Die kleinkarierte Angst vor Nacktheit sehnt sich in das krankhaft Zölibatäre der Inquisition zurück. Hier ist aber nicht die Rede von Pornografie, sondern von Akt, Erotik, Sinnlichkeit und Kunst. Harmlosen Dingen also. Genauso verhält es sich mit dem Thema Meinung.
Der deutsche „Playboy“ ist 50 Jahre alt geworden. Kein weltbewegendes Ereignis, aber eine Erinnerung an vergangene Zeiten, in denen es möglich war, die spießbürgerliche Moral zugunsten unbekümmerter Freiheit und aufgeklärter Selbstbestimmung zurückzudrängen. Ich nehme den Geburtstag des Magazins zum Anlass – stellvertretend für zahlreiche andere Beispiele bürgerlicher Unangepasstheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, um daran zu erinnern, wie mit Hilfe nonkonformistischer Ideen viele westliche Gesellschaften der Siebziger Jahre aufgemischt wurden und das bleierne, freudlose Erbe aus Pflicht, Gehorsam und Gewaltaffinität beerdigen konnten. Schließlich ließ man die moralinsauren Profilneurotiker und grauen Prediger einfach hinter sich, um den Freuden des Daseins zu frönen, ohne den Sündenfall im Nacken zu haben.
Natürlich ist mir klar, dass diese zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Wiege neuer psycho-pathologischer Geisteszustände war, die mit der hedonistischen Gedankenlosigkeit im Wechselspiel standen und unsere Gesellschaft bis heute drangsalieren. Ersetzen Sie im Zweifel die Playboy'sche Nacktheit mit „Frechheit“, wenn Sie vielleicht meinen, dass ich mich mit meiner Eloge auf die Freizügigkeit verrenne.
Heute kuscht man vor jedem Tabu und apportiert jedes Stöckchen, das die Tugendwächter werfen. Ganz anders der „Playboy“: Er stand von Anfang an für eine Art männliche Aufsässigkeit und weibliche Unkorrektheit im Umgang mit Tabus, die heute aus der Zeit gefallen scheinen. Während das Magazin oft genug für seine stereotype Sichtweise auf Frauen kritisiert wurde, hatte es gleichzeitig enormen Einfluss auf den Selbstbestimmungsdrang einer zunehmend unbekümmerten Jugend und ihrer Sexualität (männlich/weiblich). Gemessen an damals fällt unsere heutige Gesellschaft zurück in vorsintflutliche Stereotype von Moral, Etikette und Verstocktheit, die wir lange überwunden glaubten. Der Grund liegt in einer digital betriebenen Konterrevolution des Moralismus, der im Schlepptau Bigotterie, Lustfeindlichkeit und Konformität zieht.
Dabei fällt so manches Kulturgut über die Tischkante
Das Internet wirkt als Aggregator, wo Inhalte ohne jegliches Mandat der Nutzergemeinde dem Licht und dem Schatten zuordnet werden, wie es die Moralisten und Prediger früher auch gemacht haben. Im Gegensatz zu den Tugendwächtern alter Zeiten, die irgendwann schlafen gingen oder sich vom Geschehen abwandten, schaut das Internet niemals weg und hat, wie das Ungeheuer Argus, seine Augen überall. Das „helle“, beleuchtete Netz verweist deshalb nur dorthin, wo es den „Schmutz“ nicht gibt.
Das Problem ist, was das Internet und seine Suchmaschinen als Schmutz stigmatisieren, was sie uns vorenthalten, zensieren, und was nicht. Dabei fällt so manches Kulturgut über die Tischkante, an dem sich früher niemand gerieben hätte. Es gibt eine übereifrige Unterschlagung im Netz. So verschwinden sicher geglaubte Befreiungstatbestände, für die auch der Playboy einst die manierierte Ikonografie geliefert hatte. Wieder wird in die Schmuddelecke gekehrt, was durch die sexuelle Befreiung der End-Sechziger als Normalität etabliert worden war.
Ein heimlicher Prozess der „Puritanisierung“ hat sich über viele Jahre an uns vorbeigeschlichen, ohne dass wir es bemerkt haben. Nun ist nichts mehr „normal“ wie früher, es ist post-normal, regressiv und darüber hinaus durchschnittlich langweilig. Es erregt niemandes Ehre, Ärger oder Libido. Genau das sind aber die Essenzen, aus denen die Kunst, die künstlerische Freiheit und die Freiheit des Wortes entstehen.
Auswüchse einer umherirrenden Gesinnungsethik
Die Suchmaschinen des hell erleuchteten Internets haben ein phobisches Verhältnis zu Brustwarzen und Genitalien, zu Meinungskampf und Polemik. Dieser Angstreflex richtet sich gegen alles, was Unbehagen auslösen könnte und deshalb gesellschaftlich wieder als schändlich gebrandmarkt werden soll. Mit justiziablen Tatbeständen hat das meist nichts zu tun, sondern mit den Auswüchsen einer umherirrenden Gesinnungsethik, die aktuell sogar bereit ist, den Denunzianten Meldestellen zur Verfügung zu stellen, wo „wir insbesondere auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze registrieren, die nicht in den Polizeistatistiken erfasst werden“, so die Landesfamilienministerin von NRW, Josefine Paul (Grüne) auf Twitter. Hier werden staatlich-exekutive Parallelstrukturen der Erfassung von „ungebührlichem“ Verhalten angelegt, die das Sozialverhalten der Bürger kontrollieren sollen.
Die kleinkarierte Angst vor Nacktheit sehnt sich in das krankhaft Zölibatäre der Inquisition zurück, als sei das alles des Teufels. Hier ist aber nicht die Rede von Pornografie, sondern von Körper, Akt, Erotik, Sinnlichkeit und Kunst. Harmlosen Dingen also. Genauso verhält es sich mit dem Thema Meinung: Hysterisch arbeitet man sich an den Abweichlern ab, deren Standpunkte man für unerträglich hält und die man diffamieren muss, weil sie gesetzlich „leider“ noch erlaubt sind. So wird das Aktbild wieder zur Obszönität und die Meinung zum Porno erklärt, die die Freiheit nur „ausnutzen“.
Lächerlich mutet der Feldzug des neuen digitalen Spießertums an, das mit allen Facetten der Nacktheit quer durch die Kunstgeschichte fremdelt, wie den Fotos von Josephine Bakers „Nippel Gate“ im Baströckchen, der Körperlichkeit des „Jüngsten Gerichts“ von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle, Tizians liegender Venus, überhaupt allen Venusdarstellungen, auf denen die Wahrheit über den menschlichen Körper sich dahinfläzt wie eine Odaliske im Harem des Sultans – auch so ein Lieblingsthema der Maler. Nicht zu reden von den zugegebenermaßen expliziten Zeichnungen Egon Schieles oder den Frivolitäten Picassos. Auch die bare, fragile Schönheit junger Teichnymphen in Salonbildern des 19. Jahrhunderts oder die üppigen Brüste barocker Kirchenkunst, selbst beschämt-unsichere Aktfotografie der 20er Jahre erregt das Missfallen der Algorithmen. Das Internet wird zum Ort eines ungleichen Kulturkampfes, bei dem es nicht nur um das Ausblenden von „Tittenbildern“ geht, sondern um Nacktheit an sich, wie sie immer Gegenstand von Malerei, Bildhauerei und Fotografie war.
Wenn Gustave Courbet in „L’Origine du monde“ den Schambereich einer Frau zum Thema macht oder Ernst Ludwig Kirchner expressionistische Mädchenbilder, Paul Gauguin junge nackte Tropenschönheiten malerisch erkundet, ganz zu schweigen von den verhuscht-pädophilen Foto-Grenzgängen David Hamiltons oder dem harten Realismus Robert Mapplethorpes, dann schnappt der Algorithmus über und blockiert, vertuscht, verhindert und zensiert. Klar muss es Grenzen geben, wo Straftatbestände berührt werden. Aber das Urteil, was geschmacklos und geschmackvoll ist, sollte den Betrachtern überlassen werden. Doch eine solche Forderung mutet heute absurd an.
Das Internet ist kein Ort der unbedingten Freiheit mehr
Die Grenzen sind so weit verschoben, dass der fehlgeleitete Löscheifer nun den Denunzianten in die Hände spielt. Vor ein paar Jahren forderte uns Google auf, unangebrachte Bilder auf Achgut.com zu löschen. „Man“ hatte anonym Beschwerde gegen uns eingereicht. Da ging es unter anderem um besagtes Bild von Josephine Baker, der freizügigen Tänzerin der 20er Jahre. Nichts daran war anstößig. Der „Fall“ diente nur irgendwelchen Kleingeistern, denen unsere Meinung nicht passte, als Hebel. So werden Kunst und Körperlichkeit zur Geisel von Gemeinschaftsstandards, mit denen noch andere Güter der Freiheit beschädigt werden. Eine antiliberale, neo-spießige Blockwartmentalität hat sich im Netz aufgebaut, um eine rückwärtsgewandte Kulturkampagne zu betreiben, die die Freizügigkeit im Denken abschaffen will und sich zuerst an den Bildwerken abarbeitet.
Während der Playboy in vordigitalen Zeiten den Atavismus von Körpersignalen zum Produkt entwickelte und dabei nichts Neues erfand – weil nämlich die Abbildung und die Hirnchemie des Betrachters immer irgendeine Einheit eingehen – und während er dabei einen uralten Kunstmechanismus in die Neuzeit katapultierte, wollen das Internet und seine kleingeistigen Helfershelfer gerade diesen Mechanismus zerstören: mit ihrer manischen Strategie der Verschattung und „Entschärfung“, die nicht nur auf unverhüllte Geschlechtsmerkmale projiziert wird, sondern auf „anstößige“ Inhalte aller Art. Es ist paradox: Das Internet ist kein Ort der unbedingten Freiheit mehr. Es ist auf jeden Fall ein Spielplatz des Opportunismus und der Gängelei geworden, wo verklemmte Ideologen von der jungfräulichen Gesellschaft träumen.
Es hat sich ein wahrer Verfolgungswahn der Gemeinschaftsstandards etabliert, der die Freiheit der Kunst, die Meinungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums anfeindet. Die Verhüllung von Nacktheit ist nur das Symptom eines Affektes, der sich gegen die Aufklärung wendet und gegen alles was er für „offensiv“ hält. Nun ist einer der Grundaffekte der Kunst „Offensivität“, Provokation und Ausdrücklichkeit.
Indem jeder zum potenziellen Opfer von Kränkung erklärt wird, geht kaum eine Freiheit mehr an die Grenzen. Alles ist potenziell schädlich, was laut, selbstbewusst, „umstritten“, auffällig und rotzig auftritt. Die grauen Prediger wollen uns Bürger wieder mit ihrer Freudlosigkeit einseifen, damit unsere Seelen rein bleiben. Der Sündenfall ist wieder eine Kategorie der Soziologie. Wie peinlich.
Der Playboy war nie ein „Schmuddelblatt“
Als 1953 Hugh Hefner die erste Ausgabe des US-Playboys herausbrachte, auf dessen Titel eine noch ziemlich angezogene Marilyn Monroe posierte, ging es ihm in erster Linie um Männer, die es glücklich machte, Frauen anzuschauen, die wenig oder gar nichts anhaben. Das war eine gute Idee, denn er ahnte, dass dieses Bedürfnis sich nicht ändern würde.
Er war in einer puritanischen Familie aufgewachsen, wo es weder Umarmungen noch überschwängliche Emotionen, aber erdrückend viel Sittenstrenge gegeben hatte. Man kann also vermuten, dass er es leid war, seine wahre Natur, sein Verlangen nach Sinnenfreude, Erotik und Partys einer Moral zu opfern, die ein düsteres Verhältnis zur Sexualität und Lust hatte. Die darüber hinaus jedem möglichen Tabubruch auflauerte und als Gefahr geißelte, was mit der Kunst, der Mode, der Tanzmusik und der Jugendkultur offen zutage trat.
Hugh Hefner sagte der spießigen Verklemmtheit und Bigotterie den Kampf an, und sein Magazin, das der Schönheit des weiblichen Körpers huldigte, war auch ein ernstzunehmendes gesellschaftspolitisches Stück Journalismus. Denn auch thematisch wagte sich Hefner oft genug an Themen, die in anderen Medien keinen Raum fanden, eben weil auch sie tabuisiert waren.
Der Playboy war nie ein „Schmuddelblatt“, sondern eine politische Botschaft. Indem er die sexuelle Freiheitsbewegung bebilderte, war er auch ein kapitalistisches Instrument der anarchischen Meinungsfreiheit. Das klingt paradox. Aber die Überhöhung der Nacktheit als Verstetigung des Tabubruchs, ermüdete damals den Hegemonieanspruch der Lustfeindlichkeit, bis dieser nicht mehr Schritt halten konnte.
Die Geistlosigkeit von Klemmbrettern
Der Playboy-Gründer brachte es sogar fertig, sein Magazin zu einem Statement des Feminismus zu erklären, weil er meinte, mehr Befreiung von verklemmter, puritanischer Lustfeindlichkeit könnten Frauen nicht bekommen als beim Playboy. Dafür mussten sie sich allerdings gefallen lassen, neben dem hüllenlosen Posieren für Fotos auf Veranstaltungen und zu Werbezwecken Häschenohren und Puschelschwänze zu tragen. Feministinnen hielten das nicht grundlos für ein klares Indiz männlicher Dominanz und Verdinglichung. Sie prangerten an, dass die „Bunnys“ zu Objekten der Männer degradiert würden, auch wenn das freiwillig geschähe.
Der Playboy wollte spielen und aufleben in einer Spaßgesellschaft, die sich möglichst aller Tabus entledigt hatte und damit aufhörte, Frauen, die ihre Körperlichkeit und Sexualität ausleben wollten, als Flittchen oder unanständig zu bezeichnen. Hugh Hefner kam mit seinem Magazin in eine Zeit, in der die sexuelle Befreiung, die Enttabuisierung von Nacktheit und Erotik sogar zum guten Ton gehörte – in aufgeklärten, progressiven Zirkeln. Das Tabu war immer die Domäne der Spießer und Prediger – im Deutschland der Väter und Mütter, die in den Augen ihrer Kinder kein Recht mehr darauf hatten, nackte Haut zu zensieren, nachdem sie 30 Jahre zuvor jegliche Moral und Ethik hatten fahren lassen für einen obszön Irren aus Braunau, Österreich.
Nun hat sich die Geschichte in ihr Spiegelbild verwandelt: Die einst so Progressiven agieren jetzt mit der Geistlosigkeit von Klemmbrettern. Sie können sich nicht mehr locker machen. Sie wollen alle anderen in die Verklemmtheit zwingen, damit der Spaß endlich aufhöre, der mit dem Playboy, der Beatmusik, den Hippies und dem ganzen anderen gottlosen Ramsch angefangen hat.
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