Erdogans merkwürdige Coolness

In rund 50 Tagen wird in der Türkei gewählt und für Erdogan sieht es nicht gut aus. Und doch ist er die Ruhe selbst. Stimmt da was nicht?

Der Muttertag ist für die Türkei von immenser Bedeutung. Das ist zwar alle Jahre wieder der Fall, aber dieses Jahr umso mehr, denn es wird gewählt an diesem Tag. Am 14. Mai wird sich entscheiden, ob Erdogan zu seinen 20 Jahren, in denen er die Türkei zum Islam und zur Rückständigkeit in den Köpfen geführt und die Bildung auf Sparflamme gestellt hat, dieses noch einige Nuancen dunkler gestalten kann oder Schluss damit ist.

Die Umfrageergebnisse sprechen eine eindeutige Sprache, nämlich dass er gegangen werden wird. Die heikle Frage ist, was er sich einfallen lässt, um doch weiter zu regieren.

Wir haben schon viele Wahlen mit ihm als Sieger gesehen und haben Vergleichsmöglichkeiten. Irgendwie ist dieses Mal alles anders. Er ist die Ruhe selbst und aktiven Wahlkampf betreibt er kaum. Umso erstaunlicher wirkt das Ganze, wenn man bedenkt, dass er noch niemals zuvor vor so einem Umfragen-Tief stand. Theoretisch wie praktisch ist seine Wiederwahl unmöglich, eigentlich – wenn er nicht der Erdogan wäre.

Kein Weg zurück zur parlamentarischen Demokratie

Leider ist man nach so vielen Jahren Erdogan dermaßen abgestumpft, dass nicht einmal das Kopfkino abläuft, dass man sich ihn als den Verlierer vorstellen mag. Geht er einfach so, setzt er sich über Nacht ab, oder lässt er durch seine Anhänger Blut fließen, sodass sich bürgerkriegsähnliche Szenen in der Türkei abspielen? Wahrlich kann man sich eines nicht vorstellen, nämlich, dass er die Niederlage akzeptiert und geht. Im Falle einer Niederlage von Erdogan dürften die Flüge aus der Türkei in alle Richtungen ausgebucht sein. Es sind sicher Zehntausende, die die letzten Jahre an seinem System beteiligt waren und Unrecht walten ließen und jetzt die Rache der Sieger fürchten müssen. Die Abrechnung danach ist etwas typisch Türkisches und wenn das nach über zwanzig Jahren Unterbrechung passiert, umso größer und umfassender.

Wenn wir uns schon bildlich nicht vorstellen können, dass er geht, sollten wir vielleicht einige Tage später ansetzen. So um den 25. Mai herum. Die Türkei ist dann vom Krebsgeschwür Erdogan befreit. Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ist der neue Präsident. Die blutigen ersten Tage haben wir hinter uns gebracht, es herrscht Aufbruchsstimmung. Schon wieder ist man blockiert, was das Kopfkino angeht. Was passiert, wenn Kemal Kilicdaroglu zum Präsidenten gewählt wird, aber die Partei von Erdogan, die AKP und die Koalitionspartner, immer noch die stärkste Kraft im Parlament bleiben?

In diesem Fall dürfte Erdogan noch im Lande geblieben sein und die Chancen abwägen, wie er das Rad nochmals zu seinen Gunsten rumreißen kann. Die Vorstellung, dass das Land wieder zur parlamentarischen Demokratie zurückfindet, weg vom Einmann-Regime, würde nicht funktionieren. Auch ich, ein Befürworter der parlamentarischen Demokratie, wäre dann dafür, dass es bei dem derzeit herrschenden Präsidialsystem bleibt. So hätten wir wenigstens einen Demokraten als Präsidenten an der Spitze, der das Wohl des Landes und seiner Bevölkerung als vordergründig betrachtet und keine Machtfantasien auslebt, wie Erdogan das immer tat.

Die Türkei steuert in eine ungewisse Zukunft

Die Türkei wäre dann bei der Schwäche des Präsidenten Kemal Kilicdaroglu, der das Parlament nicht mehrheitlich hinter sich hätte, fast nicht regierbar oder nur schwer. Schon könnte man den nächsten Wahltermin festlegen.

Es gibt für die Türkei nur eine Rettungsformel, um aus dem Schlamassel komplett rauszukommen. Damit meine ich die marode Wirtschaft sowie die Tatsache, dass seit Jahren kein ausländisches Kapital mehr ins Land fließt, die hohe Inflation sowie Arbeitslosigkeit und Armut, die nicht mehr schleichend daher kommt, sondern die Nation voll erfasst hat.

Zurück zur parlamentarischen Demokratie. Ein Fünf-, oder noch besser, Zehnjahreswirtschaftsplan, den man dem Internationalen Währungsfonds IWF vorlegen und für den man ca. 500 Milliarden Euro Kredite bekommen kann, müsste her. Mit weniger ist die Wirtschaft nicht aufzurichten und die Inflation nicht in den Griff zu bekommen. Die Umsetzung der Bedingungen des IWF, die zwangsläufig sehr streng ausfallen würden, würde bedeuten, dass man den Gürtel abermals noch enger schnallen müsste. Das tut man momentan auch, weil die Armut überall präsent ist, nur dann müsste man es, weil es von der IWF-Seite so vorgegeben wäre, denn sonst gibt es kein Geld und keine Rettung für die Wirtschaft.

Wir steuern auf unsichere Zeiten zu in der Türkei. Gespannt darf man sein, wer die Multimillionen und allseits unbeliebten Flüchtlinge zum Wahlkampfthema machen wird. Die Versprechen einiger Politiker, dass sie im Siegesfall die Flüchtlinge dorthin zurückschicken werden, woher sie hergekommen sind, sind nicht durchführbar. Die Gemüter sind erhitzt und die Türkei steuert in eine ungewisse Zukunft, egal wer gewinnen wird.

 

Ahmet Refii Dener, geb 1958, ist deutsch-türkischer Unternehmensberater, Blogger und Internet-Aktivist aus Unterfranken.

Foto: DonkeyHotey CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

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Gunther Laudahn / 22.03.2023

” Diese Hirtenreligion eines pädophilen Kriegstreibers ist der größte Klotz am Bein unserer Nation.” ( General Mustafa Kemal ca 1954)

Ludwig Luhmann / 22.03.2023

Vielleicht ist er geboostert und hat “Brain Fog” im Kopf?

Ralf Pöhling / 22.03.2023

Nachdem was heute bei der FAZ zu lesen war, hat Erdogan den Schulterschluss mit der HÜDA-PAR, dem politischen Arm der kurdisch-islamistischen Hizbullah in der Türkei gesucht und wohl auch gefunden. Die Hizbullah hat sich in der Türkei vor der Jahrtausendwende als Terrororganisation mit etlichen Mordanschlägen gegen die sozialistisch tickende PKK und ihre Anhänger hervorgetan. Über eine damalige Unterstützung durch den Staat wird gemutmaßt. Über einen Draht in den Irak auch. Dieser Draht ist nach meinen Beobachtungen wohl nie abgerissen und zeigte sich auch in der indirekten Unterstützung der IS Kämpfer durch die Türkei während des Syrienkrieges. Das lässt nichts gutes erahnen und bestätigt letztlich meinen seit Jahren vorherrschenden Eindruck. Ich kann es nur noch mal wiederholen: Die AKP hat über 20 Jahre darauf hingearbeitet, das Osmanische Reich wiederzuerrichten. Im Juni endet der Vertrag von Lausanne. Die werden so kurz vor dem Ziel nicht kampflos aufgeben. Insbesondere deren junge Anhänger nicht, die über die letzten zwei Jahrzehnte in rauen Mengen durch Erdogan nebst Umfeld mit ausufernder türkisch-nationalistischer Propaganda herangezüchtet worden sind. Und dann knallt es nicht nur in der Türkei, sondern kurz darauf auch in Griechenland und dann natürlich auch bei uns. Nicht nur wegen des NATO Bündnisfalls, sondern auch, weil wir hier die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei haben. Und dann geht das Spiel mit der Freund-Feind Erkennung los. Und wenn die nicht sauber funktioniert, wird es “Kollateralschäden” hageln, wie seit 80 Jahren nicht mehr. Wir müssen auf jeden erdenklichen Fall vorbereitet sein. Ich habe leider immer noch den Eindruck, dass viele Politiker in Deutschland den Ernst der Lage nicht wirklich erkannt haben und das alles viel zu locker nehmen. Ich halte es für ausgeschlossen, dass sich Erdogan einfach abwählen lässt. Man kann nicht alles mit Geld regeln. Das hat damals nicht funktioniert und es funktioniert auch heute nicht.

Dirk Jürgens / 22.03.2023

Ohne Gewalt und Blutvergießen wird das nicht abgehen. Egal wer am Ende siegt, unsere Regierung, allen voran Frau Faeser, sollte uns schonmal propagandistisch vorbereiten: Wir haben Platz! Es gibt keine Flüchtlinge zweiter Klasse! Wir schaffen das! Vielleicht sollten wir mal über syrisch-afghanisch-ukrainisch-kurdisch’türkische Wohngruppen in ehemaligen Altenpflegeheimen nachdenken (sind ja lukrativer für unsere Kirchen). Und die Millionen “Schutzsuchende”, die seit Jahren in Istambul usw. auf ihr Ticket ins deutsche Sozialsystem warten, kommen dann auch noch. Denn den Deal von 2016 gibt’s dann nicht mehr.

Jan des Bisshop / 22.03.2023

Möge die Opposition die Wahl gewinnen, Herr Erdogan wird auf jeden Fall die Auszählung gewinnen.

Fred Burig / 22.03.2023

“Am 14. Mai wird sich entscheiden, ob Erdogan zu seinen 20 Jahren, in denen er die Türkei zum Islam und zur Rückständigkeit in den Köpfen geführt und die Bildung auf Sparflamme gestellt hat, dieses noch einige Nuancen dunkler gestalten kann oder Schluss damit ist.”  Sehr geehrter Herr Dener, was in der Türkei passiert - oder auch nicht - das ist Sache der Türken! Wir haben genug eigene Probleme in Deutschland und die sind nicht weniger prekär! Die Türken sollen das in ihrem Land machen, was sie für richtig halten, genau so wie die Russen und Ukrainer in ihren Ländern! Was passiert, wenn man sich in fremde Angelegenheiten einmischt, sieht man doch bei uns. Und schlimmer wie mit unseren ökofaschistischen Machthabern, kann es wohl dort auch nicht sein. Also mein Vorschlag: Reden SIE mit ihren Landsleuten in der TÜRKEI darüber und WIR sehen bei UNS hier zu, wie wir das Politiker- Pack hier bändigen können! Ansonsten sollte es für beide Länder dauerhaftes Ziel sein, in friedlicher Koexistenz und guten wirtschaftlichen Beziehungen zu leben! MfG

rei regav / 22.03.2023

ich schätze ihre kommentare sehr herr dener. ihren blog habe ich auch schon an türkische bekannte weitergeleitet und dazu positive rückmeldungen bekommen. in einem muß ich ihnen aber widersprechen: ich glaube, daß die türkei mehr türkische flüchtlinge hat, als arabische flüchtlinge in der türkei sind(zbsp kurden).  und sollte sich die türkei ihrer arabischen flüchtlinge entledigen wollen, so werden diese nicht nach syrien wandern, sondern nach mitteleuropa. erdogans freund herr putin wird schon wissen wie das serbische türl aufgeht ....

Didi Hieronymus Hellbeck / 22.03.2023

Recep der Prächtige wird am Ruder bleiben. Er weiß es. Onkel Joe hat ihm gesteckt, wie das geht. Daher diese Ausstrahlung von Souveränität beim Prächtigen. Und Onkel Joe der Tattrige freut sich darauf, dem Prächtigen zuschauen zu dürfen, wie er den Scholzofanten von achtern nimmt. So wie er es bereits mit Angela der Ohnmächtigen tat.

Rolf Mainz / 22.03.2023

” Ein Fünf-, oder noch besser, Zehnjahreswirtschaftsplan, den man dem Internationalen Währungsfonds IWF vorlegen und für den man ca. 500 Milliarden Euro Kredite bekommen kann, müsste her. Mit weniger ist die Wirtschaft nicht aufzurichten und die Inflation nicht in den Griff zu bekommen.” Warum so schüchtern? Warum nicht gleich ein Hundertjahresplan, oder gar Tausendjahresplan? Und warum die Limitierung auf läppische 500 Milliarden Euro? Da muss mehr drin sein.

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