Von Martin Heuser.
Hatte man bei Verhängung des ersten Lockdowns noch gehofft, dass es alsbald ein böses Erwachen gibt, muss man nun, rund acht Monate später, bei Verhängung des zweiten Lockdowns feststellen, dass es offenbar überhaupt gar kein Erwachen gibt. Jedenfalls üben sich unsere Regierungen landauf landab, und zwar in postfaktischer Manier, in einer völlig realitätsentrückten Rettungsrhetorik, die bei realistischer Betrachtung lediglich Unheilvolles erahnen lässt. Dies gilt ganz ungeachtet der Fragwürdigkeit einer solchen Semantik, die nämlich eine vollkommene Verlorenheit beim Ausbleiben der durch sie als alternativlos anempfohlenen Rettungshandlungen insinuiert.
Denn die systematische Überforderung in der maßgeblich durch Hybris beeinflussten Setzung der eigens gesteckten und unmittelbar mit aller Staatsmacht verfolgten Staatsziele, von der Bankenrettung über die Flüchtlingsrettung bis hin zur Klima- und Weltrettung, und nunmehr der totalen Errettung vor Infizierung mit einem grippeähnlichen Virus, führt notwendig zur Aufhebung allen bürgerlichen Rechts. Und damit zur totalen Entmündigung des einzelnen Bürgers.
Schließlich hat der Staat – als Vereinigung einer Menge von mündigen Menschen unter Rechtsgesetzen zu einer bürgerlichen Gesellschaft, nach seinem Begriff von sich selbst – mit allgemeinen Gesetzen lediglich die Bedingungen dafür zu schaffen und zu garantieren, dass die Freiheit des einen mit der eines jeden anderen Bürgers zugleich bestehen kann. Der bürgerliche Rechtszustand besteht also in einem sozialen Zustand unter allgemeinen Gesetzen, in dem der souveräne Einzelne sein Leben in gemeinschaftlicher sowie individueller Selbstbestimmung in Gesellschaft mit seinesgleichen leben kann, wobei der Begriff des Lebens selbstredend mehr bedeutet als die nackte physisch-biologische Existenz.
Die durch untergesetzliche Exekutivregeln weitgehend bezweckte Aufhebung des bürgerlichen Lebens in Gesellschaft – namentlich im vorgeblichen Interesse des bloßen Gesundheits- und Lebensschutzes – kann die öffentliche Sache (die res publica) des Staates damit nicht sein. Denn die unmittelbare Verkehrung der menschlichen Sozialität unter allgemeinen Gesetzen in eine unmenschliche Asozialität mittels solcher Exekutivregeln ist mit Begriff und Zweck des Staates schlechterdings unvereinbar. Daher erweisen sich nicht nur die asozialen massenhygienischen Mittel zur Aufhebung des bürgerlichen Lebens, wie Ausgangs‑, Kontakt‑, Besuchs‑, Beherbergungs‑, Tätigkeits‑, Erwerbsverbote und dergleichen mehr als rechts- und verfassungswidrig, sondern es behauptet sich bereits die Zwecksetzung als solche in ihrer unmittelbar gesetzten Absolutheit als rechts- und verfassungswidrig. Die totale und deshalb ins Totalitäre sich wendende Verhinderung eines natürlichen Vorgangs, wie die Infektion mit einem potenziell Atemwegserkrankung auslösenden Virus, ist als Zweck einer staatlichen Handlung mit dem bürgerlichen Leben unter allgemeinen Gesetzen unvereinbar. Nicht der Zweck heiligt die Mittel, sondern alleine das allgemeine Gesetz. Daran fehlt es im Falle von Corona.
Totalitärer Infektionsschutz und völlige Gesetzesverkehrung
Zwar verfolgt das Infektionsschutzgesetz den legitimen Zweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Dies allerdings nicht um jeden Preis, folglich auch nicht um den Preis einer weitgehenden Aufhebung des bürgerlichen Lebens. Der skizzierte Grundgedanke der Rechts- und Verfassungswidrigkeit bereits zur Zwecksetzung eines totalen Infektionsschutzes offenbart sich somit auch im positiven Infektionsschutzrecht:
Es ist nämlich kein bloßer Zufall, dass die infektionsschutzrechtliche Generalermächtigung des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG nicht dafür gemacht ist, ganzen Gesellschaften das Leben auszuhauchen. Schließlich setzt die Verhängung einer infektionsschutzrechtlichen „Schutzmaßnahme“ eine konkrete Gefahr voraus, sodass es zugleich eines hinreichend konkreten Zusammenhangs zwischen dieser konkreten Gefahr und der zu ihrer Abwendung ergriffenen Maßnahme bedarf. An diesem konkreten Zusammenhang fehlt es jedoch notwendig dort, wo als Adressat dieser allenfalls sehr mittelbar wirksamen Maßnahmen eine zu mehr als 99 Prozent völlig ansteckungsunverdächtige Bevölkerung in Geiselhaft genommen werden soll, und zwar zur Erreichung ganz diffuser und variierender Zwecke im Hinblick auf eine nicht zu leugnende, aber zugleich auch kaum konkret zu fassende Gefahr.
Die Konsequenz aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit des Gesetzes zur Rechtfertigung der beabsichtigten Maßnahmen kann und darf dann in einem freiheitlichen Staat allerdings nicht diejenige sein, das Gesetz mit seiner Generalklausel als unzureichend anzusehen und die beabsichtigten Maßnahmen achselzuckend gleichwohl zu verordnen. Vielmehr hat die flächendeckende Inanspruchnahme der ansteckungsunverdächtigen Bevölkerung zwingend zu unterbleiben, weil sie schlicht rechts- und verfassungswidrig ist.
Gäbe die infektionsschutzrechtliche Generalklausel den seit Monaten praktisch zur Regel gewordenen Ausnahmezustand dagegen tatsächlich her, wäre die darin vermeintlich verfassungskonform geregelte Ermächtigung zu allerlei Grundrechtsaufhebungen völlig voraussetzungslos, sodass der hierin liegende Verstoß gegen den Parlaments- und Gesetzesvorbehalt doch eigentlich für jedermann offenbar zutage liegen müsste, weil an eine Maßnahme sodann scheinbar umso geringere Anforderungen zu stellen wären, je einschneidender sie sich für den Adressaten darstellte.
Handlungsfreiheit nur noch in homöopathischer Dosis
Nimmt man die völlig ansteckungsunverdächtige Bevölkerung gleichwohl flächendeckend in Geiselhaft, so resultiert hieraus notwendig die totale Verkehrung des Gesetzes und damit flächendeckend ein rechts- und verfassungswidriger Zustand. Dies offenbart sich an keinem anderen Grundrecht so gut wie an der allgemeinen Handlungsfreiheit. War bis dato grundgesetzlich alles erlaubt, was nicht gesetzlich verboten war, ist zwischenzeitlich faktisch alles verboten, was die Infektionsschutzverordnungen der Länder in ihrer Güte nicht ausdrücklich erlauben.
Handlungsfreiheit besteht also – sofern man nicht ohnehin ohne jeden richterlichen Beschluss schon von seinesgleichen „abgesondert“ wurde – de facto nur noch, soweit und sofern sie dem Volkskörper von der Regierung in homöopathischen Dosen verabreicht wird, und zwar lediglich bis auf therapeutischen Widerruf durch die nächstfällige Verordnungsänderung. Die Staatsregierung bestimmt daher – so gut sie das eben kann – bis in jede Einzelheit, welche Veranstaltungen und Einrichtungen noch oder schon wieder zulässig sind, wer noch oder schon nicht mehr besucht werden darf, mit wem und mit wie vielen Personen wir uns öffentlich oder privat gerade treffen dürfen.
Sie bestimmt auch, welche Textilien an welcher Körperstelle dabei zu tragen sind, welche körperliche Nähe maximal zulässig ist, welche Luftqualität stets gewährleistet sein muss, und welche Getränke dabei konsumiert werden dürfen. Die Staatsregierung bestimmt schließlich, dass all dies lückenlos zu dokumentieren ist, und dass derjenige nach gesetzlich ohnehin nicht ausreichend bestimmten Sanktionsnormen möglichst hart zu sanktionieren ist, der diese Kojunierung und Schikanierung mitzumachen nicht willens oder in der Lage ist.
Da dies aber noch nicht reicht, um auch die wenigen jetzt noch verbleibenden Abweichler im Zaum zu halten, ruft sie schließlich im Wege der „Nachbarschaftshilfe“ zur wechselseitigen Denunziation auf und droht den Bürgern damit, völlig unausgebildete und obendrein bewaffnete Hilfssheriffs auf sie zu hetzen, womit sie ihren Untertanen letztlich unverhohlen denjenigen Krieg ansagt, der als eine Art Bürgerkrieg mit subtilen Mitteln längst auch schon unter den verfeindeten Lagern der gespaltenen Gesellschaft ausgetragen wird. Die gesundheitspolitische Brandstiftung am sozialen Frieden der Gesellschaft zur Ausräucherung des Coronavirus kennt keine Grenzen mehr.
All dies klingt also nicht nur totalitär. Es ist totalitär.
Vereitelung effektiven Rechtsschutzes
Galt also bis Mitte März 2020 noch der rechtsstaatliche Grundsatz, dass staatliche Eingriffe ins Individual- und Gemeinleben nach Grund und Folge umso besser und positiv begründet sein müssen, je einschneidender und drastischer sie sind, soll sich die nicht weiter hinterfragbare Dignität der Corona-Schutzmaßnahmen gerade aus einer viel beschworenen Ungewissheit legitimieren. Dies hat zur Folge, dass anscheinend umso mehr und umso schwerwiegendere Maßnahmen gerechtfertigt werden können, je apokalyptischer und je weniger nachprüfbar die Gefahrerzählung durch Politik, Medien und Staatsvirologie daherkommt.
Gegen ein völlig unbekanntes Virus aus dem chinesischen Wuhan, das bekanntermaßen im höchstem Maße gefährlich sein soll, ist dann gerichtlich nichts Nennenswertes mehr auszurichten. Darüber können auch die wenigen Gerichtsbeschlüsse in den letzten Monaten nicht hinwegtäuschen, die eine punktuelle und oft nur kurzfristig wirksame Aufhebung einzelner Maßnahmen zur Folge hatten. Denn der rationale Standpunkt des Subjekts ist damit längst verlassen.
Tatsächlich findet eine gerichtliche Überprüfung der behördlich sowie gerichtlich behaupteten Gefahrenlage daher auch nicht statt, obwohl zu einer sachverständig beratenen Überprüfung hinreichende Veranlassung bestünde. So ist bis heute ungeklärt, wie sich aus dem vorgelegten Zahlenmaterial des RKI ein exponentielles Wachstum des Infektionsgeschehens belegen lässt, wenn sich diesem jedenfalls unmittelbar lediglich ein annähernd exponentielles Wachstum durchgeführter Tests sowie absolut positiver Testergebnisse zu gewissen Zeiträumen entnehmen lässt, während die Quote der positiven Tests bloß moderaten Veränderungen unterlag.
Ungeklärt ist auch die Bedeutung insbesondere der falsch-positiven Tests, wie sich jüngst anhand eines Augsburger Labors eindrücklich zeigte, das in einer Stichprobe nachweislich 58 falsch positive aus 60 durchgeführten Tests produziert hatte. Diese Ungewissheit wird zudem nochmals verstärkt durch die fehlende Normung des zur Diagnostik ohnehin ungeeigneten PCR-Tests sowie die Problematik des CT-Werts. Völlig unklar ist ferner, aufgrund welcher konkreten Prognose die Staatsregierungen von einer Überlastung des Gesundheitswesens ausgehen dürfen und weshalb an dieser Stelle über den Sommer nicht einfach mit infrastrukturellen Gegenmaßnahmen Abhilfe geschaffen wurde, sodass man nun nicht unter Verguss einiger Krokodilstränen vorgeben müsste, zum Erhalt der künftig möglicherweise einmal gefährdeten Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens abermals der Gesellschaft den ihr zuletzt noch verbliebenen Saft abdrehen zu müssen.
„Die Grundrechte gelten, aber anders als vor der Krise“
Stattdessen behauptet sich die Gefahreneinschätzung des RKI, das die Gesundheitsgefahr für die Gesamtbevölkerung seit Anfang März bekanntlich unverändert als „hoch“ beziehungsweise „sehr hoch“ einschätzt, als gerichtlich unangreifbar, nachdem der Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs – Peter Küspert – am 26.03.2020, unter Berufung auf § 4 IfSG, im Alleingang entschieden hatte, dass dessen Einschätzung eine besondere Bedeutung zukommt.
Indessen lässt sich dem Infektionsschutzgesetz jedoch mit keinem Wort entnehmen, dass die behördliche Risikoeinschätzung des RKI keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt, sodass es sich bei dieser Rechtsprechung um eine Aufgabe der grundgesetzlichen Unabhängigkeit der Dritten Gewalt handelt. Besteht man dagegen unter Hinweis auf diesen misslichen Umstand gegenüber dem Verfassungsgerichtshof auf einer Sachentscheidung im Eilverfahren, riskiert man als Kläger, mit einer sogenannten Querulantengebühr belegt zu werden, die das Gesetz für diesen Fall obendrein noch nicht einmal vorsieht.
Mittlerweile ist effektiver Rechtsschutz aber auch schlicht aufgrund der Vielzahl der ständigen Veränderungen unterliegenden Regeln sowie der Vielzahl der regelsetzenden Körperschaften unmöglich zu erlangen. Denn wer sich in Deutschland unter Inanspruchnahme seiner Grundrechte freizügig über kommunale sowie bundesländliche Grenzen hinwegbewegen wollte, müsste Rechtsschutz nicht nur gegen die Verordnungsregelungen verschiedener Länder, sondern auch gegen Allgemeinverfügungen unzähliger Kommunen suchen. Allein dieser Umstand belegt zu Genüge, dass wir es mit einem ungesetzlichen und verfassungswidrigen Zustand zu tun haben, der mit den bekannten Mitteln des gerichtlichen Rechtsschutzes durch einzelne Rechtsschutzsuchende nicht mehr beseitigt werden kann.
Dass der „Rechtsstaat funktioniert“, wie man sich in Juristenkreisen dieser Tage allerorten nach Art einer buddhistischen Gebetsmühle gerne einzureden pflegt, kann daher bestenfalls als frommer Wunsch gelten. In Wahrheit handelt es sich dabei um eine naive Selbstüberredung. Hatte doch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts selbst im Zusammenhang mit seiner Wahl in dieses hohe Amt bereits im schönsten Neusprech den Satz geprägt: „Die Grundrechte gelten, aber sie gelten anders als vor der Krise.“
In schlechter geistiger Verfassung
Die Staatsregierungen der Länder nehmen ihrer Gesellschaft sowie den Bürgern in ihrem völlig aussichtslosen Schattenkampf gegen die täglich steigenden Testzahlen ohne ernstzunehmende gerichtliche Kontrolle zunehmend die rechtliche und wirtschaftliche Existenzgrundlage, das Leben. Der entgegen der Warnungen der WHO sowie entgegen der gemeinsamen Position von Wissenschaft und Ärzteschaft, trotz zwischenzeitlich besserer Einsicht in die tatsächliche Gefahrenlage, in einem neuerlichen Evidenzfiasko abermals über das gesamte Land verhängte Lockdown mit seiner bizarren Rettungs- und Vernichtungslogik ist dafür nur ein weiteres Beispiel.
Dass sich gegen diese bar jeder belastbaren Tatsachengrundlage, gleichsam postfaktisch und ohne jede Not fortgesetzte Ruinierung zahlreicher Existenzen in großen Teilen der Gesellschaft indessen kein wirkmächtiger Widerspruch formiert, lässt gesamtgesellschaftlich nichts Gutes erahnen. Denn eine Gesellschaft, die gegen ein zusehends totalitär agierendes Regime nicht ansatzweise aufbegehrt, sondern sich mit frisch gedruckten Schweigegeldern in Schach halten lässt, muss zumindest im Grunde ihres Bewusstseins empfänglich sein für ein totalitäres Denken.
Dann aber erleidet sie die ihr mit „brachialen“ Maßnahmen, gesetzlich völlig ungezügelt zugefügte Unfreiheit, ihre gänzliche Entwürdigung durch Degradierung zur Unselbstständigkeit, vollkommen zu recht. Es ist somit kaum zu erwarten, dass das inaugurierte Regelungsregime, und mit ihm die apokalyptischen Wellenmacher und Wellenreiter, durch den alleine längst angezeigten Klagetsunami alsbald ein für allemal hinweggefegt werden. Der Ausnahmezustand wird sich deshalb in nächster Zeit weiter zum neuen Regelzustand verfestigen; die Angst vor einem Atemwegsinfekt wird sich zunehmend zu einer kollektiven Geisteskrankheit auswachsen, die einen völlig sinnentkleideten Hygienezwang nicht als Krankheit, sondern als staatliche Schutzmaßnahme begreift.
Dr. Martin Heuser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie der Universität Regensburg.