Von Sebastian Bauer.
Das annus horribilis 2020 ist zu Ende gegangen und man sollte die Gelegenheit nutzen, um zurückzublicken. Einiges ist gut gelaufen, einiges weniger gut und einiges hätte man im Nachhinein anders gemacht; letzteres ist aber nicht immer realistisch, denn: „Hinterher ist man immer klüger“ oder auf schwedisch: „Det är lätt att vara efterklok.“
Nur, zurückblicken sollte man, insbesondere auf ein Jahr 2020 und ein Land wie Schweden, in dem vieles etwas anders gehandhabt wurde als in großen Teilen Europas. In meinen ersten beiden „Briefen aus Schweden“ (hier und hier) habe ich viel (als promovierter Naturwissenschaftler und medizinisch/epidemiologischer Laie) über die Sterblichkeit des Jahres 2020 in Schweden und Vergleiche mit früheren Jahren gesprochen.
Ein weiterer, interessanter Aspekt des „schwedischen Weges“ sind die 2020 im Prinzip durchgehend geöffneten Grundschulen („grundskola“ bis Klasse 9).
Die Schule lief weiter
Zuerst ein wenig zum Hintergrund: Was ist schultechnisch in Schweden im ersten Halbjahr 2020 geschehen?
Ende Februar fing man an, sich „ernsthaft“ über Corona zu unterhalten. Dies fiel zusammen mit der „Sportlovsvecka“ in Stockholm, wo nicht wenige Stockholmer zum Skifahren in die Alpen geflogen sind und sicherlich nicht unwesentlich zum danach folgenden, sich ab Mitte März beschleunigenden Infektionsgeschehen in Stockholm beigetragen haben. Im April erreichte dann das Infektionsgeschehen sein Maximum (gemessen an der Anzahl neuer ICU-Fälle sowie Todesfällen mit Coronadiagnose), um dann von April bis Juni mit dem beginnenden Frühling/Sommer langsam abzuflauen.
In den meisten europäischen Ländern wurde in dieser Zeit ein (Teil-/Voll-)Lockdown beschlossen, was dann auch zur Schließung der Schulen (teils oder ganz) führte. In Schweden wurden die Grundschulen nie geschlossen. Allerdings wurde die Schulpflicht („de facto“, nicht „de iure“) ausgesetzt und Eltern konnten ihre Kinder zu Hause behalten, ohne Angabe von Gründen. Viele taten dies auch, was dazu führte, dass während einiger Wochen die Grundschulklassen meiner beiden Töchter nur zur Hälfte gefüllt waren (übrigens, laut meiner ältesten Tochter eine der besten Zeiten in der Schule überhaupt: „endlich konnte man gut lernen“).
Zusätzlich wurden einige verschärfte Hygieneregeln eingeführt, verbesserte Handhygiene, mehr Abstand beim „Essenfassen“, aber keine Masken und keine Verringerung der Schülerdichte in den Klassenräumen (abgesehen von der „freiwilligen“ Entdichtung durch Abwesenheit). Auch „verschärftes Lüften“ ist meines Wissens nach „nicht vorgekommen“. Mit dem Sommer kamen dann die meisten Schüler zurück mit dem Glauben, dass „es“ jetzt überstanden ist.
Untersuchung der Todeszahlen von Kindern
Jetzt (ein halbes Jahr später) kann man die Corona-bedingten gesundheitlichen Konsequenzen des „Wegs der offenen Schulen während der ersten Corona-Welle in einem lockdown- und maskenfreien Land“ zusammenfassen und analysieren.
Vor Kurzem wurde dies in einem „Letter to the Editor” im „New England Journal of Medicine“ durch einen schwedischen Kinderarzt und Professor (Jonas F. Ludvigsson) auf professionelle Art und Weise getan. Hierbei hat er den „Gesundheitsweg“ aller Kinder in Schweden im ersten Halbjahr 2020 (ab 1. März bis 20 Tage nach Ende des Schuljahres) verfolgt, die in eine Intensivabteilung als Folge einer Covid-19-Erkrankung (oder mit Multisystementzündungssyndrom – MIS-C) eingewiesen wurden. Hier eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchung von Professor Ludvigsson:
In den vier Monaten vor Corona (November bis Februar) starben in Schweden 65 Kinder (1–16 Jahre); in den darauf folgenden vier „Coronamonaten“ (März bis Juni) starben 69 Kinder (alle Todesursachen). Der Monat dieses Acht-Monatszeitraums mit der höchsten Sterblichkeit war der Januar 2020 mit 27 Todesfällen. Die Gesamtzahl der Kinder (1–16) in Schweden Ende Dezember 2019 war 1.951.905 Kinder.
Von den insgesamt 15 Kindern, die in diesem Zeitraum (März bis Juni) in eine Intensivabteilung eingewiesen wurden, mussten vier künstlich beatmet werden. Kein Kind ist verstorben. Trotz teils dramatischen Coronainfektionsgeschehens in Schweden während dieses Zeitraums (Ein deutschsprachiger Bericht über Ludvigsons Einschätzungen hier im Deutschlandfunk).
Um dem ganzen noch etwas mehr Perspektive zu geben, habe ich nachgeschaut, wie viele Kinder (0 bis 17 Jahre) im Jahr an Unfällen in Schweden sterben. Etwas ältere Daten habe ich hier gefunden. Anfang des Jahrtausends starben jedes Jahr zwischen 60 und 80 Kinder als Folge unterschiedlicher Unfälle. 2004 war ein großes Ausnahmejahr. Der Tsunami in Südostasien erhöhte die Unfalltodeszahl auf insgesamt 185 Kinder.
Verantwortung ohne Panik
Haben jetzt die schwedischen Behörden angemessen nach dem „försiktighetsprincip“ (Vorsichtsprinzip) gehandelt, als sie die Schulen offengelassen haben? Haben sie vielleicht nicht gewusst, was sie taten und nur Glück gehabt? Hatten sie keine andere Wahl? Ich weiß es nicht, und vielleicht werden wir es nie wissen, aber ich gehe davon aus, dass es schon früh Informationen über die extrem geringe Kindersterblichkeit an Corona gab und dass die Behörden dies gegen den Nutzen/Schaden einer Schulschließung abgewogen haben.
Daraufhin haben sie sich gegen die Panik und für offene Schulen entschieden; und sie haben „recht behalten“, und das Vertrauen, das wir in sie gesetzt haben (als wir unsere Kinder weiter in die Schule geschickt haben) wurde nicht enttäuscht.
Wenn man in komplexen Situationen nicht auf Panik setzt, macht dies eine verantwortungsvolle Führungspersönlichkeit aus (ich denke da zum Beispiel an Anders Tegnell in Schweden). Wenn man dahingegen als Führungspersönlichkeit Panik verstärkt (ich denke da an das unsägliche Beispiel der abstürzenden Flugzeuge, in denen natürlich auch Schulkinder sitzen könnten), kann man vielleicht kurzfristig ein populärer Anführer werden, aber man trägt nicht zum Wohl seines Landes und seiner Einwohner bei.
Wo bleibt die Schlagzeile?
Noch einmal zurück zu Professor Jonas Ludvigssons oben erwähnten Beitrag im „New England Journal of Medicine“. Abgesehen von den untersuchten Kindern wurde dort auch das Risiko der Grundschullehrer, ernsthaft an Covid zu erkranken (gemessen anhand der Aufnahmehäufigkeit in Intensivabteilungen auf Grund von Covid), im ersten Halbjahr 2020 angeschaut. Verglichen mit anderen Berufen (Berufe im Gesundheitswesen ausgenommen), hatten Grundschullehrer (Klassen 1–9) in Schweden nur ein ungefähr halb so großes Risiko (43 Prozent ±15 Prozent), ernsthaft an Covid zu erkranken.
Zusammenfassend kann man sagen: Die „Studie“ zeigt, dass die Kinder „sicher“ waren und dass die Lehrer ein deutlich geringeres Risiko als allgemein Berufstätige hatten – und das in den schwedischen Grundschulen im ersten Halbjahr 2020, in (teilweise) voller Besetzung und ohne Masken und in einem Land mit massivem Infektionsgeschehen.
Wäre das nicht eine fantastische Nachricht, die Schlagzeilen in Deutschland machen sollte und zu Diskussionen über eine Veränderung des deutschen Weges führen könnte? Wo ist diese Schlagzeile?
Die Saat der Angst ist aufgegangen
Zu guter Letzt ein Wort zu den schwedischen Schulen als "Todescamps". Ich erinnere mich an einige Diskussionen (Frühjahr 2020) in deutschen Foren, in denen einige Leser deutliche Anzeichen von Panik hinsichtlich der Gesundheit ihrer Kinder bei einer Wiedereröffnung der Schulen hatten. Die Schulen wurden tatsächlich von einem Leser mit Todescamps verglichen. Niemand hat (meines Wissens) diesen Vergleich bei schwedischen Schulen angewandt, aber die Extrapolation ist nicht so weit hergeholt. Es zeigt auch, wohin Panik führt; Panik ist niemals ein guter Ratgeber (ich widerspreche da meiner „berühmten“ Landsfrau).
Angst führt dazu, dass man seinen Verstand ausschaltet und dass man so idiotische Dinge macht wie das Bedrohen und Beleidigen eines Kinderarztes und Professors.
In Falle Professor Ludvigsson – der den hier beschriebenen Beitrag, in einer Wissenschaftszeitung im Sinne der Aufklärung veröffentlicht –, nicht weil „Lügen“ veröffentlicht werden, sondern weil die gesagten „Dinge“ die eigenen Glaubenssätze der Angst infrage stellen.
Hunderte, vielleicht tausende Menschen haben ihn angeschrieben, ihn bedroht und ihm vorgeworfen, Menschen sterben lassen zu wollen, Rassenhygiene betreiben zu wollen und ihm gesagt, er sein ein „kranker“ Mensch. Hier ist die Saat der Angst aufgegangen. Das Verbreiten von Panik ist der Gegensatz von Aufklärung und der Stimme der Vernunft, die Professor Ludvigsson uns zugänglich gemacht hat.
Dr. Sebastian Bauer ist promovierter Chemiker, lebt seit 1999 in Schweden und hat 20 Jahre in der pharmazeutischen Entwicklung gearbeitet.