Wie bei Mao Zedongs Irrweg zwischen 1966 und 1976 fühlen sich heute junge „Rotgardisten“ aus ideologischen Gründen dazu berufen, mit alten Gewiss- und Gewohnheiten aufzuräumen.
In meinem letztwöchigen Text hatte ich den Parteienstaat als eine demokratie- und verfassungsfremde Unwucht beschrieben. In Deutschland ist ein bereits vollzogener, unumkehrbarer Strukturwandel von einem liberal-repräsentativen Parlamentarismus zu einem deformierten Staatsgebilde aus parteipolitischen Einflusszonen festzustellen. Die etablierten Parteien haben die Gewaltenteilung „unterwandert“ und mit dieser verfassungsrechtlich katastrophalen Vereinnahmung das ausgewogene Kräfteverhältnis im Staat gestört, das als System der Machtkontrolle und austarierten Verhältnisse gedacht war und jede Form von Ermächtigung und politischer Gleichschaltung eigentlich verhindern sollte.
Die deutsche Demokratie hat seit einigen Jahren also Schlagseite, da Selbstverständlichkeiten nicht mehr gewährleistet sind. Eine selbstständige parlamentarische Willensbildung ist nicht mehr möglich, weil auch die Autorität des Parlaments massiv geschwächt wurde, das nahezu abseits seiner öffentlichen Konstitution und Aufgabenstellung von Parteigremien, Ausschüssen und Konferenzen – zum Beispiel der zu Corona-Zeiten einberufenen Ministerpräsidenten-Konferenz – zum demokratischen Feigenblatt verkommen ist, in dem „Beschlussvorlagen“ und Gesetze nur noch „abgenickt“ werden. Debatten und Entscheidungen finden in einer Art geheimen, virtuellen Sphäre des Hinterzimmer-Parlamentarismus statt. Dazu kommt ein Bundespräsident, der ein marionettenhaftes Dasein fristet, das von seiner eigenen Parteilichkeit überschattet wird.
Die schleichende Annexion staatlicher und verfassungsrechtlicher Institutionen hat sich als selbstsüchtiger Systemerhaltungstrieb der politischen Klasse durchgesetzt. Anders kann man es nicht nennen – sie kommt einem Kartell gleich, das sämtliche Bereiche des Öffentlichen Dienstes, des Beamtentums, der Exekutive und Judikative sowie staatlich alimentierte Institutionen umfasst, welche gezielt politisiert und zu penetrantem, ideologischem Erfüllungsgehilfentum instrumentalisiert werden.
Parteien als zeitgeistige Projektionsflächen
Purer Machterhalt und Selbstbedienung stehen im Vordergrund, nicht das Wohl des Volkes, auf das Minister, Polizisten und Richter eigentlich vereidigt werden. Die Parteien sind keine Institutionen der freien Willensbildung mehr, sondern Interessensgruppen, die ihren Einfluss auf das Wahlvolk aus den ideologischen Elfenbeintürmen staatlich okkupierter Organe ausüben. So weit so schlecht. Aber es geht noch weiter ...
Die Parteien selbst befinden sich in einem Zustand der inhaltlichen Paralyse und geistigen Leere, die von Lobbygruppen und NGOs ausgefüllt wurde, was nicht nur die oben beschriebene Strukturproblematik verfestigt, sondern auch noch dezidiert antidemokratische Einflussnahmen begünstigt. Die Politikziele werden auf wenige Zielkorridore verengt, womit die Entscheidungsfindung im Parlament zu einer Frage zeitgeistiger Haltung und machtpolitisch kurzfristiger Effekte wird, was vor allem verfassungsrechtliche Garantien auszuhebeln imstande ist (Corona-Notstand, Klima-Notstand, Energie-Notstand).
Man muss sich ehrlich fragen, ob die Parteien noch Inkorporationen der Willensbildung sein können, ob sie überhaupt noch Eigenschaften von Parteien im ursprünglichen Sinn besitzen. Als zeitgeistige Projektionsflächen können sie jedenfalls ihren parlamentarischen Aufgaben kaum gerecht werden. Unter der Ägide des NGO-Parteienstaates ist die systemische Konstitution der Demokratie nur noch pro forma vorhanden, da sie bereits in jedem privaten Lebensbereich und jedem politischen Raum ideologischem Druck ausgesetzt ist.
Mögliche Zukunft im Terror-Milieu
Der Druck entsteht so: Das Klima ist nicht verhandelbar, der Wohlstand hingegen ist es. Die Freiheit des Individuums muss sich höheren Zielen unterordnen, der Einzelne muss sich deshalb überlegen, ob er von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch machen möchte oder nicht – im Zweifelsfall wird sie bereits zu einem Problem, wenn er in den Massenmedien der Sozialen Netzwerke aufmuckt. Der Souverän ist nicht mehr souverän, er hat angeblich den Überblick verloren. Die Gewaltenteilung schützt den Bürger nicht mehr vor diesen inkriminierenden Behauptungen.
Hier treten junge, selbstbewusste Kulturrevolutionäre auf die Bühne, die uns die neue Welt(ordnung) erklären, in der wir wieder unmündige Schutzbefohlene eines „Vollkasko-Staates“ sind. Die „Aufklärung“ ist nicht mehr der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, sondern seine selbstverschuldete Zurückberufung in das Kollektiv, dessen Zukunft als Abkehr von überkommenen, zu überwindenden Kulturen neu diktiert wird. Industriestaat, Innovationsschmiede, Exportnation, Wohlstand, Mittelstand, Fortbestand: ade.
Der Marsch durch die Institutionen ist gelungen. Wir befinden uns anscheinend in einem Prozess der Kulturrevolution, wie ihn China vor einem halben Jahrhundert leidvoll erfahren musste. Wie bei Mao Zedongs Irrweg zwischen 1966 und 1976 fühlen sich heute junge „Rotgardisten“ aus ideologischen Gründen dazu berufen, mit alten Gewiss- und Gewohnheiten aufzuräumen, betreiben „Pi-dou“, das Anprangern und Bekämpfen unschuldiger Bürger als Volksschädlinge und Konterrevolutionäre (heute „Leugner“, „Egoisten“, „Rechte“) und das Beschädigen oder Beseitigen von Kulturgütern. Die sogenannte „Cancel-Culture“ ist der Negativ-Ausschlag zur Kreativ-Kultur des positiv schöpferischen Geistes. Die Kultur-Revolutionäre des Klimastreiks sind „Cancel-Culture-Aktivisten“ mit einer möglichen Zukunft im Terror-Milieu.
Drohung an die träge Mehrheitsgesellschaft
Man muss natürlich festhalten, dass die kulturrevolutionären Umtriebe bei uns nicht oder noch nicht so gewalttätig und menschenverachtend sind wie damals im „kommunistischen“ China. Junge Klima-Rotgardisten kleben sich heute „nur“ auf Straßenkreuzungen und an berühmte Gemälde und wollen damit provozieren. Unsere „altehrwürdige“ Kultur ist in ihren Augen nichts wert vor dem nahen Ende der Welt. Das wollen sie uns sagen.
Die Sachbeschädigungen und Nötigungen sind neben den juristischen Tatbeständen aber auch als Drohung an die träge Mehrheitsgesellschaft adressiert, deren Klassensymbole (Kunst, Mobilität, Bequemlichkeit, Konsum) infrage gestellt werden sollen. Die Klima-Rotgardisten wollen uns belehren und prangern unseren Lebensstil an, den sie als Bedrohung sehen und nun selbst handgreiflich ins Visier nehmen. Als Gesten des Konjunktivs kündigen sich hier Tatrechtfertigungen an, die die Dialektik des Terrors in sich tragen. (Sie könnten die Bilder auch richtig, unwiederbringlich zerstören, wenn sie wollten.)
Als Vertreter der „Letzten Generation“, die die Zukunft der Kultur als Erbe mit horrender Hypothek betrachten und deshalb ablehnen, stellen sich diese Rebellen gegen eine als „sicher“ geglaubte Auslöschung des Lebens. Dabei werden sie von Gefälligkeitswissenschaftlern und einer wohlwollenden Medienmaschinerie unterstützt. In den Parteiapparaten demoskopie-abhängiger Polit-Karrieristen wird dieser dystopische Zeitgeist dann zu Politstrategien hochgejubelt. Nichts kommt der mediokren „Polit-Elite“ intellektueller vor als der drohende Untergang, dem man sich begeistert zuwendet, weil er von einer Art morbider Weisheit getragen wird, für die man keine weitere Lösungskompetenzen benötigt. Denn das Ende ist nahe. Damit blendet man junge Wähler.
Aus den Zeltlagern der Kapitalismuskritik
Mit langfristig gedachter Politik hat das nichts zu tun: Die Eignung der Parteien schwindet mit der Infantilisierung ihrer Politikkonzepte. Sie folgen kleinen, wütenden Mädchen auf YouTube, Twitter und Instagram. Sie aggregieren die neue Wut auf die fossil-begeisterte Vergangenheit als Bekenntnis zu besonnenen Zukunftskonzepten und tragen die Phantasiegebilde einer karbonfreien Wirtschaft und eines fossilfreien Wohlstands in ihre Parteien hinein – unbedacht der Schäden, die sie mit der Abkehr von kluger Energiepolitik, weitsichtiger Industriepolitik und verbindlicher Standortsicherung betreiben.
Das ist Zeitgeist-Philosophie für angstgestörte Mittelstands-Hypochonder aus urbanen Akademikerkreisen und aufgeputschte Weltrettungs-Missionare aus den Zeltlagern der Kapitalismuskritik. Diese beiden Zielgruppen kommen damit auf schaurige Touren, aber nicht der Handwerker, der für Aufträge mit dem Werkstattwagen in die Innenstadt eilt und nun im Stau vor festgeklebten „Klima-Aktivisten“ steht. Er wird zur Geisel gemacht. Oder die alleinerziehende Pendlerin, die sich keine Wohnung im innerstädtischen Hipster-Kiez leisten kann, wo die kinderlosen Gewinnler des Vollversorgungsstaates eine Vervierfachung der Strom- und Heizungskosten locker wegstecken. Die Pendlerin ist das Opfer des Energiegeizes, der nun um sich greift.
Die Kulturrevolution der Klima-Rotgardisten hat einen Pakt mit der saturierten Mitte geschlossen, nicht mit den unteren, sozial benachteiligten Schichten. Es ist paradox: Aus dem Milieu der Bessergestellten werden später die Heißsporne und Gewaltaffinen rekrutiert werden, die im festen Glauben sind, dass Terror gerechtfertigt ist, wenn er die „Zukunft“ rettet. So war es auch im Deutschen Herbst 1977, die Täter kamen aus der Bildungsbürgerschicht.
Kunst und Kulturgüter in Ungnade gefallen
Der aktuelle Angriff auf Kunstwerke ist der Anfang eines Bildersturms gegen unsere Gegenwartskultur. Sie ist das verhasste Ziel einer Zivilisation, die auf Verbrauch getrimmt und deren Struktur im Kapitalismus verankert ist, so die Diktion des neuen Klassenbewusstseins. Die Denkrichtung entspricht dem religiösen Fanatismus von Islamisten, die Buddha-Statuen und römische Tempel sprengen, weil das Weltkulturerbe angeblich ihren Gott beleidigt. Der Gott der westlichen Rotgardisten ist das Klima, er wird von unserem Wohlstand beleidigt.
Klimaschutz vor Kulturleistung, das ist die Devise der Klima-Kulturrevolution. Der Klimaschutz ist also eine Frage des Klassenbewusstseins, denn die Ausbeuter des alten Systems müssen bekämpft werden. Der Begriff „Kulturrevolution“ meint nach sino-marxistischer Auffassung ursprünglich eine proletarische Revolution gegen „Ausbeutersysteme“ auf allen Gesellschaftsebenen. Die Ausbeutersysteme der westlichen Kultur sind energetischer, produktionstechnischer und kapitalistischer Natur, allerdings auf viel höherem Niveau als damals in China, wo weitgehend bittere Armut herrschte, die vom kommunistischen System noch forciert wurde.
Der anstehenden Kulturrevolution geht es um unseren, nicht nachhaltigen Wohlstand als Feindbild, der aus Wachstum entsteht und dessen Insignien auch Kunstgegenstände sind, die vom wohlhabenden Bürgertum gefördert, gekauft, ausgestellt und geliebt werden. Diese Kultur-Objekte gilt es anzugreifen, um das Klassenbewusstsein zu schärfen, so die „Logik“. Exempel werden also zunächst an wertvollen, nicht lebenden Gegenständen statuiert. Diese „Zurechtweisungen“ bedeuten gleichzeitig, dass der in Kunst verkörperte Überfluss – sie ist meist ein Wohlstands-Produkt – zum Ziel gemacht wird. Die propagierte Verzichtskultur der „Klima-Aktivisten“ steht dazu im Widerspruch. Man macht also klar, dass Kunst und Kulturgüter als Gegenstände der Wohlstandsbezeugung und indirekte Konsumverehrung in Ungnade gefallen sind. Das ist äußerst bedenklich.
„Nur“ Wühltische in Kaufhäusern in Brand gesetzt
Die Klimafront hat es sich in Schützengräben bequem gemacht, die von Linksradikalen für sie ausgehoben wurden. Die Eskalation ist bei der Prämisse „Klimakatastrophe“ klar: Keine Kompromisse, weg mit dem „Plunder“ der ausbeuterischen Kultur, Verzicht als Klassenbewusstsein, Ende Gelände, der Planet muss von (fossiler) Ausbeutung, die Gesellschaft von Globalisierung und Kapitalismus befreit werden, Kulturrevolution jetzt. Das zugehörige Klassenbewusstsein wird von den Klima-Rotgardisten streng eingefordert. So twitterte die Scharfmacherin der Szene, Luisa Neubauer, neulich auf Twitter:
„Wenn ihr zu den Leuten gehört, die ,eigentlich immer für Klimaschutz’ waren, und jetzt von einer Tomatensuppe auf Van Gogh ,total abgeschreckt’ seid, naja, dann frage ich mich ehrlicherweise ob ihr wirklich für Klimaschutz wart – und was das für euch bedeutet.“
So wird das korrekte Klassenbewusstsein eingepeitscht. Moral- und Schuldkomplex-Rhetorik. In den Milieus saturierter Mittelstandsfamilien entsteht eine neue „Elite“ von Soziopathen, denen am Ende jedes Mittel recht sein wird.
Auch die Baader-Meinhof-Bande, die sich als RAF, Rote-Armee-Fraktion, in die Geschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland mit mörderischem Terror einbrannte, hat in ihrer Geburtsstunde der späten 60er Jahre zunächst „nur“ Wühltische in Kaufhäusern in Brand gesetzt. Wie es damit weiterging, wissen die Kinder, die in den 70er Jahren im Westteil Deutschlands aufgewachsen sind.
Dieser Text erschien in leicht gekürzter Fassung zuerst im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.