Helmut Kohl: Von Anfang an für die Einheit

Dass die Wiedervereinigung Deutschlands unter der Ägide Helmut Kohls gelang, ist bekannt. Dass er sich aber von Anfang an zur Einheit der deutschen Nation bekannte, dürfte in Vergessenheit geraten sein. Eine Erinnerung zum fünften Todestag.

Am 16. Juni vor fünf Jahren starb Helmut Kohl. Damals wurden seine Verdienste um das vereinte Deutschland noch gewürdigt. Mittlerweile werden sie schon mal „großzügig“ übergangen, siehe unten. Ist es da erlaubt, heute ausführlich daran zu erinnern, dass er schon lange vor 1989/90 die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zum Ziel seiner Politik erklärt hatte? Etwa, dass er dies nicht erst als Kanzler, sondern schon als Oppositionsführer 1976 im Bundestag tat?

Wie wenig dieses Bekenntnis, gar ein tätiges Hinwirken darauf, dem Auftrag des Grundgesetzes zu entsprechen, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, zu seiner Zeit noch als selbstverständlich angesehen werden konnte, verdeutlichen die Positionen der damaligen Opposition, nicht zuletzt explizit die Positionen der Grünen. Aber ebenso innerhalb seiner eigenen Partei, der CDU, gab es Widersacher gegen Kohls Kurs, vor allem ab 1988.

Kurze Rückblende. Kohl hielt in seinem Erinnerungsband [1] fest: „Wer damals für die Einheit eintrat, galt als Ewiggestriger oder Kriegstreiber.“ Auch seine Feststellung (ebenda) war korrekt, „dass das Festhalten an der deutschen Frage immer schwieriger wurde, weil der Zeitgeist immer stärker dagegen stand. Je länger die Teilung dauerte, desto größer wurde in der Bundesrepublik die Gruppe derer, die sich mit der Zweistaatlichkeit zumindest arrangiert hatte und die Teilung Deutschlands als Realität akzeptiert wissen wollte.“ Doch er hielt dem Druck stand, und das muss man vor diesem Hintergrund umso höher bewerten.

Kein Wort über Kohls Verdienst

Es lässt umso tiefer blicken, wenn zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit ausgerechnet das deutsche Staatsoberhaupt Kohls Namen komplett verschwieg. Das ging selbst dem Tagesspiegel zu weit. Er schrieb: „Wir Deutsche feiern 30 Jahre Einheit – und der sozialdemokratische Bundespräsident verliert kein Wort, nicht ein einziges, über Helmut Kohl, den Kanzler der Einheit. Weil er was war? Christdemokrat? Man muss Kohl nicht mögen, weiß Gott nicht, um dennoch seinen Beitrag (übrigens damit verbunden: zur europäischen Einigung) und seinen unbestreitbaren geschichtlichen Rang anzuerkennen. Und aus diesem Anlass, wie es sich gehört, zu würdigen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, und dies sei hiermit nachgeholt. Spannend dürfte heute vor allem sein, ob Kohls Partei, die CDU, seiner gedenken wird. Und wenn ja, wie.

Aufschlussreich über Kohls Deutschland-Politik sind unter anderem Ausführungen des 2017 verstorbenen Historikers Hans-Peter Schwarz, dem „Biografen der Bundesrepublik“, in der WELT vom 26. September 1992 [2], die ich hier auszugsweise zitieren möchte. Anlass war das zehnjährige Amtsjubiläum Helmut Kohls. Zu Beginn seines Artikels stellte Schwarz zunächst erst einmal fest: „Nur sechs Regierungschefs in 43 Jahren – damit gehört die Bundesrepublik zu den überdurchschnittlich beständigen Systemen.“ Und das in keineswegs einfacheren Zeiten als heute. Über das Leben in der Politik schrieb er: „Wenn einer zehn Jahre hinter sich hat – in einer, wie es ständig heißt, zunehmend ‚komplexer‘ werdenden Welt –, dann müssen ihm selbst die Gegner bescheinigen, daß er zu den politischen Überlebenskünstlern gehört. Denn [...] eine zehnjährige Amtszeit ist eine zehnjährige Großwildjagd.“ Auf keinen anderen Kanzler traf diese Metapher so sehr zu wie auf Helmut Kohl.

Der Enkel Adenauers“

Schwarz erinnerte daran, dass am Anfang noch allerhand Spott mitschwang, wenn man Kohl den Enkel Adenauers genannt hatte. Allerdings möchte ich einschränken, dass Kohl sich selbst als politischen Enkel Adenauers sah und von seinen Bewunderern auch so genannt wurde. Doch Kohls Gegnern sei der Spott, so Schwarz, Anfang der 1990er Jahre, längst vergangen. Schwarz meinte, zumindest weiterschauende Geister wüssten, „daß für die Historiker künftiger Generationen wohl nur zwei Bundeskanzler im 20. Jahrhundert von überragendem Interesse sein werden: der Gründungskanzler Adenauer und der Wiedervereinigungskanzler Helmut Kohl“. Seine Erklärung ist einleuchtend: „Und dies deshalb, weil diese so unterschiedlichen Politiker jeweils über die Geschichte der Bundesrepublik hinausreichen.“

So beginnt er denn auch erst einmal mit einem Rückblick auf die Regierungszeit Konrad Adenauers. Laut Schwarz habe Adenauer Deutschland in Gestalt des westlichen Kernstaates aus dem Zusammenbruch wieder emporgeführt und das zerbrochene Deutsche Reich gewissermaßen „umgegründet“. Tatsächlich kann nicht bestritten werden, dass der erste Kanzler der Bundesrepublik – vor allem in der unschlagbaren Kombination mit Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard – maßgeblichen Anteil am schnellen Aufstieg des westdeutschen Teilstaates nach dem Krieg hatte. Wurde Kohl später Kanzler der Einheit, so war Adenauer Kanzler der Freiheit. Der Historiker Schwarz vertrat sogar die Ansicht, Adenauers Werk, damit meinte er die in jeder Hinsicht westliche Bundesrepublik Deutschland, sei wirtschaftlich und politisch leistungsfähiger und außenpolitisch sicherer verankert gewesen als noch das Deutsche Reich unter Bismarck und darüber hinaus als demokratischer Verfassungsstaat stabiler als das inhomogene Kaiserreich.

Fortsetzer und Vollender Adenauerscher Politik

Helmut Kohl, so Schwarz, könne wiederum als Fortsetzer und Vollender Adenauerscher Politik begriffen werden. Schwarz: „Wenn es irgendeinen Kanzler gab, dem von Herkunft und Grundorientierung her die Westbindung des Bonner Staates zweifelsfreie Selbstverständlichkeit war, so diesem CDU-Politiker.“ Dabei zeigte Kohl exemplarisch, dass das Festhalten an Westbindung und Wiedervereinigung keine Gegensätze waren oder sein mussten. Schwarz formulierte es so: „Doch ausgerechnet dieser West-Kanzler hat in unerwarteter, einmaliger Konstellation innerhalb von elf Monaten Deutschland wiedervereinigt, die Geschichte der geteilten deutschen Staaten unversehens wieder in das schon fast vergessene Flußbett der Reichsgeschichte zurückgelenkt und Europa umgestaltet.“

Der Historiker ging dabei noch deutlich einen Schritt weiter:

„Nachdem das sowjetische Imperium zerbrochen ist, besteht die Neigung, in der Liquidierung der DDR einen fast unvermeidlichen Vorgang zu sehen. In Wirklichkeit aber muß der nach Osten hin so verständigungsbereite, so freundliche und alles andere als expansive Bundeskanzler doch als Mitverursacher des Zerfalls der Sowjetunion gewertet werden, auch wenn er dies sicher nicht gern hört und es nicht angestrebt hat.“

„Aber“, so fragte Schwarz, „ist es vorstellbar, daß der Moskauer Putsch vom August 1991 so eklatant gescheitert wäre, hätte der Verlust des Imperiums die Rote Armee nicht in einen Zustand der Betäubung versetzt? Der entscheidende Vorgang bei dieser friedlichen, aber eben deshalb so erschütternden Niederlage war doch der Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands. So hat dieser Kanzler nicht nur deutsche Geschichte gemacht, sondern auch – wohl eher ungewollt – russische Geschichte und Weltgeschichte.“

Kohls Politik wirkt weit über seine Kanzlerschaft hinaus

In den heutige Tagen erscheint es nötig daran zu erinnern, was Schwarz nicht ausgeführt hatte, vielleicht, weil es 1992 noch allzu offensichtlich war: Die Sowjetunion war ein künstlich erzeugtes Staatsgebilde, das sich auf brutalem Terror begründete und nur mit ihm aufrechterhalten werden konnte. Anders Deutschland: Hier wurde brutal auseinandergerissen, was zusammengehörte. Dass zwei politische Systeme in einem Land, die sich voneinander unterschieden wie Tag und Nacht, und welche über vier Jahrzehnte lang währten, dennoch ihre Spuren und Verletzungen in den Köpfen und Herzen der Menschen hinterließen, war wohl unvermeidlich.

Aber hätten die Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit das Ende der Teilung ihres Landes nicht gewollt, wäre es auch nicht zur staatlichen Einheit gekommen. Dies ist der grundlegende Unterschied zu einem Vielvölkerstaat, wie die Sowjetunion es war: Er zerfiel, weil hier unter dem Dach der UdSSR zusammengezwungen worden war, was sich nie als zusammengehörig empfunden hatte, da den einzelnen Völkern ihre Identität und Souveränität geraubt wurde. Deutschland dagegen wurde durch die aufgezwungene Teilung seiner Souveränität beraubt.

Damals, als Schwarz seinen Beitrag veröffentlichte, war noch viel die Rede davon, dass Deutschland nach der staatlichen Einheit seine „innere Einheit“ noch nicht gefunden hätte. Doch, so Schwarz, ob Kohl „die innere Wiedervereinigung gelingt oder ob er persönlich daran scheitert, ist demgegenüber in historischer Langzeitperspektive zweitrangig. Auch wie sich dieses Deutschland auf lange Sicht in Europa einfügen wird, ist zwar von größter Bedeutung für die Zukunft des Kontinents, kann aber an der geschichtlichen Rolle des Wiedervereinigungskanzlers nichts ändern, der die Grundstrukturen des europäischen Staatensystems revolutioniert hat, wie positiv oder wie problematisch sich dies auch immer auswirken mag“.

„Schmidt ist ihm in der Selbstdarstellung überlegen“

In seinem WELT-Essay arbeitete Hans-Peter Schwarz die Unterschiede zwischen Helmut Kohl zu seinen Vorgängern von Konrad Adenauer bis Helmut Schmidt heraus. Über Kohls Verhältnis zu Helmut Schmidt, die einander herzlich abgeneigt waren, schrieb er:

„Wie jedermann weiß er, daß ihm Schmidt in der Selbstdarstellung überlegen ist. Von allen Bundeskanzlern war Schmidt wohl der fähigste Debattierer, überhaupt ein großartiger Staatsschauspieler im besten Sinn, wie ihn die Demokratie von Zeit zu Zeit braucht, weil auch der durchschnittliche Bürger nicht auf Dauer vom Durchschnitt regiert werden möchte.“

Die geschichtliche Leistung seines Vorgängers mochte Helmut Kohl anders bewertet haben, so wie auch Schmidt Kohl lange als provinziell belächelt hatte, um es freundlich zu sagen. Dass Schmidt aber ein hervorragender Sicherheitsexperte gewesen sei, habe auch Kohl nicht bestreiten können, so Schwarz.

Diplomatisches Geschick und langer Atem

Dann bringt Schwarz (Stand 1992) mit folgenden Fragen zur Sprache, was Kohl seiner Meinung nach im Gegensatz zu Schmidt gelang:

„Ein Kanzler, unter dem die bundesdeutsche Wirtschaft wieder Tritt faßte? Ein Kanzler, dem die eigene Partei nie entgleitet? Ein Kanzler, dem dank psychologischem Feingefühl das Kunststück gelingt, zu zwei amerikanischen Präsidenten, zum Präsidenten Frankreichs und auch zu Gorbatschow jeweils ein freundschaftliches Verhältnis zu entwickeln, ohne das weder der Nachrüstungserfolg, noch die 1985 einsetzende Entspannung noch die Wiedervereinigung möglich gewesen wären? Und ein Kanzler schließlich, der das Thema Rüstung und Abrüstung mit viel Glück insgesamt viel erfolgreicher zu spielen verstand als sein kluger Vorgänger?“

Anders oder kürzer gesagt: Seine politischen Gegner haben ihm das gerne abgesprochen, nichtsdestotrotz verfügte Kohl über außerordentliches diplomatisches Geschick und einen langen Atem. Zudem war er als Historiker mit der deutschen Geschichte vertraut. Ohne diese Eigenschaften wäre ihm niemals gelungen, erst den NATO-Doppelbeschluss gegen etliche Widerstände durchzusetzen und dann im entscheidenden Moment sowohl die westlichen Verbündeten als auch Gorbatschow davon zu überzeugen, dass dem gesamten deutschen Volk das Recht auf Selbstbestimmung, und damit auch auf ein freies und geeintes Deutschland, auf Dauer nicht vorenthalten werden konnte.

„Deutschland ist unser Vaterland. Europa ist unsere Zukunft.“

Dabei entstammte Kohl eher dem Milieu der einfachen Leute. Dennoch war er bei jenen geradezu verhasst, die sich den Kampf um die Belange der „kleinen Leute“ demonstrativ auf ihre Fahnen schrieben. „Wie kommt es“, fragte Schwarz, „daß die linke Intelligentsia Kohl mit größerem Haß, besser: mit Verachtung, verfolgt als jeden seiner Vorgänger im Bundeskanzleramt? Weil er so demonstrativ ein Parteiboß ist? Weil er den linken Intellektuellen, die ihn schlechtmachen, schon unzählige Male und recht glaubhaft deutlich gemacht hat, daß er sie für Esel hält und über ihren Mißmut keine Minute lang nachdenkt? Weil er sich überhaupt nicht bemüht zeigt, durch hochgestochene Reden, durch ein Buch oder durch betonte Freundschaft mit einem der im Milieu tonangebenden Klüngel gewissermaßen dem Geßlerhut Reverenz zu erweisen?“ Mit seinen als Fragen getarnten Antworten dürfte Schwarz 1992 ziemlich ins Schwarze getroffen haben. Es war mit Sicherheit auch purer Neid linker Intellektueller im Spiel, der Kohl bei ihnen so verhasst machte.

Dem Geßlerhut hatte Kohl tatsächlich keine Reverenz erwiesen. Man mag einwenden, dass er später eben doch Bücher verfasste. Allerdings hatte da die gnadenlose Demontage seines Werkes längst begonnen, eine Demontage, die man nicht damit schönreden kann, dass auch ihm Fehler und Fehleinschätzungen unterliefen. Vor allem, was die europäische Einigung und den Euro betrafen, hatte Kohl die damit verbundenen Gefahren für Deutschland wohl unterschätzt. Anders aber als der heutigen Politikergeneration unterliefen ihm diese Fehleinschätzungen nicht aus ideologischer Verblendung heraus, sondern aus den Erfahrungen eines vom Krieg noch gezeichneten Jahrgangs.

„Nie wieder Krieg“ war für Kohl keine hohle Floskel. Und eines kann man Kohl ganz gewiss nicht unterstellen, nämlich, dass die Schaffung eines nach außen grenzenlosen Europas sein Ziel gewesen wäre, welches sich, seine Geschichte, seine Kultur und seine Werte immer mehr verleugnet. Ein Schlüsselsatz zum Verständnis von Kohls Position lautete vielmehr, und zwar genau in dieser Reihenfolge: „Deutschland ist unser Vaterland. Europa ist unsere Zukunft.“ Aus Kohls Sicht waren die deutsche und europäische Einigung mitnichten Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille, wie er oft unterstrich.

„Kernstück unseres nationalen Selbstverständnisses“

Überhaupt sprach Helmut Kohl, im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachfolgern, auffallend oft und ohne jegliche Berührungsängste vom „deutschen Vaterland“. Damit meinte er mehr als die Bundesrepublik. Er hatte wieder und wieder unbeirrt die Einheit der deutschen Nation betont, etwa bei der Eröffnung des Koblenzer Bundesarchivs 1986, als er erklärte, die deutsche Geschichte lasse sich ebensowenig wie die deutsche Nation teilen. Und: „Das Wiedervereinigungsgebot der Präambel (des Grundgesetzes, Anm. d. A.) ist für mich ein Kernstück unseres nationalen Selbstverständnisses.“ Seine Frau Hannelore Kohl, eine gebürtige Berlinerin, die in Leipzig aufwuchs, und die die Verbrechen der Roten Armee am eigenen Leib und schließlich die Zerstückelung und Teilung Deutschlands miterlebt hatte, mochte ihn darin erheblich bestärkt haben.

Die Bundesregierung unter Kohl hatte zudem schon kurz nach der Amtsübernahme den „Bericht zur Lage der Nation“ wieder rückbenannt in „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland.“ Das war vielleicht nur eine Nuance, doch sie entfaltete eine nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung auf die Deutschen hinter Mauer und Stacheldraht. Oder wie Georg Gafron, einst selbst aus der „DDR“ in den Westen geflüchtet, es im vergangen Jahr zum 17. Juni nochmals betont hat: „...für die Deutschen in der DDR war das Bekenntnis zur Deutschen Nation stets mit der Hoffnung auf Freiheit durch Wiedervereinigung verbunden.“ Kohl hielt diese Hoffnung aufrecht, als andere sie längst nicht nur fahrengelassen hatten, sondern alle übel beschimpften, die daran festhielten.

Das Gemeinsame der Deutschen in Ost und West

Das deutschlandpolitische Verdienst der von Kohl geführten Bundesregierung hatte die WELT im Leitartikel „Das Gemeinsame“ von Joachim Neander am 2. Dezember 1988 auf den Punkt gebracht:

„Sie hat mit ihrem beharrlichen Festhalten an der Einheit der deutschen Nation, an der Betonung der Westbindung und der Menschenrechte, aber auch an der Forderung nach der Wiederherstellung der Einheit immerhin trotz der Schwierigkeiten mit Ost-Berlin weitere kleine Fortschritte (Verzicht auf das Junktim zwischen Gewässerschutz und Elbgrenze, Ankündigung einer gesetzlichen Ausreiseregelung) erzielt. Sie hütet sich vor zu lauten Tönen, mitunter zur Enttäuschung vor allem vieler ‚DDR‘-Bewohner. Sie zeigt aber, daß sie die Vorgänge drüben mit großer, dem Zusammengehörigkeits- und Verantwortungsgefühl der Deutschen untereinander angemessener Aufmerksamkeit verfolgt und darauf reagiert.“

Das sei, so die WELT damals, „sehr viel klüger als [...] der rührende Appell an die SED-Führung, sie solle endlich ‚Pluralität der Ideen und Meinungen zulassen‘ – als sei ein Regime, das in das System einer marxistischen Staats- und Gesellschaftsdoktrin eingebettet ist, in dieser Hinsicht frei und vielleicht nur zu dumm, den richtigen Weg zu Glück und Fortschritt zu erkennen und einzuschlagen.“ Und er zitierte eine Aussage des damaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen: „In der DDR wächst jeder mit der Bundesrepublik Deutschland auf. Bei uns sollte das umgekehrt auch wieder so werden.“ Neander: „Regelmäßig und auch in Problemzeiten über dieses Gemeinsame Bericht zu erstatten, ist nicht der kleinste Beitrag dazu.“ Eben das tat Kohl bei seinen Berichten zur Lage der Nation im geteilten Deutschland.

Wir grenzen unsere Landsleute nicht aus“

Ebenso lehnte es Kohl es während seiner gesamten Amtszeit konsequent ab, auf Honeckers Geraer Forderungen von 1980 einzugehen, zu denen die Anerkennung der „DDR-Staatsbürgerschaft“, die Umwandlung der im Grundlagenvertrag von 1972 vorgesehenen Ständigen Vertretungen in reguläre Botschaften (was beides die Deutschen in der „DDR“ in der Bundesrepublik Deutschland zu Ausländern gemacht hätte), die Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter zur Registrierung von Menschenrechtsverletzungen des SED-Regimes sowie Grenzkorrekturen an der Elbe gehörten. Auch hierin unterschied Kohl sich diametral von Positionen der SPD und der Grünen.

Umso tragischer ist zu bewerten, dass unter der von ihm geführten Bundesregierung ab 1990 eine konsequenten Aufarbeitung der SED-Diktatur weitgehend unterblieb und die Akten der Zentralen Erfassungsstelle zulasten der Opfer, für die „Salzgitter“ einmal errichtet wurde, um ihnen wenigstens nach einer Wiedervereinigung Gerechtigkeit widerfahren lassen zu können, viele Jahre in einem Gerichtskeller verstaubten, bevor sie ins Bundesarchiv überführt wurden.

Davor hatte Kohl über den verbrecherischen Charakter des SED-Regimes wiederholt deutliche Worte gefunden. So erklärte er im Herbst 1986 in Düsseldorf, Ziel seiner Politik bleibe, Menschen zueinander zu bringen: „Aber das kann nicht heißen, daß ich anerkenne, daß ein kommunistisches Regime im anderen Teil Deutschlands etwa die Menschenrechte mit Füßen tritt.“ Und: „Wir denken nicht daran, die Staatsbürgerschaft der DDR anzuerkennen. Wir grenzen unsere Landsleute nicht aus.“

Staatsmännische Lösung der Deutschen Frage

In seiner Rede anlässlich des Besuchs von US-Präsident Ronald Reagan am 12. Juni 1987 in Berlin stellte der Kanzler und Historiker Kohl unmissverständlich klar, dass Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl nicht die Antwort der Geschichte auf die deutsche Frage seienAuch beim Empfang Erich Honeckers in Bonn im September 1987 betonte er, die deutsche Frage bleibe offen, das Bewusstsein für die Einheit der Nation sei wach wie eh und je, und: „Wir wollen Frieden in Deutschland, und dazu gehört auch daß an der Grenze Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht werden.“ Als dann in den Jahren 1989/1990 die Einheit und Freiheit Deutschlands erstmals seit 1945 in greifbare Nähe rückte, nutzte Kohl die nur für kurze Zeit bestehende einmalige Chance, seinen Worten Taten folgen zu lassen, siehe zum Beispiel hier und hier. Gerade in diesen für Deutschlands Schicksal so entscheidenden Momenten zeigte sich in ihm der wahre Staatsmann.

Einen ganzen Fundus an Zitaten Helmut Kohls hat seine zweite Frau Maike Kohl-Richter zusammengestellt. Sie machen noch einmal deutlich, wie schäbig es ist, die Verdienste ihres Mannes an der Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit dem Vergessen zu überantworten oder so zu tun, als sei Kohl nur rein zufällig dran beteiligt gewesen – wie es übrigens genauso schäbig ist, deutsche Opfer sowjetischer Expansionspolitik mit schöner Regelmäßigkeit totzuschweigen. Ihnen setzt bis heute niemand ein Denkmal.

Was Kohls Fehler betrifft, die er später vielfach selbst eingeräumt hatte, so seien seine Kritiker daran erinnert, dass man schon ganz anderen Leuten sehr viel schlimmere Vergehen sehr viel schneller verziehen hat – oder sie ihnen gar nicht erst vorhielt, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Vor allem die SPD und die Grünen (von der umbenannten SED ganz zu schweigen) sollten sich hier an ihre eigenen Nase fassen. Denn: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

 

Von Sabine Drewes lesen Sie außerdem passend zum Thema „Danke, Ronald Reagan!“.

 

Quellen:

[1] Helmut Kohl: „Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung“, Erinnerungsband 2009/14

[2] Hans-Peter Schwarz: „Das Wunder ist, daß er's ertrug so lang: Helmut Kohl ist zehn Jahre Bundeskanzler – Dem Geßlerhut wird die Reverenz verweigert“, DIE WELT v. 26.09.1992

Foto: Bundesarchiv/ Lothar Schaack CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Heiko Loeber / 15.06.2022

Er war der Kanzler der Einheit. Jetzt kommen nur noch Kanzelnde der Vielfalt.

J. Ramming / 15.06.2022

Kohl hat innenpolitisch versagt, außenpolitisch ist er einer der Großen der Weltpolitik. Man kann nun nicht alles haben. Unvorstellbar einen H. Schmidt in der Strickjacke, das Symbol des deutschen Spießers schlechthin, aber es hat bei Gorbi genutzt. Schmidt und Schröder, ja auch Schröder, haben Charakter bewiesen, da sie ihren Weg trotz Gegenwind der Partei (Nachrüstung diverse Harz) treu geblieben sind. Kohl hatte auch die Partei im Griff. Das war bei der Wiedervereinigung sein Vorteil. Aber, wichtig ist, was hinten rauskommt. Ich mag „Birne“.

Claudius Pappe / 14.06.2022

Kohl hat uns verkohlt und an Frankreich, England ( EU)  und den USA verkauft. Die Russen bekamen die Brosamen und großzügige Spenden der deutschen Bevölkerung um die Weihnachtszeit 1990. Der Anfang vom Ende. Das Ende der BRD.

Gottfried Solwig / 14.06.2022

Die Deutsche Einheit bedeutete für Helmut Kohl immer auch die Aussiedleraufnahme. Diese wurde 1998 außer Kraft gesetzt. Seit 1998 fanden nur noch Russen Aufnahme als sogenannte Spätaussiedler. Man nahm Russen auf und gab ihnen deutsche Familiennamen. Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen die eigentlichen Aussiedlern wird seit 1998 die Aufnahme verweigert. Helmut Kohl wäre heute in der AfD.

Sabine Drewes / 14.06.2022

@Rudolf Dietze: Sie haben recht. Danke für den Hinweis, das mit dem Grab habe ich bis eben noch gar nicht mitbekommen. Die Herabwürdigungen und Mäkelleien sind ja nichts Neues. Aber dieses ganze Ausmaß an Würdelosigkeit gegenüber der Person Helmut Kohl ist in der Tat zutiefst beschämend!

Wilfried Düring / 14.06.2022

Liebe Sabine Drewes, vielen Dank für die gerechte und alles in allem gelungene Würdigung eines großen Deutschen und eines großen Kanzlers. Ich freue mich sehr, daß SIE auf der Achse wieder schreiben! Danke. Kohl war der letzte deutsche Kanzler, dem sowohl die Polen, Balten, Ungarn usw. als auch die Russen vertrauten. Und ER hat sie nicht enttäuscht! Bergab ging es nach 1998. Über die - zum Teil von Hass geradezu triefenden - Kommentare hier im Forum bin ich entsetzt. Man kann Kohl, die Gestaltung des Einigungsprozesses in den 90’ern, die Arbeit der Treuhand, die Übernahme fast aller institutionellen Spitzenpositionen in Staat, Verwaltung, Universitäten, Kultur, Kirche, Publizistik durch Westdeutsche - man kann das alles sehr kritisch sehen und viele Fehler benennen. Aber DIESE Kommentare hat der Alt-Kanzler nicht verdient, man kann ihn nicht - alle anderen damit entlastend - als Sündenbock vorführen! Mitverantwortung am Scheitern der Einheit haben zu einem erheblichen Teil ehemalige WESTDEUTSCHE Kostgänger des Regimes, wie der jetzige Bundespräsident und seine Gesinnungs-Schwester Ex-Justizministerin Zypries, die in jungen Jahren in Zeitschriften des stasifinanzierten Verlages Pawel Rubelschein veröffentlichten! Niemand von Ihnen hat das erwähnt! Und es stört mich als Dunkeldeutschen, wenn hier immer wieder Verdächtigungen, die ein Hubertus Knabe hier auf der Achse als haltlos verworfen hat, als Tatsachen ausgegeben werden. Merkel war NICHT IM Erika - und ich werde das immer wieder sagen! Das ist hier ein Niveau heute, wie bei der Energiewende der Klimahüpfer, die bekanntlich durch umweltfreundliche Lithium-Batterien, gesunde infraschallerzeugende und bodenversiegelnde Windräder und zeitweisem Frieren - vor allem aber durch endlos wiederholte ermüdende und verlogene Propaganda-Schleifen dem Endsieg entgegengetrieben wird. ICH HABE ES SATT!

P. Schulze / 14.06.2022

In vielen Punkten stimme ich nicht mit ihm überein, hätte anders entschieden und gehandelt. Dennoch war Birne einer von den Guten. Der wäre nicht auf die Idee gekommen, mir die Tür einzutreten, solange ich mich gesetzeskonform verhalte. Auch wenn ihm mein Lebensstil zuwider gewesen wäre. Aber er war ein Demokrat. Und da lässt sich mehr Gemeinsames als Trennendes finden. Einen solchen Kanzler würde ich mir wieder wünschen. Aber bevor der kommt, muß es wohl erst einen “Great Reset” in Form eines Untergangs geben. Also einen ganz anderen “Great Reset” als den, welchen die Großen Resetter herbeihalluzinieren und vergeigen werden…  ;)

W. Renner / 14.06.2022

Der letzte im Kanzleramt, den man noch als Staatsmann bezeichnen konnte. Diejenigen, die ihn ständig nur lächerlich machten und machen, sind selbst nur lächerliche Gestalten. Freilich hat auch er Fehler gemacht. Das Mädchen war sein grösster und dass er den Demagogen Geissler nicht gleich rausgeschmissen hat, sein zweitgrösster.

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