untersuchung wurde schon vor vielen Jahren festgestellt: 35 Prozent der Europäer sind vorsichtshalber der Meinung, normale Tomaten enthielten keine Gene, nur in gentechnisch veränderten lauere das Teufelszeug. Fast jeder vierte Deutsche glaubt, dass sich die Sonne um die Erde dreht (EU-Umfrage „Europäer, Wissenschaft und Technologie“). Jeder zweite glaubt, BSE sei eine Folge von Hormonen im Tierfutter. Abergläubische und Unwissende sind leichter zu regieren als aufgeklärte Bürger, dass wussten schon die Priester und Herrscher vergangener Zeiten.
Jenseits seiner Anziehungskraft für Technophobe aller Art wächst sich das Vorsorgeprinzip jedoch zu einer „juristischen Bombe“ aus, so der französische Nationalökonom Henri Lepage. Er hält die Konsequenzen für fatal, die aus der Einführung des Vorsorgeprinzips in die allgemeine Rechtssprechung hervorgehen. Die europäische Kommission hat sämtlichen Mitgliedstaaten empfohlen, das Prinzip systematisch anzuwenden. Der europäische Gerichtshof hat den Terminus beispielsweise explizit in einer Entscheidung zu gentechnisch verändertem Mais bemüht und damit anerkannt.
Das Prinzip findet auch in immer mehr internationalen Abkommen Eingang und ist auch schon in einigen Regularien der Welthandelsorganisation festgeschrieben worden. Damit eröffnet sich zunächst einmal ein Einfallstor für Protektionismus aller Art: Egal, ob es um asiatische T-Shirts oder amerikanischen Mais geht, jederzeit kann das Vorsorgeprinzip bemüht werden, um sich unliebsame Konkurrenz vom Hals zu halten.
Innerhalb der Europäischen Union mutiert es zu einem Veto-Instrument. Es genügt beispielsweise, wenn eine Minderheit von Ländern an seinen Vorbehalten gegen angeblich krankmachende Weichmacher in Kinderspielzeug festhält, um diese Produkte europaweit zu ächten. Henri Lepage schreibt: „Ein völlig unbewiesenes Gerücht allein reicht aus, um ein Produkt zu verbieten, das bisher sämtliche vorgeschriebenen Sicherheitstests erfolgreich durchlaufen hat.“ Ähnlich verhält es sich mit dem Diesel- und überhaupt dem Verbrennungsmotor. Aus dem Vorsorgeprinzip wird ein reines Verhinderungs- und Zerstörungsinstrument.
„Dann sind wir auf dem Weg in ein anderes Universum“
Noch einmal: Eines der Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaats heißt: Im Zweifel für den Angeklagten. Das Vorsorgeprinzip kehrt die Beweislast um: Im Zweifel gegen den Angeklagten. Und genau da liegt eine weitere Bombe begraben. Wer sagt denn, dass das Vorsorgeprinzip lediglich gegen Verfahren oder Produkte angewandt werden kann? Es sind viele Fälle denkbar, in denen es sich gegen Personen richtet, die Grenze ist fließend.
Wenn ein Fabrikant gegen ein Verbot eines lediglich vermutlich gefährlichen Produktes verstößt, läuft er Gefahr, hart bestraft zu werden. „Dann sind wir auf dem Weg in ein anderes Universum“, prophezeite seinerzeit Henri Lepage. Es ist damit bereits heute denkbar, dass jemand aus vorbeugenden Gründen eingesperrt wird. Mit dieser Entwicklung werde eine Grundlage der freien Gesellschaft und des Rechtsstaates ausgehöhlt. Die Zuschreibung einer Schuld wird zu etwas Künstlichem, zu einer Art willkürlicher Scheinjustiz. Man bewegt sich auf der verhängnisvollen Spur der Hexenjagd.
Das Tor zur Willkür
Auch der Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer sah die Gefahr wachsender Willkür des Staates und beklagte entsprechende Tendenzen in der Entwicklung des deutschen Strafrechts. Der Jurist sah beispielsweise im Umweltstrafrecht „Neukriminalisierungen außerhalb eines Täter-Opfer-Bereichs“ sowie eine „flächendeckende Vorfeldkriminalisierung, bevorzugt über abstrakte Gefährdungsdelikte“.
Mit dem Boom des Terrorismus bekam der Gedanke der Prävention eine weitere Drehung. Es standen plötzlich nicht mehr die möglichen Unfallrisiken einer Technologie an und für sich im Zentrum der Besorgnis, sondern eine viel unmittelbarere Gefahr: Terroristen oder Regime, die mit solchen Techniken willentlich die Menschheit bedrohen könnten. Die Proliferation von atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen könnte weiter fortgeschritten sein, als bislang angenommen.
Die Sicherheits-Doktrin der USA läuft beispielsweise darauf hinaus, bei Gefahr im Verzug auch ohne letzte Beweise präventiv in einem souveränen Land zu intervenieren. Das ist nichts anderes als lupenreines Vorsorgeprinzip, gewissermaßen Hans Jonas pur. Nur wird es, Ironie des Schicksals, jetzt von den Europäern und allen voran von deutschen Außenministern vehement abgelehnt. Sowohl Europäer als auch Amerikaner eröffnen mit ihrem jeweiligen Lieblingsthema das Tor zur Willkür, ohne die grundlegenden Probleme zu bedenken oder gar einzuhegen, die sich damit für den Rechtstaat und die Freiheit ergeben.
Eine Entwicklung, die sich im Übrigen auch schon in den Alltag der westlichen Demokratien einfrisst. Man denke nur an die zahlreichen Menschen, die – im Zweifel gegen den Angeklagten – öffentlich dazu genötigt werden, ihre Unschuld zu beweisen. Der eine oder andere mag sich an den Fall des Richters Ronald Schill erinnern, dem medial Kokainmissbrauch vorgewurfen wurde. Dem kam insofern eine besondere Dimension zu, da die Anschuldigungen von einem seinerzeitigen Richter des Bundesverfassungsgerichtes, Wolfgang Hoffmann-Riem, gemacht wurden: „Das Gerücht, Sie könnten mit Kokain in Verbindung stehen, geht schon seit längerer Zeit in der Stadt um“, schrieb der in einem offenen Brief an Schill und er verband sein Schreiben mit der Aufforderung, die „Vorwürfe zu entkräften“. So etwas von einem Repräsentanten des höchsten deutschen Gerichtes grenzte an rechtsstaatlichen Selbstmord und war eine Einladung zu weiterem munteren Halali.
Wer seine Unschuld nicht beweisen kann, hat dann einfach Pech gehabt. Und inzwischen ist der Schritt zur vorsorglichen Inhaftierung nicht mehr weit. Steven Spielbergs Film „Minority Report“ zeigt die Bestrafung eines Täters, bevor er die Tat begangen hat. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: die präventive Inhaftierung eines ganzen Landes, dessen Bewohner auf potentielle Virenüberträger reduziert werden. An die Stelle des Indubio pro reo tritt dann der Impfpass.