In einem Manifest fordert eine Gruppe von derzeit 220 grünen Parteimitgliedern, -Funktionären und Politikern eine Migrationspolitik, die sich an den Realitäten orientiert. Darunter Prominenz wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Die Parteioberen möchten das Papier der „Vert Realos“ am liebsten ignorieren – klug wäre das nicht.
„Wenn Boris Palmer irgendwo einen Brief unterzeichnet, unterschreibt man nicht“, meint der grüne Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke, das sei eine Grundregel. Eine Abgrenzung, dieses Mal innerparteilich, die ähnlich klingt wie das allgemein akzeptierte Prinzip aller „demokratischen Parteien“, das festlegt: bei parlamentarischen Voten niemals so stimmen wie die AfD, egal, wie die abstimmt und um was es geht.
Der Grüne Palmer eckt an in seiner Partei wegen seiner offen kritischen Haltung gegenüber einer Migrationspolitik der offenen Grenzen. Spätestens seit seinem Buch „Wir können nicht allen helfen“ ist dies bekannt. Palmer ist besonders deshalb ein Paria bei den Grünen, seine Mitgliedschaft ruht derzeit, und er hat jetzt etwas angestoßen, was viele in der Partei wohl auch ziemlich nahe bei der AfD verorten.
Auch Palmer (oben im Bild) ist in diesem Fall nicht allein. Er ist einer von 220 Parteimitgliedern, Parteifunktionären und Parteipolitikern, die – wohl auf seine Initiative – in einem Manifest das gefordert haben, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: eine Migrations- und Asylpolitik, die auf dem Boden des Rechts steht, die von den Behörden und dem Staatshaushalt verkraftbar ist, die von der Gesellschaft auch mittelfristig noch akzeptiert wird: besserer Schutz der Außengrenzen, kein Grenzübertritt für Identitätsverweigerer, zügigere und umfassendere Abschiebungen.
Die Unterzeichner dieses „Memorandums für eine anderen Migrationspolitik in Deutschland“ nennen sich „Vert Realos – Die bürgerliche grüne Mitte“. Dabei ist durchaus auch Prominenz: zum Beispiel die ehemalige Entwicklungs-Staatssekretärin und Afrikaexpertin Uschi Eid, die bekannten Europapolitikerinnen Rebecca Harms und Eva Quistorp, Joschka Fischers alter Buddy Rezzo Schlauch (dessen schwäbischer Landsmann, der Oberrealo Winfried Kretschmann, würde ich keck vermuten, hat nur wegen seiner exponierten Stellung als Ministerpräsident, als Landesvater nicht unterschrieben).
Doch so naheliegend und nötig es sich anhört, so etwas stößt, natürlich, entweder auf scharfe Kritik oder betonte Nichtbeachtung in einer Partei, in der das Prinzip „Niemand ist illegal – nirgends“ zu den ersten Geboten gehört. In der die Spitzenkandidatin es mitten im Berliner Wahlkampf für zielführend fand, den Berlinern einzubläuen, sie sollten sich gefälligst schon mal „daran gewöhnen“, dass die nächste Generation hierzulande einen Migrationshintergrund haben werde. In der eine politische oder behördliche Initiative nach der anderen auf den Weg gebracht wird, um aus allen möglichen Gründen alle möglichen Abschiebungen illegal Eingewanderter zu stoppen, in der der wirksame Schutz der europäischen Außengrenzen geradezu verabscheut wird. Dass ab Ende März aus Berlin überhaupt keine Abschiebungen möglich sein werden, weil das spezielle Terminal am Flughafen dicht gemacht wird und die Umleitung über andere Flughäfen oder ersatzweise Einzelabschiebungen (200.000 Euro) viel zu teuer sind, scheint im rotrotgrünen Berlin niemand zu irritieren. Es spricht niemand darüber.
Leidenschaftliches Verdrängen
Dass eine ungesteuerte, unbegrenzte Zuwanderung – obendrein völlig unsortiert in notleidende Asylsuchende, in Wirtschaftsmigranten und (wenige) begehrte Fachkräfte – die Gesellschaft mittelfristig überfordern, ja sie spalten wird, ist spätestens seit den Nachwehen von Merkels 2015er „Wir schaffen das“ offensichtlich. Die Grünen gehören zu denen, die dies am leidenschaftlichsten verdrängen. Für sie das einzige erkannte Problem dabei: dass diese Entwicklung die „Rechten“ stärkt. Die Lösung dieses Problems sahen sie immer nur in noch stärkerem Kampf gegen die Rechten. Weil die das ja alles sowieso nur funktionalisieren würden, ihnen das nur zupass käme. Dass vielmehr ein ganz reales Problem dahinter steht, wollte keiner sehen. Bewahre, sonst wäre man ja selber rechts.
Das sieht jetzt, im Februar 2023, ein wenig anders aus. Die Kommunen, auf denen fast die gesamte Organisation für die Millionen Ankömmlinge lastet, die Unterkunft, die Verpflegung, die Integrationsarbeit, die Konfliktbereinigung – sie können nicht mehr. Es gibt keine Räume mehr, kein Personal, bald auch kein Verständnis mehr, nirgends. In den Kommunen aber sind besonderes viele Politiker der Grünen oder ähnlich gesinnter Parteien in Verantwortung, in den Gemeinderäten, in der Verwaltung, in den Rathäusern, vielfach auch als Bürgermeister. Auch sie können nicht mehr weiter, beim besten Willen nicht.
Aus ihrer Not heraus haben nun die Kommunen Bundesinnenministerin Faeser zum Migrationsgipfel gedrängt, bei dem so gut wie gar nichts heraus kam. Sie hat lediglich Arbeitskreise versprochen – eine inzwischen nur noch Lacher hervorbringende Maßnahme – und hier und da ein wenig mehr Geld. Die Kommunalpolitiker fühlten sich veralbert. Als ob es um Geld ginge, wenn kein Platz mehr für Unterkünfte da ist, auch nicht für neue. Es geht letztlich um ein Weniger an Zuwanderung. Um „Obergrenzen“, wie es vor und nach dem Gipfel vielfach wörtlich hieß, und auch dahinter standen grüne Politiker. Wohlüberlegt wurde das „Vert Realo“-Papier pünktlich zum Migrationsgipfel veröffentlicht. Palmer ist der prominenteste grüne Kommunalpolitiker.
Ein Tabuthema, ein „No-Go-Terrain“
Ein wenig schimmert er da doch noch durch, bei einigen älteren Grünen, der alte rebellische Geist, auch mal wieder gegen den Stachel zu löcken. Dennoch überrascht es jetzt auf den ersten Blick, dass eine solche Initiative aus dem grünen Spektrum kommt. Ein ähnlich fokussiertes Positionspapier allein zum Thema Asyl und Migration ist in letzter Zeit trotz Zuspitzung der Lage und des dazugehörenden Diskurses aus keiner anderen Partei gekommen. Wie auch? Zu groß ist die Angst in allen Parteien, beim Anpacken dieses heißen Eisens – ein Tabuthema, ein „No-Go-Terrain“ – vom linken Lager in die Nähe der aussätzigen AfD gerückt zu werden. Jede noch so kleine Portion Realismus wäre hier gefährlich. Allzu viel vorauseilender Gehorsam gegenüber solchem Automatismus beherrscht hierzulande die Köpfe aller Strategen der bürgerlichen Altparteien. Und die Partei Die Linke, deren Anhängerschaft zu einem guten Teil ebenfalls aus Migrationskritikern besteht, ist schon zu beschäftigt mit ihrem „Hufeisenproblem“ und Sahra Wagenknecht, als dass sich dort jemand bedeutendes hiermit aus dem Fenster hängen würde.
Und so blieb es schließlich einer Gruppe aus den Grünen selbst vorbehalten, zu diesem Thema, in dem die Partei sonst fast ausschließlich moralische, schönklingende Parolen vor sich herträgt, ein Diskussionspapier mit dem Anspruch auf eine realistische Sicht vorzulegen. Auch mit der Begründung, dass bei einem weiter so „in Deutschland ein Rechtsruck zu befürchten“ sei.
Dass Kritik aus den eigenen Reihen selbst kommt, versteht sich von selbst. Die Initiatoren haben damit gerechnet, sie wollen reden: „Wir möchten mit diesem Papier unseren Beitrag zur Diskussion in der Partei Bündnis 90/Die Grünen und der Gesellschaft leisten, damit die Migrationspolitik in Deutschland an die tatsächlichen Erfordernisse angepasst wird.“ Es wird die Frage sein, ob diejenigen in der Partei, die jetzt auf Nichtbefassung plädieren, die Oberhand behalten. Womöglich kommt der Druck, das Thema doch offen zu diskutieren, dann ja auch von anderswo her. Andere Parteien, oder einzelne Mitglieder von ihnen, könnten nun die Scheu verlieren, darauf einzusteigen, wenn die Vorlage dazu von Grünen selbst kommt.
Das Papier der „Vert Realos“
Es wäre zu wünschen. Das Papier der „Vert Realos“ wäre es wert. In manchen Punkten fordert es das Grüne Bullerbü stark heraus:
„Wir fordern verpflichtende Aufenthaltszonen an den EU-Grenzen sowie außerhalb der EU unter EU-Kontrolle. Angesichts der Tatsache, dass es in der Realität fast unmöglich ist, Menschen ohne Bleiberecht abzuschieben, wenn sie erst einmal in der EU angekommen sind, muss die Entscheidung über Aufnahme, in diesen Aufenthaltszonen stattfinden oder dort zumindest plausible Vorentscheidungen getroffen werden.“
„Clan-, Banden, und Jugend-Kriminalität, soziale Verwahrlosung und Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen nehmen in bestimmten Tätergruppen aus der Zuwanderergemeinschaft zu.“
Andererseits könnte es an manchen Stellen durchaus klarer, konkreter werden. Etwa wo es um die individuelle Selbstverantwortung für die Integration geht. Auch um die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Familie. Oder um das Thema Ausländerkriminalität, das die Menschen mit am meisten beschäftigt, für das man dennoch bereitwilligst das Terrain jener anderen Partei überlässt, deren Namen man am liebsten nicht mal ausspricht.
Der Migrationsgipfel hat gezeigt, dass auch unter grünen Verantwortungsträgern das Bedürfnis nach offeneren Debatten mit realistischeren Ansprüchen sehr groß ist, aus ihrer blanken Not heraus. Unter den Leuten nämlich, die vor Ort mit Problemen befasst sind, die ihnen jeden Handlungsspielraum nehmen. Es ist zu befürchten, dass die grüne Parteizentrale sehr, sehr weit davon entfernt ist, und dass es dort an Souveränität fehlt, den Ball aufzunehmen und eine innerparteiliche Diskussion anzustoßen. Die Gelegenheit wäre günstig. Gerade für diejenigen, die immer nur zetern, dass andere Parteien aus dem Problemkreis Nutzen ziehen würden.
Der Berliner Wahlkampf und das Wahlergebnis jedenfalls haben gezeigt, dass ein Kopf-in-den-Sand-stecken bei dem Thema der Partei schadet, sie auf ihre Kernwählerschaft, auf ihr Milieu schrumpfen lässt. Wer der wachen Bevölkerung weismachen will, dass die Silvesterkrawalle nichts mit Migrationsproblemen zu tun hatten, und andere Politiker diffamiert, nur weil sie hierbei auf ihre brennenden Fragen Antworten begehrten, erhält die Quittung. Zu Recht.