Stefan Frank / 30.09.2021 / 15:00 / Foto: Achgut.com / 11 / Seite ausdrucken

USA: Gerichtlich erlaubter Antisemitismus

Die antiisraelischen Demonstrationen vor der Synagoge in Michigans Universitätsstadt Ann Arbor sind laut einem US-Gericht von der Verfassung gedeckt.

Ein Berufungsgericht im US-Bundesstaat Michigan hat entschieden, dass es keine rechtliche Handhabe gebe, um juristisch gegen antisemitische Demonstrationen vorzugehen, die jeden Samstagmorgen zur Gottesdienstzeit vor der Beth Israel Synagoge in Michigans Universitätsstadt Ann Arbor stattfinden. Die Kundgebungen seien vom ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung gedeckt, der das Recht auf Meinungsfreiheit garantiert.

Im schriftlichen Urteil, das über das Internet abzurufen ist, gibt der vorsitzende Richter Sutton die Situation wieder, die zu der Klage der jüdischen Gemeinde geführt hat: Seit dem Jahr 2003 hätten „Anti-Israel-Demonstranten“ vor der Beth Israel Synagoge in Ann Arbor, Michigan, jede Woche an insgesamt über 935 Wochen zur Gottesdienstzeit demonstriert.

„Ihre Gruppe besteht üblicherweise aus sechs bis zwölf Personen, und sie tragen Schilder auf den Rasenflächen am Bürgersteig vor der Synagoge und auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Auf den Schildern stehen hetzerische Botschaften mit Aussagen wie ‚Widersetzt euch der jüdischen Macht‘, ‚Jüdische Macht korrumpiert‘, ‚Hört auf, Israel zu finanzieren‘, ‚Beendet den palästinensischen Holocaust‘ und ‚Keine Holocaust-Spielfilme mehr‘.“

„Das Haupthindernis sind die robusten Schutzmaßnahmen“

Dass sich die Aktion gegen die Gottesdienstbesucher richte, gehe daraus hervor, dass sie immer Samstagmorgens zur Zeit des Gottesdienstes stattfinde, so der Richter. „Verständlicherweise“ seien die Mitglieder der jüdischen Gemeinde „frustriert von diesem Muster“ und hätten deshalb die Demonstranten und die Stadt verklagt.

„Die Schilder, so behaupten die Gemeindeglieder, verursachen bei den Mitgliedern der Synagoge extreme emotionale Pein. Marvin Gerber zum Beispiel verzichtet manchmal auf Gottesdienste oder besuche eine andere Synagoge, um den Schildern aus dem Weg zu gehen. Dr. Miriam Brysk, eine Holocaust-Überlebende, fühlt extreme emotionale Schmerzen, wenn sie die Schilder sieht.“

Die Klage sei aber abzuweisen, ein Recht auf Abhilfe habe die Gemeinde nicht.

„Das Haupthindernis sind die robusten Schutzmaßnahmen, die der Erste Verfassungszusatz gewaltlosen Protesten in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zuspricht.“

Die Kläger hätten nicht dargelegt, dass sie am Zugang zur Synagoge gehindert worden seien oder dass der Gottesdienst gestört worden sei. Auch hätten die Demonstranten nicht das Grundstück der Gemeinde betreten, so der Richter.

„Lassen wir’s.“

Jemand, der die antisemitische „Palästina“-Demonstration mit eigenen Augen gesehen hat, ist Andrei S. Markovits. Der 72-jährige Markovits ist Professor für Soziologie und Politikwissenschaft an der University of Michigan in Ann Arbor und wurde im Lauf seines Lebens mit zahlreichen Preisen, Orden und anderen Auszeichnungen geehrt, darunter das deutsche Bundesverdienstkreuz erster Klasse (2012).

Sein Buch „Amerika, dich haßt sich’s besser: Antiamerikanismus und Antisemitismus in Westeuropa“ stieß bei seiner Veröffentlichung in Deutschland 2004 auf große Resonanz und ist ein Standardwerk zum Thema Antiamerikanismus in Westeuropa. Per E-Mail gefragt, ob er die Demonstration kennt, antwortet Markovits (auf Deutsch):

„Ich sehe das jeden Samstag beim Vorbeifahren an der Synagoge. Ich habe das buchstäblich 100-mal gesehen, ich gehe auch in diese Synagoge, besser gesagt ging vor COVID-Zeiten, nur aber zu den hohen Feiertagen, nicht am Shabbat, da ich nicht so religiös bin. Meine Frau und ich kaufen immer Gästekarten an der Beth Israel Synagoge, sind aber nicht Mitglieder. Kenne das in- und auswendig.“

Einen darüber hinausgehenden Kommentar möchte Markovits nicht geben. Auf die Frage, ob die Gesellschaft der Universitätsstadt Ann Arbor – Medien, Bürgermeister, Parteien, Kirchen, Moscheen, Gewerkschaften, Studenten und so weiter – jemals zu dem antisemitischen Dauerereignis Stellung bezogen hat, schreibt er:

„Lassen wir’s.“

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Mena-Watch.

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G. Hamsinger / 30.09.2021

Ein schönes Beispiel für den Konflikt zwischen verschiedenen Ansprüchen in einer Gesellschaft. Und so problematisch das auch in diesem speziellen Fall sein mag, im Zweifel bin ich für die Meinungsfreiheit, genauer gesagt “free speech” wie es richtig heißt, Redefreiheit. Meinungsfreiheit ist eigentlich ein unsinniger Begriff. Die Meinung ist immer frei, selbst in Deutschland und in China. Man darf sie nur nicht immer aussprechen und gerade das ist Inhalt der Redefreiheit. Sie darf nur dort ihre Grenzen finden, wo sie andere wesentliche Grundrechte berührt. Das ist immer eine Abwägungssache und abwägen können eigentlich nur weise Menschen. Ob man nun erlauben muss, dass diese Demonstration ständig an diesem bestimmten Ort stattfinden muss, tja, das ist zu entscheiden ist Sache des Gerichts. Finde ich nicht gut, aber so ist es eben.

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