Orit Arfa, Gastautorin / 13.05.2021 / 14:00 / 24 / Seite ausdrucken

Israel: Wann fängt „Nie wieder“ endlich an?

2005 beteiligte ich mich an Protesten gegen den „Abkopplungsplan“ des damaligen israelischen Ministers Ariel Sharon in den jüdischen Siedlungen in Gusch Katif in Gaza. Und wurde schließlich von israelischen Verteidigungsstreitkräften, die das Gebiet räumen wollten, aus einer Synagoge gezerrt. Seitdem war ich nie von Raketenangriffen der Hamas auf Israel überrascht. All die Tausenden von Demonstranten in dem jüdischen Siedlungsblock sagten voraus, dass es nur eine Frage von Tagen sei, bis die Hamas anfangen würde, Raketen auf den Süden Israels abzuschießen, sobald die „Pufferzone“ von Gush Katif entfernt sein würde.

Wir sagten damals auch voraus, dass sie eines Tages Tel Aviv erreichen würden. Und für alle, die sich darum sorgten, dass Soldaten ihr Leben verlieren, wenn sie jüdische „Siedler“ in Gaza beschützen: Seit 2005 wurden unzählige israelische Bodentruppen bei grenzüberschreitenden Operationen eingesetzt, Dutzende Soldaten kamen dabei ums Leben. Das Abfeuern von Raketen auf Israel ist im Grunde ein Sommervergnügen der Dschihadisten. Unter der Trump-Regierung ging es immerhin etwas ruhiger zu.

Jeder Krieg hat mein Herz tief getroffen, ob ich nun zu der Zeit in Israel war oder nicht. Ich wollte immer, auch nach dem Verrat der israelischen Regierung an den jüdischen Bürgern in Gaza, für Israel und sein Volk kämpfen. Und natürlich tue ich das immer noch, aber jetzt bedeutet kämpfen, Israel und niemanden sonst – nicht „die Welt“, nicht Biden und nicht einmal „die Hamas“ – verantwortlich zu machen für jede aufeinanderfolgende Niederlage, die uns der wahren Sicherheit nicht näher gebracht hat. „Nie wieder“ war 2006, 2008, 2012, 2014, aber während wir die Phrase immer wieder gerne mit Hashtags versehen, tun wir nie wirklich etwas, um #NeverAgain zu verhindern.

Die Israelis sitzen erneut im „Lockdown“

Ich habe versucht, auf eloquente und oft musikalische Weise, Israels Fall darzulegen und um das Mitgefühl und Verständnis der Menschen zu bitten. Ich tat dies ohne Gewinnabsicht und machte mich oft zum Gespött, obwohl „Hasbara“ (der hebräische Begriff für Öffentlichkeitsarbeit in Israel) eine große Industrie ist. Ich wollte nur, dass meine Familie und ich in Sicherheit sind, dass wir uns nicht mehr in Bunkern verkriechen müssen. Erst vor ein paar Tagen schlug eine Hamas-Rakete in ein Gebäude neben einem Park ein, in dem meine Tochter im Winter spielte.

Ich antwortete auf jeden Treffer der Hamas mit einem eigenen „Hit“. Zum Beispiel mit einer Miley-Cyrus-Parodie von „Wrecking Ball“ („Gaza Wrecking Ball“), die fast 150.000 Aufrufe erreichte. Dann gab es den satirischen Hit „Kill All the Jews“ von der Fake-Band „Gaza Girls“, der fast eine halbe Million Views bekam, bevor er von jeder Social-Media-Plattform gelöscht wurde. (Hier, versuchen wir es mit Rumble). Aber keine Sorge, Gaza Girls kam mit zwei weiteren Hits heraus: „Ew Jew!“ (jetzt auch auf Rumble) und „Rocket Launcher“, eine Parodie von Sias Mega-Hit „Chandelier“ (der immer noch auf YouTube zu finden ist). Das mildere „Hear the Rocket Blast“ (nach Vanessa Williams' „Save the Best for Last“) kam nicht so gut an wie die anderen, aber ich denke, es ist eine hübsche Erklärung dafür, wie es sich in Israel gerade anfühlt.

Nachdem sie wegen Corona ein Jahr im Lockdown verbracht haben, sitzen die Israelis jetzt wieder im „Lockdown“, im Bunker, und ich fühle mit ihnen mit wegen dieses unendlichen, unnötigen Leidens.

Ein blutiges Theater

Diese Gaza-Israel-Kriege sind bereits zu einem blutigen Theater geworden. Alle alten Verdächtigen können jetzt wieder die gleichen Skripte verwenden: Europa (und dieses Mal auch Amerika) sagt „beiden Seiten“, die Spannungen abzubauen. Israel schlägt Hamas-Ziele zur Vergeltung, dann schwört die Hamas Rache. Die israelische Führung bedient sich harter Rhetorik, weiß aber nicht wirklich, wie sie die Sache ein für alle Mal beenden kann. „Hasbara“-Spezialisten fühlen sich nützlich. Pro-Palästinenser-Demonstranten, die bei weltweiten Protesten „Free Palestine“ schreien, mit anschließenden Pro-Israel-Gegenprotesten. Und das allseits bekannte Bild der Juden als Opfer, die in ihren Luftschutzkellern hocken.

Das Problem ist: Die israelische Regierung mit Premierminister Netanjahu an der Spitze hat das Virus des Antisemitismus in Gaza nicht mit demselben Eifer behandelt, mit dem sie mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung geimpft hat. Während Israel Corona eroberte, verbreitete sich der Gaza-Virus unkontrolliert. Leider haben sich die Juden in Israel so sehr daran gewöhnt, ihr Leben für die „Nation“ zu opfern, dass es nicht mehr als Opfer angesehen wird, in einem Luftschutzkeller zu sitzen. Es ist eine heilige Pflicht.

Irgendwann wollte ich nicht mehr öffentlich weinen, damit alle unseren Schmerz sehen. Ich wollte meinen eigenen Brüdern und Schwestern in Israel gegenüber weinen, um ihnen zu zeigen, dass sie etwas Besseres verdient haben. Und so wurde das in diesem Beitrag angeteaserte, originelle Musikvideo „Protect You“ über einen Vater und eine Tochter in einem Luftschutzkeller eines meiner Lieblingsvideos – und eines der traurigsten. Sehen Sie es sich bis zum Ende an, um die wahre Tragödie hinter diesen Kriegen zu verstehen.

Ich bin sicher, dass noch weitere meiner Videos in diesen Zusammenhang passen würden, aber ich werde sie hier nicht anführen, damit dieser Beitrag nicht wie eine Übung in Eigenwerbung aussieht. Es ist nur so, dass ich schon so viel über die Situation in Gaza veröffentlicht habe – warum also das Rad neu erfinden? (Ich habe sogar einen Roman über das Thema geschrieben, namens „The Settler“.)

Ich weigere mich, mal wieder ein Opfer zu sein

Ich will keine Schauspielerin in diesem Drama mehr sein. Ich richte meine Wut gegen eine israelische Regierung, die lediglich in ihrem Theater schwelgt und keine Abschreckung aufbaut. Wenigstens scheint es dieses Mal nicht so, als würde Israel Bodentruppe schicken, also es wurden keine Reserven einberufen. Sie schlagen den Feind aus der Luft.

Sicher, ich könnte mich über die deutsche Regierung aufregen, weil sie nicht auf Israels Seite steht, aber letzten Endes hat nicht einmal Deutschland die Verantwortung, Israel zu verteidigen, obwohl es Israel viel mehr Kraft geben würde, wenn Deutschland Israel signalisieren würde, dass es das Recht hat, seinen Feind zu vernichten. Aber es sollte sich nicht auf die Erlaubnis Deutschlands verlassen.

Also jedes Mal, wenn ein neuer Krieg ausbricht, werde ich vielleicht einfach eines meiner alten Videos posten. In der Zwischenzeit bin ich froh, dass ich meine Reise nach Israel dieses Wochenende abgesagt habe, noch bevor dieses Gaza-Drama begann. Ich bin dankbar für die Lockdown-Langeweile in Berlin. Ich bin froh, dass ich mit meiner kleinen Tochter nicht in einen Luftschutzkeller flüchten muss.

Manche mögen mich Verräterin nennen, vor allem, weil ich all das vor deutschem Publikum ausbreite, während ich es mir in Berlin kuschlig mache. Manche mögen sagen, ich wurde besiegt. Ich glaube hingegen, das ich mich einfach weigere, mal wieder ein Opfer zu sein.

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Lutz Herrmann / 13.05.2021

Baerbock forderte schon anno 2018 keine Abwehrwaffen mehr für Israel. Da geht die Reise hin, liebe Juden. Irgend eine Idee, was wir anständigen Resteuropäer für euch tun sollen?

Hubert Bauer / 13.05.2021

Es würde reichen, wenn Deutschland den Verantwortlichen der Hamas im Gazastreifen sagen würde, dass es nichts wieder aufbaut, was die israelische Luftwaffe zerstört hat. Dann könnte die Hamas ihren Krieg zumindest nicht mehr kostenneutral führen. Ich denke, das wäre zumindest ein erster Denkanstoß für die Hamas.

Reinhard Lange / 13.05.2021

Schon die Auslöser vergessen? Am 10. Mai, dem Tag, an dem Israel die Aneignung Ostjerusalems mit dem Jerusalemtag feiert, gab es eine provokante Flaggendemonstration religiös-nationalistischer israelischer Juden zum Tempelberg. Sicherheitskräfte hatten frühzeitig vor den Folgen gewarnt. Weiterhin gab es bereits eine aufgeheizte Stimmung, weil arabischen Familien im von Israel okkupierten Ostjerusalem Zwangsräumung drohte. Eine nationalistische jüdische Organisation hatte auf deren Wohnungen aufgrund eines Gesetzes Ansprüche erhoben, welches es Juden ermöglicht, Grundstücke in Jerusalem, die sie oder ihre Vorfahren im Krieg von 1948 verloren hatten, zurückerhalten. Für Palästinenser bzw. Araber gilt dieses Recht nicht. Verdammt, jetzt habe ich vergessen, wie man einen Staat nennt, der Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Rechte einräumt oder vorenthält.

Holger Kammel / 13.05.2021

Liebe Orit, ich bin leider aus dem Alter heraus, in dem “man zu den Waffen gerufen wird.” Wäre es anders, würde ich nach Israel eilen. Angebot, wenn ihr einen alten weißen Mann brauchen könnt, ich komme gern.

Johannes Schuster / 13.05.2021

Solange Gaza nur das Werkzeug anderer Staatsinteressen ist, wird sich das Problem nicht wirklich beheben lassen. Auch ist es ein alter Hut, daß sich aus der Defensive immer besser agieren läßt, das weiß jeder Schachspieler. Muß ich einen Schritt vorausdenken, oder nur interpolieren ? Warum man Israel Aggression nachsagt ist mir insofern schleierhaft, weil es ja nicht wirklich um einen Krieg geht. Gaza einzunehmen wäre für jede gut gerüstete Armee nicht wirklich schwierig, es wäre blutig und grauenhaft, aber es wäre etwas, was die Deutschen in Kommandoaktionen an der Ostfront im Wochentakt taten, Städte im Häuserkampf einnehmen. Die Deutschen sollen jetzt mal die Klappe halten mit ihrer Moral nur weil man sie 1945 kastrierte müssen sie nicht meinen als Moraleunuch nun die Isrealis belehren zu müssen. Gaza hat sich jahrelang durch eine horrende Geburtenrate förmlich an die Wand vermehrt. Die sozialen Probleme sind vorprogrammiert. Dazu kommt, daß Isreal als Riegel über vielen historischen Handelswegen des nahen Ostens liegt und sich ein technologischer Staat neben mittelalterliche Gesellschaften gesellt, was ein Armutsgefälle jeden Tag fühlbar macht. Diese Grundprobleme sind nicht mit Narrativen zu beheben und auch nicht mit lutherischen Moralgeschossen. Solange jede Religion meint, die die wahre Welt gepachtet zu haben solange wird es Konflikte geben, aus der jeweiligen kulturellen Innenbegründung heraus. Außerhalb extremer ideologischer Forderungen kann man Wege finden. Die Welt über den Alpen soll ihre Probleme lösen und das Mittelmeer die seinen.

Björn Knudsen / 13.05.2021

Die Lage ist sehr verfahren, wenn man in Lod nicht mehr dem Nachbar oder dessen Kindern trauen kann. Und viele Israeli, gerade mit höherem Einkommen, leben nicht in solchen Nachbarschaften oder als Siedler. Und auf Hilfe von den üblichen Verdächtigen sollte man nun wirklich nicht warten. In Deutschland hat sich die politische Elite auf unverbindliche Jahrestagsbekundungen eingerichtet. Aber dies konnte geschehen, nachdem auch Israel z.b. um 2015 nichts Kritisches zur muslimischen und sicher kaum israelfreundlichen Masseneinwanderung nach Deutschland gesagt hat. Hat Israel etwas gegen die Freilassung der Ekeltäter von Bonn und Münster nach Aufnahme der Personalien gesagt? Hat Israel sich vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden distanziert, der Antisemitismus mit Coronaleugnung in einen Zusammenhang brachte? Es ist zutiefst verständlich, wenn Israel endlich in Ruhe und Frieden leben möchte. Aber die Realitäten der Bedrohung und des Wegsehens auch in Deutschland können nicht ausgeblendet werden.

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