Rainer Bonhorst / 13.07.2021 / 10:00 / Foto: Jeremy Thompson / 64 / Seite ausdrucken

England oder Italien: Eine politische Entscheidung

Da ich gerne zwischen England und Italien pendle, fragte ich mich natürlich: Mit welchem Fußball-Finalisten soll ich es halten? Die Entscheidung fiel diesmal knapp, aber klar für Italien aus.

Eine gewisse Leere breitet sich in mir aus. Keine Fußball-Europameisterschaft mehr. Schluss aus. Es herrscht abendliche Stille. Oder man muss sich unterhalten, was natürlich kein vollwertiger Ersatz ist. Auch sonst ist Sommerpause im Fußball. Eigentlich wäre auch die Politik reif für die Sommerpause. Aber die muss weiterwursteln und sich auf die nächste Welle vorbereiten. Delta droht. Dabei wäre Angela Merkel sicher lieber in Wembley gewesen, beim Endspiel Deutschland gegen England. Aber das fand ja nicht statt. Darum musste sich Prinz William auf der Tribüne mit seiner Kate begnügen. Kein Wunder, dass er enttäuscht vom Platz ging.

Die Enttäuschung hatte natürlich auch damit zu tun, dass die Engländer wieder mal verloren haben. Und das vor einem von Covid unbeeindruckten 60.000er-Publikum. Und was für ein Publikum das war! Vom feinen Prinzen bis zu wilden „God-save-the-Queen“-Sängern, die ihr patriotisches Lied aus ebenso voller wie nackter Brust beziehungsweise nacktem Bauch brüllten. Die lautesten Sänger waren wohl auch diejenigen, die hinterher die drei armen players of colour, die ihre Elfmeter verschossen, mit rassistischen Beleidigungen bedachten. Fußball ist eben wie das wahre Leben und manchmal noch hässlicher.

Fußball und Politik führen für mich ein Zwillingsleben

Da ich gerne – wenn man mich lässt – zwischen England und Italien pendle, fragte ich mich natürlich: Mit wem soll ich halten? Die Entscheidung fiel diesmal knapp, aber klar für Italien aus. Warum? Weil die italienische Mannschaft ihre Hymne nicht nur inbrünstiger, sondern auch schöner sang als das Heimteam und der Chor seiner Anhänger? Weil die Engländer den Vorteil hatten, auf eigenem Platz zu spielen, was ja ein bisschen unfair ist?

Nein. Fußball und Politik führen für mich ein Zwillingsleben. Und das neue Brexit-England geht mir ziemlich auf die Nerven. So sehr ich die Weigerung einer traditionsreichen Demokratie nachvollziehen kann, sich von Brüsseler Bürokraten bevormunden zu lassen: Boris Johnson's Brexit-England ist nicht mehr das sympathische Inselland, das es einmal war. An den Grenzen werden Reisende vom Kontinent so abweisend behandelt, als wollten sie eine fünfte Kolonne bilden. Der verständliche Patriotismus eines kultivierten und erfolgreichen Landes droht in gewissen Kreisen in einen wenig attraktiven Nationalismus umzukippen. Fremdenfeindlichkeit wird zunehmend zum Modeartikel, der ausgerechnet die kontinentalen Mitglieder der einstigen gemeinsamen europäischen Familie besonders unangenehm trifft. England hat sich seit seinem Austritt aus der EU leider nicht zu seinem Vorteil verändert.

In Italien bin ich Mensch, da kann ich's sein

Und jetzt bestand die akute Gefahr, dass sich zum Brexit-Nationalismus auch noch der Fußball-Nationalismus eines Europameisters gesellen könnte. Am Anfang des Spiels sah es sogar so aus. Aber dann taten die englischen Fußballer das, was sie seit Jahrzehnten tun: Sie verloren, obwohl Schwalbenkönig Raheem Sterling wieder sein Glück versuchte. So unfair es klingen mag: Da habe ich ein bisschen aufgeatmet und leise „Italia, Italia“ vor mich hin gesummt.

Dass ich in diesen Tagen eine Italien-Reise antrete und vorerst nicht weiß, wann ich wieder mit der alten Freude nach England reisen kann, hat mit meiner Parteinahme nichts zu tun. Na ja, gut. Ein bisschen schon. In Italien bin ich Mensch, da kann ich's sein. Das Chaos der italienischen Politik zwingt mir im Zweifel ein Lächeln ab und kein Zähneknirschen wie derzeit das britische Chaos. Der Charme des Südens tut sein Werk. Ciao und sorry. 

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Leserpost

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Bernd Ackermann / 13.07.2021

Herr Bonhorst. dass Boris Johnson den Willen der Mehrheit der Briten umgesetzt hat belastet Sie doch sehr, oder? Das ist jetzt schon der x-te Anti-Brexit-Artikel und darüber, wie doof die Briten doch sind weil sie die EU verlassen haben. Lassen Sie es doch einfach mal gut sein und akzeptieren Sie, dass nicht jeder so denkt wie Sie oder Jean-Claude Juncker. Der Nährwert dieser Artikel geht nämlich gegen Null.

j. heini / 13.07.2021

“An den Grenzen werden Reisende vom Kontinent so abweisend behandelt, als wollten sie eine fünfte Kolonne bilden.” Das kann ich jetzt glauben oder auch nicht.

Roland Müller / 13.07.2021

Das einzige was mich an den Engländern genervt hat, waren die albernen Buh-Rufe während der “Fratelli d’Italia” und während des ganzen Spiels, wenn ein Italiener im Ballbesitz war. Deshalb haben sie sich die Niederlage aus meiner Sicht für ihre Dummheit redlich verdient. Fußball und Politik gehören übrigens nach meiner Meinung nie und nimmer zusammen. Der für die Politik missbrauchte Sport war schon immer eine Katastrophe. In der Regel geht es um Anbiederung bis zum Erbrechen.

Wilfried Cremer / 13.07.2021

Sehr geehrter Herr Bonhorst, es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass diejenigen, für die der Kniefall gut sein soll, die Last der ritualisierten Sympathie nicht tragen konnten.

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