Computer können mit der Verknüpfung von 0 oder 1 ziemlich abgefahrene Sachen anstellen. Obwohl das eine banal-binäre Grundlage ist. Strom oder kein Strom, ja oder nein, mehr ist da nicht. Selbst ein Dackel, selbst ein Goldfisch verfügt über mehr Vernetzungen im Hirn.
Aber das macht der Computer mit riesigen Mengen von Nullern und Einsern wieder wett, die er – bedeutend schneller, als ein Hütchenspieler seine Becher hin und her schiebt – zu Algorithmen verknüpft. Oder einfach: Menge und Masse ist ein guter Ersatz für fehlende Intelligenz.
Der Mensch ist da anders gestrickt. Sollte man meinen, denn sein Hirn weist eine erstaunliche Anzahl von Synapsen auf. Im Schnitt haben wir rund 100 Billionen (das ist 10 hoch 14) im Oberstübchen, und diese Schaltkreise, Informationstransponder, sind zudem biologisch. Was bedeutet, dass sie sich anpassen können, je nach Aufgabenstellung oder Ansprüchen des sie beherbergenden Menschen.
Besonders interessant wird das, wenn es um Gesamtbetrachtungen, Vernetzungen, Matrix-Denken und Ähnliches geht. So scheitern die meisten Computer bis heute an einfachen Aufgabestellungen wie das Reintippen von Buchstaben und Zeichen oder die Angabe, wie viele Fotos mit Ampeln es bei einer Bildauswahl gibt. Damit werden bis heute Roboter oder Bots außen vor gelassen, wenn man einen Inhalt davor schützen will, dass er ständig von diesen kleinen Programmen abgegrast wird.
Differenzierung, Graubereiche, Augenmaß ist nicht gefragt
Schön, dass wir das jetzt wissen, aber na und? Auch das ist bislang eine dem Menschen vorbehaltene Reaktion: die Verknüpfung von Informationsaufnahme, schlechter Laune und daraus resultierender Forderung beziehungsweise Frage. Gut, mit dieser Erklärung habe ich weder die Laune verbessert noch die Frage beantwortet.
Dann wollen wir mal: Vor diesem Hintergrund ist es mehr als beelendend, ist es eigentlich unerträglich, dass die meisten Menschen mit Komplexitäten überfordert sind, die nicht auf binären Entscheidungen beruhen.
Für oder gegen Trump. War die Reaktion Europas auf die Pandemie richtig oder falsch? Sollte die EU weitere 500 Milliarden verschenken oder nur leihen? Ist Angela Merkel ein Glücksfall der deutschen Politik oder die Kanzlerin des deutschen Unglücks? Ist die EU ein Friedensprojekt oder eine Fehlkonstruktion? Ist der Euro unkaputtbar oder zum Ableben verurteilt? Sind Schwarze dümmer als Weiße, und wenn ja, ist das dann rassistisch?
Differenzierung, Graubereiche, Augenmaß, trotz oder vielleicht gerade wegen eines unablässig auf uns eintrommelnden Informationsrauschen ist das nicht gefragt. Und was nicht nachgefragt wird, wird im Kapitalismus auch nicht angeboten.
Wir leben in einer zutiefst verlogenen Gemeinschaft
Nun hört man aber doch allenthalben Beschwerden über einseitige, thesenartige, vereinfachend-verblödende Berichterstattung. Auch dem Unbehagen, nur mit Sound Bites, Häppchen und Kleingehacktem abgespeist zu werden, wird Ausdruck verliehen. Der mündige Bürger wünsche da schon vertiefte Information, keine Berichterstattung mit vorgefasster Meinung. Nicht nur Relotius zeige doch, wohin das führt.
Höchste Zeit, eine weitere typisch menschliche Eigenschaft ins Feld zu führen: die Heuchelei. Der Selbstbetrug. Nicht nur Pfaffen schauen darüber hinweg, dass das Sich-Verlustieren mit Chorknaben diversen Geboten der Bibel widerspricht. Heuchelei ist nicht nur in Frömmelei versteckt. Wir leben in einer zutiefst verlogenen, heuchlerischen, sich selbst betrügenden Gemeinschaft. Ach ja, Belege bitte?
Kein Problem. Fangen wir mit etwas Offenkundigem an. Wir sind doch eigentlich alle einer Meinung, dass der Kauf von Kleidern, die von Kindern in Sklavenarbeit hergestellt werden, wobei noch durch die Verwendung von giftigen Färbemitteln und Weichmachern deren Lebenserwartung deutlich gesenkt wird, unanständig, unmoralisch, abzulehnen ist. Oder nicht? Wer hebt die Hand und sagt: Mir ist es völlig schnurz, wie mein Shirt hergestellt wurde, vor allem billig muss es sein?
Eben. Wir sind uns wohl auch einig, dass Zertifikate jeder Art zwar nicht die Gewissheit geben, dass ein Kleidungsstück unter menschenwürdigen Umständen in der Dritten Welt hergestellt wurde. Aber immerhin besser als nichts. Wir sind uns wohl auch einig, dass das gleiche für Lebensmittel oder Kosmetika gilt. Niemals würden wir zusehen, wenn Prekariatsmitglieder aus Bulgarien oder einem anderen östlichen Staat für Hungerlöhne, zusammengepfercht in Baracken, tagaus, tagein mit der gleichen Handbewegung ein Stück Fleisch vom Knochen säbeln. Weil wir ja alle wissen, dass einstellige Kilopreise anders nicht möglich wären.
Fairtrade, ein Nichts, ein ganz kleiner Nischenmarkt
Deutsche zucken verschreckt zusammen, wenn sie in der Schweiz selbst bei Aldi die Fleischpreise sehen. Ein Kilo Rindsfilet rund 70 Euro? Wahnsinn. Da greift man auch in Deutschland lieber zu Bio und Co., alleine schon, wenn man an die armen Hühner in ihren Legebatterien denkt. Ach ja? Der Umsatz in Deutschland, pro Kopf gerechnet, von Bioprodukten macht stolze 132 Euro aus. Im Jahr.
Wie steht es dann mit Fairtrade-Produkten bei Kleidung und Kosmetika? Super steht’s da, fast zwei Drittel aller Deutschen sagen in Meinungsumfragen, dass sie gerne bereit seien, mehr zu zahlen, wenn das Produkt fair hergestellt worden sei oder anständige Löhne bezahlt wurden. Deshalb zeigen Fairtrade-Textilien auch beeindruckende Wachstumszahlen. Alleine 2019 konnte der Umsatz um satte 33 Prozent zum Vorjahr gesteigert werden. Bravo.
Das muss ja einschenken, schließlich betrug der Bruttoumsatz mit Textilien und Kleidern in Deutschland alleine im Einzelhandel 65,5 Milliarden Euro im letzten Jahr. Toll, dass davon 192 Millionen für Fairtrade ausgegeben wurden. Ein Witz, ein Nichts, ein ganz, ganz kleiner Nischenmarkt. Und nein, die Schweizer sind keine besseren Menschen, weil hierzulande das Fleisch entschieden teurer ist. Ihre Ausgaben für Bio und Fairtrade bewegen sich in einem ähnlichen Rahmen.
Zu allem Elend wechselt, was falsch und richtig ist
Fehlt noch etwas? Der Mensch im Allgemeinen hat gerne klare Kante, will dafür oder dagegen sein. Dabei lügt er sich und anderen die Hucke voll, wenn es ihm in den Kram passt. Es kommt noch etwas hinzu, nach immerhin drei Jahrhunderten Aufklärung, Forschung, Naturwissenschaften, Befreiung des Denkens von religiösen Knebeln und Fesseln. Hilflos und häufig überfordert von der Komplexität der Welt, möchte der Deutsche nicht nur gerne für oder gegen etwas sein. Er hat auch gerne möglichst einfache Begründungen dafür.
Im Notfall reicht da „das ist amtlich“ oder „das ist verboten“, und der Deutsche entdeckt den Untertanen in sich, krümmt den Rücken und schickt sich drein. Diese einfachen Begründungen sind aber den staatlichen Autoritäten vorbehalten. Viel allgemeiner können daher andere, ebenfalls einfache Begründungen angewendet werden. Es ist ein cleverer Rückgriff in die finsteren Zeiten, als die katholische Kirche Europa unter dem Leichentuch von Dogmatismus, Inquisition und unfehlbarer Rechthaberei begraben hatte.
Wer zwischen richtig und falsch unterscheiden soll, hat’s manchmal schwer. Allzu häufig gibt es valable Argumente sowohl für etwas, wie auch dagegen. Zu allem Elend wechselt auch nicht allzu selten, was falsch und richtig ist. So war es lange Jahre richtig, die Taliban in Afghanistan als aufrechte Freiheitskämpfer gegen die sowjetische Besatzungsmacht zu unterstützen. Bis sie dann anfingen, die ihnen zuvor geschenkten Stinger-Raketen und anderes Militärspielzeug gegen den Westen zu verwenden. Da wurden sie flugs und in einem Schritt zu Terroristen, fundamentalistischen Wahnsinnigen, mussten nicht mehr unterstützt, sondern bekämpft werden.
Gut ist diskussionslos richtig
Das Gleiche passierte auch dem irakischen Diktator Saddam Hussein. Jahrelang war er ein gehätschelter Verbündeter des Westens, der ihn gerne und umfangreich im mörderischen Krieg gegen den Iran unterstützte. Als der dann endlich nach jahrelangem Schlachten beendet wurde, kühlte das Verhältnis deutlich ab. Als Saddam dann nicht nur etwas missverstand und Kuwait eroberte, sondern auch mit dem Gedanken spielte, den Petrodollar durch den Euro als Zahlungsmittel für irakisches Öl zu ersetzen, reichte es. Während vorher seine Giftgasangriffe auf die eigene Bevölkerung übersehen wurden, besaß er nun plötzlich Massenvernichtungswaffen, fahrbare Labors für deren Herstellung.
Aber wie werden solche Kehrtwenden, solches Orwell-artige „gerade noch Freund, jetzt schon Feind“ verkauft? Mit umfangreichen Begründungen? Ach was. Viel wichtiger ist der kirchlich-dogmatische Kniff: Wir unterscheiden nicht zwischen richtig und falsch, sondern zwischen gut und böse. Oder gut und schlecht. Wobei es sich von selbst versteht, dass böse und schlecht natürlich auch falsch ist. Gut hingegen diskussionslos richtig.
Mit Bedauern blicken aber die modernen Großinquisitoren auf ihre Brüder im Geiste im Mittelalter zurück. Die hatten es vergleichsweise einfach. Wenn jemand etwas Böses, Schlechtes und daher Falsches sagte oder machte, dann wurden ihm die Instrumente gezeigt, bei verstockten Fällen auch angewendet. Das regelte dann das Problem. Ist heute aber, außerhalb von CIA-Knästen und ihren Gegenstücken in Russland und China, nicht mehr so im Schwange.
Mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes
Ach, jemand fragt, wie denn gut von böse, richtig von falsch unterschieden werde? Na, du Dummerchen, überhaupt nicht. Es wird einfach dekretiert. Zur Leitmeinung erhoben. Statt des Rückgriffs auf göttliche Ratschlüsse und Regeln dienen heutzutage einfach Worthülsen wie „humanistisch“, „menschenfreundlich“, „aufgeschlossen“, „progressiv“, „tolerant“, „solidarisch“, „hilfsbereit“, „Menschenwürde“ und so weiter als Begründung. Im Gegensatz zu „inhuman“, „Misanthrop“, „verbohrt“, „reaktionär“, „intolerant“, „unsolidarisch“, „egoistisch“ und „menschenunwürdig“.
Das ist ja das Schöne an diesem Kniff. Man muss nur die Lufthoheit darüber erobern, was fraglos gut und richtig ist, daher vom fraglos Bösen, Schlechten und Falschen unterschieden werden kann, et voilà, wie der Franzose sagt. Etwas Drittes gibt es nicht, sagt der Nicht-Lateiner, man kann nicht blöd rumstehen, ohne immer wieder ein Zeichen zu setzen, dabei zu sein, dafür und auch dagegen, vor allem, wenn man noch dazu aufgefordert wird, „Grundwerte“ zu verteidigen, sich klar von rechtem Geschmäuß abzugrenzen, eine Linie zu ziehen. Und, besonders beliebt in Deutschland, das damit den Mangel überkompensiert, keine Verfassung zu haben: Jederzeit und immer mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, das ist ebenfalls absolut unverzichtbar.
Ja, so ist der Mensch, nicht nur in Deutschland. Daher hat er auch überall ziemlich genau die Regierung, die er verdient. Deshalb darf, soll und muss er immer wieder den Schlamassel aufräumen, das ihm die Regierenden zuvor angetan haben. Der große Hausputz nach einem verlorenen Krieg, der kleine beim Anbauen eines neuen Flügels ans deutsche Haus, den neuen Bundesländern. Und unermüdlich muss Verantwortung übernommen werden, also konkret: muss bezahlt werden. Und da Regierungen bekanntlich Geld sehr gut ausgeben können, aber eigentlich kaum Geld durch Wertschöpfung generieren, zahlt natürlich am Schluss immer der Dumme. Der deutsche Steuerzahler.
Eigentlich ein Volltrottel, wenn man’s genau nimmt. Ach, eine letzte Eigenschaft des modernen Menschen hatte ich vergessen, besonders ausgeprägt in Deutschland: Kritik geht dann gar nicht. Da ist man schnell verletzt, fühlt sich betupft und beleidigt. Wird rechthaberisch und fordert den Kritiker auf, doch vor der eigenen Türe zu kehren. Sich irgendwohin zu scheren. Denn, wie erkannte schon Kurt Tucholsky so richtig, in anderen Zeiten und in einem anderen Zusammenhang: „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.“ Ich würde wagen, hinzuzufügen, dass es inzwischen weit mehr als die Hälfte ist. Und dafür ist auch kein Witz mehr nötig.