Gerd Buurmann / 10.01.2021 / 06:20 / Foto: Pixabay / 77 / Seite ausdrucken

„Sag mir, wo du stehst, sonst klicke ich dich weg“

Menschen sind im Home Office statt in Büros, die Straßen sind leer, Familienfeierlichkeiten fallen aus, die Gaststätten und Vereinshäuser sind geschlossen, die Menschen distanzieren sich. 

Wer kennt ihn nicht, Onkel Hartmut, mit dem man sich an Weihnachten gestritten hat, weil er eine Partei gewählt hat, die so gar nicht geht; oder Tante Rita, die auf homöopathische Mittel schwört und sich auf keinen Fall impfen lassen möchte; oder Lukas, den Sohn von Robert und Adelheid, der nun ihre Tochter ist und Larissa heißt und sich darüber beschwert, dass die Hochzeitseinladungen nicht genderneutral verfasst wurden; oder Emir aus dem Büro, der Erdoğan gewählt hat, obwohl er homosexuell ist, also Emir, nicht Erdoğan; oder Nachbarin Frau Sugulle, die auf die Häuserwand „White silence = violence“ gesprüht hat oder Candace, die immer zum Stammtisch kommt und Donald Trump gut findet, obwohl sie eine PoC ist; oder Rüdiger, der Veganer ist und es Dich wissen lässt, während Du die Weihnachtsgans isst? 

Ob an Weihnachten, Pessach oder Thanksgiving, ob im Büro, in der Kneipe oder auf Familienfestlichkeiten, überall treffen wir Menschen, deren Meinungen wir nicht teilen. Manchmal gibt es Streit und Türen werden geknallt, dass die Kaffeetassen nur so wackeln. Aber am Ende sind wir doch immer gütig, denn es sind ja unsere Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, Arbeitskollegen, Nachbarinnen und Vereinsmitglieder*innen, Menschen, die wir persönlich treffen, in deren Augen wir gesehen haben.

Im Internet bilden sich Blasen und Echokammern

All dies gibt es grad nicht mehr. Die Menschen, die unser Blut manchmal zum Kochen bringen, werden uns physisch fremd. Aus Abneigung wird Hass. 

Bisher konnten wir dieses Phänomen sehr gut in den sozialen Netzwerken studieren, die oft alles andere als sozial sind. Warum ist im Internet der Ton so rau, die Umgangsformen so brutal und sind die Beleidigungen so heftig? Weil wir uns dort nicht ins Antlitz schauen, uns nicht als Wesen begegnen, deren Menschlichkeit wir spüren, weil sie in ihrer körperlichen Sterblichkeit atmend vor uns stehen, und weil wir keine Angst haben, von unserem Gegenüber eins auf die Fresse zu bekommen, wenn wir es gar zu sehr übertreiben mit unseren Beleidigungen und der Mensch, den wir verbal angegriffen haben, aus eigener Schwäche heraus zur Gewalt greift, eben, weil wir keine Ehrfurcht voreinander haben, wenn wir uns nicht gemeinsam an einem Ort befinden, wenn wir nicht die selbe Luft atmen.

Ich habe bereits im März 2020 gedacht, als der erste Lockdown ausgerufen wurde, ob es wirklich so eine gute Idee ist, den Menschen zu sagen, dass sie sich distanzieren und noch mehr im Internet miteinander kommunizieren sollen.

Im Internet bilden sich Blasen und Echokammern. Immer mehr schotten sich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, Ängsten und Erfahrungen voneinander ab und gelangen immer mehr zu der Überzeugung, dass es unendlich viele Menschen gibt, die einem persönlich an den Kragen wollen. Im Internet wird blockiert und entfreundet. 

Entfreunden ist das neue Türenknallen

All das war kein großes Problem, solange man einige der blockierten und entfreundeten Menschen noch im wirklichen Leben traf und erkannte, dass man zwar in der virtuellen Welt weiterhin keinen Kontakt zu ihnen wünscht, es aber auch keinen Grund gibt, sie im echten Leben zu hassen. So sind sie eben. Es sind ja nur Onkel Hartmut und Tante Rita, und Weihnachten ist nur einmal im Jahr.

Mit der Bekämpfung des Coronavirus und der Distanzierung ist dieses Korrektiv geschwächt. Die körperliche Auseinandersetzung mit Menschen anderer Meinungen und Haltungen findet nicht mehr statt. Was unser geistiges Immunsystem gestärkt hat, was uns respektvoll sein lässt, nämlich der Umstand, mit Menschen, deren Meinungen und Haltungen wir nicht teilen, ab und zu körperlich nahe sein zu müssen, findet nicht statt.

Heute beleidigt die eine Seite die andere Seite als „Covidioten“ und die andere Seite brüllt was von „Schlafschafen“. Einige greifen die Institutionen der politischen Willensbildung an und stürmen Gerichte und Regierungsgebäude, andere greifen die Institutionen des freien Meinungsaustausches an, rufen nach Zensur und fordern Absetzungen. Trotz Lockdowns stürmen Menschen auf die Straßen, greifen die Symbole der Kultur an, stürzen Statuen und verbrennen Bücher. Die ersten erzürnten Distanzierten greifen bereits zur Gewalt gegen Menschen, weil sie ihre Gegner nicht mehr als Menschen sehen, sondern als Feinde. So wird der Klick im Internet zum Kick auf der Straße. 

In der Blase des Internets, in der Distanz zum Nächsten als körperlichen Nächsten, im Schall der Echokammer wurde der Mensch dem Mensch ein Richter. Jeder verlangt Rechenschaft voneinander: „Sag mir, wo du stehst, sonst klicke ich dich weg.“

Eine Spaltung kann nur aufgehoben werden, indem man aufeinander zugeht. Wir aber, wir distanzieren uns. Wir haben Angst voreinander. Wir fürchten, uns anstecken zu können. Nähe kann den Tod bedeuten. Der andere ist eine Gefahr, sowohl für das körperliche als auch für das geistige Wohlbefinden. 

Das sind die Nebenwirkungen der momentanen Therapie. Sie sind schwerwiegend.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Gerd Buurmanns Blog Tapfer im Nirgendwo.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Paul Greenwood / 10.01.2021

Das ist ein Fehler der Politik. Wenn Europa - vielleicht EU - Server mit Meinungsfreiheit aufgebaut hatte - oder Ideenaustauschmarkplatz ermöglicht - dann ware diese US-Giganten mit Daten der Europäer nicht in der Lage schalten und walten zu können. Aber mit Facebook (USA) und Kontakte (Russland) und RenRen (China) hat Europa nichts anzubieten. Die EU hat die Zukunft verpasst - ob Medikamenten, PPE, Elektrofahrzeuge, Laptops, Chip-Herstellung, Software Entwicklung auf Linux-Basis (Apple/Google) - Alles ignoriert und um Windmühlen und Vorschriften zugunsten Asien Europa als Innovationsfriedhof verurteilt. Meinungsfreiheit ist durch Gleichschaltung insbesondere - aber nicht ausschließlich in Deutschland - vertrieben worden und Menschen in DDR-Isolation durch Zersetzungstaktiken - versetzt. Der Söder in Bayern denkt dies voranzutreiben und als Mann der dunklen Vergangenheit aus der Bierhalle nach Berlin zu gelangen.

M. Sachse / 10.01.2021

“Menschen sind im Home Office statt in Büros…”. Ib Berlin und Umgebung findet man sie zuhauf auf Fahrrädern die “neue Freizeit” genießend. Nur wird sich die fehlende Arbeitsleistung schon schnell zum wirtschaftlichen Desaster auswachsen

Andreas Rühl / 10.01.2021

Ich war im Jahre 1999 (!) an der Gründung einer virtuellen Spiele-“Gemeinde” beteiligt. Um was es ging, ist nicht wichtig, wichtig ist nur, dass es ein Spiel war, das erhebliches zwischenmenschliches Konfliktpotential in sich trug. Nach wenigen Monaten, ja Wochen, war fuer mich klar, dass wir zum einen nur sogenannte realnames zulassen (und keine nicknames, was übrigens einem Herrn kurzzeitig einen Bann einbrachte, den alle Welt nur als Smudo kennt) und zum anderen mindestens jährlich ein treffen veranstalten muessen. Der Effekt gerade der Treffen war gigantisch. Wo vorher Menschen sich in Forumsbeiträgen mit Gift und Galle bespritzt hatten, vermenschlichte sich der diskurs Auge in Auge sofort, aus feinden wurden Freunde. Die Gefahren waren also schon immer da und die Methode zu ihrer Bekämpfung auch. Ich denke, dass auch ein Videochat da Abhilfe schaffen kann. Vor dem Hintergrund ist die Maske eine Katastrophe. Wird der Karneval zum Dauerzustand erlischt die Zivilisation, Hass und Gewalt werden zunehmen.

Markus Kranz / 10.01.2021

Trump sollte einfach ein eigenes social network gruenden. Er koennte damit steinreich werden. Er hatte 80 mio follower auf Twitter, de facto koennte er ueber Nacht Twitter and und Facebook den Rang ablaufen

Frances Johnson / 10.01.2021

Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit. Übersetzung: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist. Kurz: Homo homini lupus est. Von Titus Maccius Plautus, erst richtig bekannt geworden durch Thomas Hobbes. Die Regierung lässt es vorleben und ist dabei selbst Lupus. Und das Netz lupusiert sich. Lauter Wölfe unter sich.

Wilfried Cremer / 10.01.2021

Schönen Sonntag Herr Buurmann, ein weiterer Effekt: Leute geben Ehrenämter auf aus Angst sich anzustecken. Eine große Assozialisierung findet statt.

Helge Lange / 10.01.2021

Wir leben mittlerweile in einem Regime, in dem systematisch und mit sehr viel Geld und psychologischer Expertise das Schlechteste in den Menschen gefördert wird: Dummheit, irrationale Ängste, Bosheit, Bigotterie und Denunziantentum. Und mit so viel Aufwand gedeiht schließlich kaum noch irgendetwas anderes.

Karsten Dörre / 10.01.2021

@Peter Ackermann, stellen Sie sich vor, Ihr Heim und alle anderen Häuser und Wohnungen an dem Ort, wo Sie wohnen, werden angegriffen. Was wird effektiver sein, “ich verteidige” oder “wir verteidigen”? Vielleicht haben Sie Glück, Ihr Heim ein Tag länger zu verteidigen, als die anderen Einzelverteidiger. Eine Vordiskussion, ob “ich” in der sprachlichen Verteidigungsvorbereitung wirksamer sei als “wir”, erinnert an den Film “Das Leben des Brian” aus dem Jahr 1979, wo bei einem Resolutionsentwurf umfangreich um inhaltslose Gendergerechtigkeit gestritten wurde und letztlich nichts herauskam. Die exzessive Ich-Bezogenheit zerstört die (unsere) Freiheit, in der jede individuelle Freiheit inbegriffen ist, Schutz genießt und erfolgreich verteidigt wird. Selbstverständlich verteidige ich meine Individualität gegen jede Vereinnahmung (erfolgreich u.a. bei meiner damaligen Schwiegermutter). Am Wörtchen “wir” in Texten störe ich mich nicht, weil ich den Text inhaltlich lese. Ob ich mich dann zum “wir” zugehörig fühle, entscheide ich beim Erfassen des Inhalts. So ist z.B. eine private Unterhaltung mit einer Person für mich kein Problem, wenn diese die eigenen Gefühle mit “du” oder “man” beschreibt.

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