Vor einer Woche nahm ich mit meinen Eltern an einer Menschenkette gegen Antisemitismus in Essen teil. Jeder von uns trug eine Israelflagge, was schon auf der Demo eine Ausnahme darstellte. Damit jedoch durch eine muslimisch geprägte Stadt zu laufen, wurde als reinste Provokation wahrgenommen – Integration gescheitert!
Am vorletzten Sonntag war ich zum ersten Mal Teil einer Menschenkette. Bislang stand ich als „Rechte“ ja meist auf der anderen Seite. Die Menschenkette sollte die Antwort auf die am 3. November stattgefundene „Anti-Israel-Demo“ sein, bei der 3.000 Muslime, Islamisten und Salafisten mit judenfeindlichen Parolen durch die Essener Innenstadt gezogen waren. Vorab: Auf der Veranstaltung gab es einige gute Redebeiträge. So wurde unter anderem das Existenzrecht Israels ausdrücklich betont. Die Taten der Hamas wurden aufs Schärfste verurteilt, samt der Tatsache, dass Zivilisten als Schutzschilde benutzt werden. Mehrfach sprach man sich deutlich gegen jede Form des Antisemitismus aus, und Oberbürgermeister Thomas Kufen erkannte selbstkritisch, dass wir den eingewanderten Antisemitismus zu lange ignoriert und verharmlost haben. (Wobei ich mir natürlich die Frage stelle, wer eigentlich mit „wir“ gemeint sein soll? Ich fühle mich jedenfalls nicht angesprochen.)
Natürlich waren hier und da auch einige hohle Phrasen zu hören, und der eine oder andere mag auch argumentieren, dass das oben Genannte doch alles selbstverständlich sei. Sicherlich kann man auch die Integrität einiger Redner infrage stellen, die ihr Fähnchen gerne nach dem Wind drehen und ohne Zweifel ein Talent darin besitzen, Probleme mit großen Worten kleinzureden. Dennoch haben mich die zum Teil sehr klaren Worte positiv überrascht, und ich möchte sie an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen. Sorgen bereitet hingegen etwas anderes. Aber urteilen Sie selbst und begleiten Sie mich auf meine allererste (und zugleich allerletzte?) Menschenkette.
Drei Israel-Flaggen auf dem Weg in die Essener Innenstadt
Einsetzen möchte ich mit meiner Erzählung am Vortag der Veranstaltung. Es ist schon spät am Abend, als ich in meiner Schreibtischschublade nach einem blauen Filzstift krame. Mit Stift und Lineal male ich die israelische Flagge auf ein DIN-A4 großes Blatt. Ich habe mich im Vorfeld sehr darüber geärgert, dass die Stadt Essen keine Gegendemonstration organisiert hat, sondern lediglich zu einer Menschenkette aufgerufen wird, mit der man ein Zeichen für den Frieden im Nahostkonflikt setzen möchte. Und natürlich ein Zeichen für Solidarität, Freiheit, Respekt, Offenheit, Zusammenhalt, Vielfalt und Toleranz. Gegen Hass, Menschenfeindlichkeit, Intoleranz, Krieg, Hetze und Gewalt. Sie kennen das ja. Spielt das Thema Antisemitismus hier etwa nur noch eine Nebenrolle, frage ich mich, und möchte mich klar an der Seite Israels positionieren. Am Veranstaltungstag hänge ich mir daher meine gemalte Flagge mit einem Band um den Hals, sodass sie gut sichtbar an meinem Rücken baumelt. Als Antwort auf eine „Anti-Israel-Demo“ scheint mir das Tragen der israelischen Flagge nicht nur logisch, sondern vor allen Dingen sehr angebracht.
Unterwegs hole ich noch meine Eltern ab, die ebenfalls zur Veranstaltung fahren wollen. Auch sie haben jeweils eine etwa handgroße Israel-Flagge bei sich. Wir haben das Haus gerade einmal fünf Minuten verlassen, als ein an uns vorbeifahrendes Auto plötzlich abbremst. Der Beifahrer kurbelt die Fensterscheibe herunter und brüllt uns laut: „Hamas!!!“ entgegen. Angemessen reagieren können wir nicht, denn ein paar Meter weiter oben biegt der Bus um die Ecke.
Im total überfüllten Bus – zum Teil mit Menschen, die ebenfalls zur Veranstaltung wollen – merken meine Mutter und ich plötzlich, wie leise über uns getuschelt wird, als sei das Tragen einer israelischen Flagge etwas total Abwegiges und Anrüchiges. Immer wieder fallen die Blicke auf uns oder viel mehr auf die Flaggen an unseren Körpern. Schließlich können wir beide das Gefühl nicht mehr abstreiten, dass unsere kleinen Israel-Fläggchen ungemeine Sprengkraft besitzen und zum Teil sogar als Provokation aufgefasst werden. Wir waren uns zwar im Vorfeld über die Brisanz und Polarisierung der Israel-Flagge bewusst. Aber erst jetzt, unmittelbar in der Situation, überkommt mich ein Gefühl des Unwohlseins. Welchen Druck müssen dann erst die Juden tagtäglich empfinden, besonders diejenigen, die „geoutet“ sind oder sich durch das Tragen einer Kippa zu erkennen geben?
Haben wir die Regeln für eine Menschenkette missachtet?
Beim Erreichen des Veranstaltungsgeländes bin ich besonders gespannt, wie viele Israel-Flaggen wir sehen werden. Ich möchte sie unbedingt alle zählen! Eine Mission, die sich als wesentlich leichter entpuppt als zunächst angenommen, denn die Anzahl beträgt genau: 1. (Anmerkung: Da das Demonstrationsgelände nicht gut zu überblicken war, möchte ich natürlich nicht ausschließen, dass sich irgendwo noch eine weitere Israel-Flagge versteckt hielt.) Es gibt an diesem Abend wahrscheinlich nur eine Sache, die die vorhandene Anzahl der israelischen Flaggen noch unterbieten kann: Nämlich die Anzahl der anwesenden Muslime. Obwohl ja eigentlich bestens integriert, haben unsere muslimischen Mitbürger offensichtlich kein Interesse daran, sich gegen Antisemitismus und für Toleranz, Solidarität und ein friedliches Miteinander auszusprechen. Wer hätte das gedacht?
Während ich die Menschen neben mir beobachte, wie sie sich bedächtig an ihre Kerzen klammern, in der festen Überzeugung, damit für eine friedlichere Welt einzutreten, überkommt mich ein Gefühl der Rührung. Doch diese Rührung fußt auf einer unglaublichen Naivität. Und diese Naivität, die lässt die Wut in mir aufsteigen. Und während sich Rührung und Wut immer weiter ineinander verweben, steigen bei mir die Zweifel auf. Zweifel am Sinn und Zweck dieser Veranstaltung. Zweifel an unserem Verständnis von Widerstand. Am Ende verlasse ich die Menschenkette mit einem Gefühl der Irritation und suche die Schuld zunächst bei mir selbst.
„Haben wir etwas falsch gemacht?“, frage ich meine Eltern, als wir uns auf dem Weg nach Hause befinden. „War es falsch, dass wir mit Israel-Flaggen auf die Demo gegangen sind? Ist das jetzt schon kulturelle Aneignung, weil wir als deutsche Christen die Israel-Flagge tragen und vertreten?“, frage ich halb ernst, halb sarkastisch. „Quatsch!“, lacht mein Vater. „Die Juden freuen sich doch über diese Art der Unterstützung.“ „Vielleicht müssen wir dann erst lernen, wie eine Menschenkette richtig funktioniert!“, ziehe ich meine Schlüsse, immer noch sichtlich irritiert über die kaum vorhandenen Israel-Flaggen. „Vielleicht darf man auf solchen Veranstaltungen nur eine Kerze tragen. Wenn man für Frieden ist, darf man eben keine Partei ergreifen“, ergänze ich. „Wie bescheuert ist das denn?“, höre ich meinen Vater aufgebracht schnauben. „Man kann doch nicht auf einer Veranstaltung, die sich vollumfänglich gegen Antisemitismus ausspricht, die Israel-Flagge verbieten!“ „Anscheinend kann man in diesem Land mittlerweile weder die deutsche noch die israelische Flagge tragen, ohne dass irgendjemand Anstoß daran nimmt“, stelle ich resigniert fest.
Durch den Essener Hauptbahnhof
Wir nähern uns dem Essener Hauptbahnhof. „Gehen wir durch den Bahnhof hindurch oder außen herum?“, höre ich meine Mutter etwas ängstlich fragen, denn selbstverständlich tragen wir immer noch unsere Israel-Flaggen. „Durch!“, antworte ich und berücksichtige dabei, dass es im Hauptbahnhof immerhin Sicherheitspersonal gibt. Dass ich überhaupt so weit denke, erschreckt mich selbst. Direkt am Eingang des Hauptbahnhofs stehen zwei muslimisch aussehende Männer. Als sie uns sehen, beginnen sie hämisch zu grinsen. Sie wenden sich meiner Mutter zu und beginnen sie von der Seite anzusprechen. Wir beachten es nicht und laufen weiter. Der Gang durch den Hauptbahnhof erinnert mich an meine Kindheit, wenn ich mich ohne Erlaubnis heimlich an den Fernseher geschlichen habe, immer voller Sorge und Adrenalin, von meinen Eltern entdeckt zu werden. Dann war ich permanent in Alarmbereitschaft, schleichend und still. Genau wie jetzt. Ich beobachte, wie uns immer wieder Blicke zugeworfen werden, als würden wir etwas total Anstößiges tragen. Manchmal sind die Blicke fragend. Manchmal voll Unverständnis. Manchmal neugierig. Und manchmal mit einem verächtlichen Grinsen im Gesicht.
Während wir an der Bushaltestelle auf den Bus warten, spricht uns plötzlich ein etwa 14-jähriger (muslimischer) Junge an. „Entschuldigung, von welchem Land ist diese Flagge?“, fragt er und zeigt dabei auf die Israel-Flagge in der Brusttasche meines Vaters. Reinen Herzens beginnen meine Eltern zunächst dem Jungen zu erklären, dass es sich dabei um die Flagge Israels handelt. Ich höre, wie mein Vater beginnt, etwas von Jerusalem zu erzählen. Ich sage erst einmal nichts, denn mir ist natürlich sofort bewusst, dass es sich bei der Frage des Jungen nur um eine Provokation handelt und er darauf anspielen möchte, dass es Israel gar nicht gibt und das Land den Palästinensern gehört.
Eine Weile geht das Ganze so hin und her, bis ich meine Eltern schließlich unterbreche und einmal deutlich ausspreche: „Er möchte euch nur provozieren. Er spielt darauf an, dass Israel kein Existenzrecht hat und es kein jüdisches Volk geben darf.“ Nun hat auch der Junge dieses hämische Grinsen im Gesicht, das ich an diesem Abend schon mehrere Male gesehen habe. Meine Mutter wird wütend und beginnt sich energisch zu verteidigen. Irgendwann dreht der Junge ab und ruft uns so etwas wie: „Juden … Kacke!“ hinterher.
Als ich im Alter des Jungen war, habe ich mich noch nicht einmal getraut, fremde Menschen nach dem Weg zu fragen. Man kann sich nur ungefähr vorstellen, in welche Art Mann sich dieser Junge mal entwickeln wird, wenn man in solch jungen Jahren schon dieses Maß an Dreistigkeit und Abgebrühtheit besitzt. Zudem sprach er akzentfreies Deutsch, was darauf schließen lässt, dass er entweder in Deutschland geboren wurde oder sich schon seit längerer Zeit hier aufhält. Gibt es ein besseres Beispiel dafür, dass die Integration von (muslimischen) Migranten in unsere Gesellschaft auf ganzer Linie scheitert – und das schon seit Jahren?
Leben wir Deutsche nicht schon längst in Parallelwelten?
Auf der Rückfahrt im Bus wird mir eines klar: Es wird immer wieder (zu Recht) davor gewarnt, dass unkontrollierte Masseneinwanderung die Bildung von Parallelgesellschaften zur Folge haben kann. Aber kann es nicht vielmehr sein, dass wir Deutschen schon längst in Parallelwelten leben? Dass wir zwar dieselben Dinge erleben, dabei aber völlig unterschiedliche Realitäten wahrnehmen? Da kam ich also nun von dieser Menschenkette, auf der man mir so eindrucksvoll und in gemeinsamem Einverständnis versichert hatte, dass man Antisemitismus hier nicht dulden würde. Aber die Realität, mit der ich mich sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg konfrontiert sah, die war doch eine ganz andere. Und sie passte so gar nicht zu dem Bild, das man mir auf der Veranstaltung gerne vermittelt hätte. Nein, die Realität war düster und widerspenstig, und sie kratzte immer hartnäckiger an der Fassade der harmoniebedürftigen Scheinwelt, die man sich so gerne bewahren wollte.
Ich erinnere mich, wie am Ende der Veranstaltung durchgesagt wurde, dass insgesamt 4.000 Menschen an der Menschenkette teilgenommen haben. Jubelndes Klatschen. Super, Hauptsache 1.000 mehr als bei der „Anti-Israel-Demo“ der Muslime, dachte ich ironisch. Dann können wir ja jetzt alle beruhigt wieder nach Hause gehen. Alles ist gut, wir sind mehr! Wir haben ein starkes Zeichen gesetzt! Während sich die anderen Teilnehmer von den bedeutungsschwangeren Worten und dem Kerzenschein beduseln ließen, triefte für mich die Scheinheiligkeit aus jedem einzelnen Wachstropfen heraus.
Wann verstehen die Deutschen endlich, dass man mit Teelichtern keine Freiheit verteidigen kann? Dass irgendwann alle Zeichen gesetzt und alle Reden geschwungen wurden und stattdessen Taten und Konsequenzen gefragt sind? Dass die Probleme auf unseren Straßen nicht verschwinden, wenn man die Augen davor verschließt und sich in eine heile Welt flüchtet? Man kann sich nicht über Jahre hinweg für jüdisches Leben in Deutschland stark machen und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges verurteilen, um dann eine Kultur bei sich willkommen zu heißen, die sich durch einen tiefen Judenhass auszeichnet. Wie kann man da mit einem guten Gewissen für den Slogan „Nie wieder!“ eintreten?
All diejenigen, die jetzt argumentieren mögen, dass die oben geschilderten Ausführungen übertrieben seien, die fordere ich hiermit zum Selbsttest auf! Besorgen Sie sich eine israelische Flagge und spazieren Sie damit durch die stark muslimisch geprägten Stadtteile Ihres Wohnortes. Nehmen Sie die letzte U-Bahn nach Hause! Oder verweilen Sie eine Weile am Hauptbahnhof! Aber tun Sie das am besten alles nicht alleine! Zeigen Sie hier und heute Flagge für unsere jüdischen Mitbürger, anstatt immer nur die Verbrechen der Vergangenheit zu bedauern. Sollten auch Sie mit antisemitischen Äußerungen konfrontiert werden, dann schauen Sie sich Ihr Gegenüber doch mal etwas genauer an (Ist es ein Rechter?) und wägen Sie ab, ob sich derjenige tatsächlich von einer Kerze die Grenzen aufzeigen lässt (oder ob er Sie nicht eher dafür belächelt ...).
„Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“ – Johann Wolfgang von Goethe
Marei Bestek, Jahrgang 1990, wohnt in Köln und hat Medienkommunikation und Journalismus studiert.