Von Eberhard Orthos.
Sie sind mit Sicherheit froh, dass trotz Corona noch die Supermärkte und Lebensmittelgeschäfte arbeiten, ebenso wie die Ärzte und Krankenschwestern in den Krankenhäusern, die Müllabfuhr und die Polizisten in ihren Dienststellen.
Haben Sie sich neben allem Wirbel um Corona einmal Gedanken macht, ob und wie die Justiz, speziell die Strafjustiz, in Zeiten von Corona funktioniert? Es herrscht leider ein ziemliches Chaos. Ich möchte von meinen Erfahrungen berichten. Ähnliche Dinge passieren vermutlich auch an anderen Gerichten.
Ich bin Richter an einem Landgericht in einer großen Strafkammer. Wir hatten ein neues Verfahren bekommen gegen zwei Angeklagte, nennen wir sie einmal Müller und Maier, wegen schwerer räuberischer Erpressung. Den beiden wird vorgeworfen, einen Mann bei sich zu Hause überfallen und ausgeraubt zu haben unter Anwendung von Gewalt. Beide Angeklagte befinden sich in Untersuchungshaft. In Deutschland besteht die gesetzliche Regelung, dass jemand maximal sechs Monate ohne Verhandlung in Untersuchungshaft sitzen darf. Wenn dann die Hauptverhandlung nicht begonnen hat, wird die Sache dem zuständigen Oberlandesgericht vorgelegt, welches streng prüft, ob das Verfahren ausreichend „gefördert“ wurde. Wenn das nach Auffassung des OLG nicht der Fall ist, wird der Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen, selbst dann, wenn ihm ein schwerer Raub oder sogar ein Mord vorgeworfen wird. Die Prozesse mit Beschuldigten, die in Untersuchungshaft sitzen, finden daher meistens unter einem gewissen Zeitdruck statt, insbesondere dann, wenn die Staatsanwaltschaft die Akten zusammen mit der Anklage erst zwei Monate vor Fristablauf oder noch kurzfristiger beim Gericht einreicht.
Plötzlich erhöhte Temperatur
Bei dem Verfahren Müller und Maier herrschte wieder einmal Zeitdruck. Fristablauf war der 20. März. Erster Termin zur Hauptverhandlung war daher, um diese Frist noch einhalten zu können, auf den 18. März bestimmt worden.
Am Wochenende des 14./15. März fühlte ich mich schlapp, hatte erhöhte Temperatur und einen trockenen Husten, also die typischen Symptome von Corona, die ich aus dem Fernsehen, den Zeitungen und dem Internet kannte. Daher ging ich am Montag, den 16. März, in die Klinik und wollte mich testen lassen. Im Krankenhaus herrschten Verhältnisse, wie sie wahrscheinlich im Krieg üblich waren. Eine ewig lange Wartschlange stand dicht gedrängt auf dem Flur vor dem Zimmer, in dem zwei Ärzte die Untersuchungen vornahmen. Wer noch kein Corona hat, bekommt es hier bestimmt, schoss es mir durch den Kopf.
Ich war geduldig und wartete über zwei Stunden, wohlgemerkt im Stehen, denn Stühle gab es dort nicht. Als ich endlich an der Reihe war, schilderte ich der Ärztin meine Symptome. Sie – in Schutzkleidung voll vermummt – fragte mich, ob ich in einem Risikogebiet gewesen war – das war ich nicht – und ob ich Kontakt mit nachweislich Infizierten gehabt hätte, was ebenfalls nicht der Fall war. Als ich beide Fragen wahrheitsgemäß verneinte, wurde mir von der Ärztin mitgeteilt, dass in meinem Fall kein Corona-Test gemacht werden könne. Für derart leichte Fälle wie meinen könne man keinen Corona-Test verschwenden. Sonst müssten ja in Deutschland Millionen Leute getestet werden. Stattdessen schrieb mich die Ärztin für eine Woche krank bis 22. März. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Der Vorsitzende des Oberlandesgerichtes beschimpfte mich
Ich war „genau so klug als wie zuvor“ und wusste noch immer nicht, ob ich Corona hatte. Einerseits war mir präsent, dass am folgenden Mittwoch, dem 18. März, die Verhandlung im Verfahren Müller und Maier auf mich wartete. Da die Angeklagten schon über sechs Monate in Untersuchungshaft saßen, müsste beim „Platzen“ des Prozesses die Akte dem Oberlandesgericht vorgelegt werden. Andererseits war ich krankgeschrieben, hatte noch immer den Verdacht auf Corona und wollte niemanden anstecken, beispielsweise einen meiner Kollegen, einen der Justizwachtmeister oder wen auch immer.
Ich sagte daher den Verhandlungstermin vom 18. März ab und reichte meine Krankschreibung beim Landgericht ein. Die Akte wurde kurzfristig dem Oberlandesgericht vorgelegt. Zwei Tage später rief mich, wie ich es beinahe erwartet hatte, der Vorsitzende des Senats am Oberlandesgericht an und beschimpfte mich, dass die Sache „so“ ja nun überhaupt nicht ginge. Er verlange einen ordnungsgemäß begründeten Aussetzungsbeschluss. Mein Gesundheitszustand interessierte ihn recht wenig. Er war offenbar ein „150 Prozentiger“. Gesagt, getan. Es wurde ein ordnungsgemäßer Aussetzungsbeschluss gemacht.
Ich blieb dann bis zum 22. März erst einmal krankgeschrieben zu Hause. Ich unternahm noch einen weiteren Versuch, mich testen zu lassen und ging zu einer Ärztin, die fußläufig von meiner Wohnung ihre Praxis hat. Diese teilte mir mit, dass sie Kinderärztin sei und keinen Erwachsenen untersuche oder behandele. Ich möge ihre Praxis verlassen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt bin ich grenzenlos begeistert von unseren Ärzten und von unserem Gesundheitssystem. Es hat alles seine perfekte Ordnung, auch in der schlimmsten Krise!
Klare Anweisungen gibt es dazu nicht
Ich schrieb eine E-Mail an meine Landgerichtspräsidentin und fragte an, wie ich mich ab Montag, dem 23. März, verhalten solle. Solle ich wieder im Gericht zum Dienst erscheinen oder zu Hause bleiben?
Von der Präsidialrichterin (das ist die „rechte Hand“ des Präsidenten in Verwaltungssachen und im Umgang mit Richtern) erhielt ich eine E-Mail mit dem Pandemieplan. Dort wurde mitgeteilt, dass die Richter möglichst nicht ins Gericht kommen mögen außer für „unaufschiebbare“ Diensthandlungen. Die spannende Frage, welche Diensthandlungen in Zeiten von Corona (mit hoher Ansteckungsgefahr) als unaufschiebbar zu betrachten sind, wurde selbstverständlich nicht beantwortet.
Sollen Hauptverhandlungen fortgeführt werden, in denen sich Angeklagte in Untersuchungshaft befinden, die zu jedem Verhandlungstermin von Justizwachtmeistern in Hand- und Fußfesseln vorgeführt werden? Dabei ist der Untersuchungsgefangene jeweils mit einer Handfessel an einen Wachtmeister im Abstand von etwa 20 Zentimetern gefesselt, und beim Anlegen oder Lösen der Handfessel bleibt auch ein Körperkontakt nicht aus. Ist das auch in Zeiten von Corona in Ordnung? Die Entscheidung bleibt jedem Richter selbst überlassen. Klare Anweisungen gibt es dazu nicht.
Die Justizwachtmeister haben übrigens keinen Mundschutz, außer sie hätten sich privat einen organisiert. Denn ein solcher Mundschutz ist im Etat nicht vorgesehen und konnte natürlich auch nicht kurzfristig beschafft werden. (Kleiner Scherz am Rande, der leider bittere Wahrheit ist: Neulich wurden wir Richter aufgefordert, uns bei der Verwaltung einen Stempel mit unserem Namen und Rang zu bestellen, damit man bei handschriftlichen Verfügungen zweifelsfrei erkennen kann, von welchem Richter die Verfügung stammt. Das Geld für ein Stempelkissen war allerdings nicht im Etat vorgesehen. Jetzt haben die meisten Kollegen einen Stempel, können aber noch immer nicht stempeln, da sie kein Stempelkissen haben).
Übles Ausnutzen einer Notlage
Die nächste Frage lautet: Sollen in Haftsachen, in denen sich die Angeklagten in Untersuchungshaft befinden und in denen die oben beschriebene 6-Monats-Frist läuft, Termine anberaumt werden – mit der oben beschriebenen Vorführung der Angeklagten durch Wachtmeister – oder nicht?
Viele Strafverteidiger beantragen jetzt reihenweise die Aufhebung der Haftbefehle, weil wegen Corona nicht mit einer Hauptverhandlung innerhalb von sechs Monaten zu rechnen sei. Das nenne ich übles Ausnutzen einer Notlage, da die Verzögerung durch Corona nicht aus der Sphäre der Justiz stammt, sondern als Schicksal über unsere gesamte Gesellschaft hereingebrochen ist. Und ausgerechnet in einer solchen Krise, die andere Leute in den Tod oder in den wirtschaftlichen Ruin führt, soll es zwingendes Recht sein, dass die Untersuchungsgefangenen privilegiert und allein deshalb aus der U-Haft entlassen werden, weil innerhalb von sechs Monaten – eine Frist, die selbst im Normalbetrieb von unserer Justiz nur mit „Ach und Krach“ eingehalten werden kann – mit der Verhandlung nicht begonnen werden kann? Das kann nicht richtig sein.
Die meisten Strafverteidiger werden jetzt reflexartig sagen, dass es ja nicht dem Untersuchungsgefangenen zum Nachteil gereichen dürfe, wenn wegen Corona keine rechtzeitigen Verhandlungen mehr stattfinden. Es gelte doch die Unschuldsvermutung. Denen sage ich: Doch, das kann auch dem Untersuchungsgefangenen zum Nachteil gereichen. Der hat dann eben einfach „Pech“, wie auch viele andere Mitmenschen zur Zeit in unserem Land Pech haben, die durch Corona wirtschaftlich ruiniert werden oder die daran sterben. Und die Unschuldsvermutung steht selbstverständlich auch nicht dagegen. Denn die Unschuldsvermutung verbietet nicht, dringend Tatverdächtige einzusperren und in Untersuchungshaft zu nehmen (§§ 112 StPO ff.). Wenn das im Normalbetrieb bis zu sechs Monaten zulässig ist, und das ist es, kann es keinen grundlegenden Unterschied machen, wenn diese Frist in Krisenzeiten verlängert werden würde auf neun oder zehn Monate.
Aber ich befürchte, so Beschuldigten-freundlich und Angeklagten-freundlich, wie die meisten unserer Oberlandesgerichte oder Bundesgerichte in Deutschland sind, werden dort wahrscheinlich weltfremde Theoretiker, die sich als Hüter des heiligen Grals verstehen und die schon viele Jahre keinen echten Verbrecher und kein echtes Opfer aus Fleisch und Blut mehr vor sich gesehen haben, zugunsten der Beschuldigten entscheiden. Das ist dann die höchste Erfüllung für einen Rechtsstaat: Zusätzlich zur Corona-Krise wird die Bevölkerung noch damit „beglückt“, dass alle Untersuchungsgefangenen, die schwerer und schwerster Straftaten dringend verdächtig sind (§§ 112 StPO ff.), wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Hurra! Nach dem alten Motto: Fiat justitia et pereat mundus (Das Recht geschehe, auch wenn dabei die Welt zugrunde geht).
Der Pandemieplan ist nicht das Papier wert, auf dem er steht
Die Staatsanwälte in unserem Bezirk sind jetzt auch besonders aktiv. Anscheinend nutzen sie die Corona-Zeit, in der weniger Verhandlungen stattfinden, um ihre Dezernate aufzuräumen. Sie schicken jetzt binnen zwei Wochen so viele Anklageschriften wie sonst im ganzen Quartal oder sogar Halbjahr. Meine Kammer hat jedenfalls innerhalb der letzten zwei Wochen schon fünf Neueingänge, und die Geschäftsstelle ruft täglich an.
Interessant ist auch die Frage, ob die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern über eine vorzeitige Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung (§ 57 StGB) eine wirklich unaufschiebbare Maßnahme im Sinne des Pandemieplans ist. Dafür spricht, dass jeder Strafgefangene natürlich gerne vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen werden möchte. Dagegen spricht, dass alle Strafgefangenen aufgrund eines rechtskräftigen Urteils in Haft sitzen und ihnen lediglich die Gewährung einer Wohltat entgeht. Ist die Vorenthaltung einer solchen Wohltat angesichts der Ansteckungsgefahren für die vorführenden Justizwachtmeister und für weiteres Justizpersonal vertretbar oder unzulässig?
Auf alle diese Fragen erhält man als Richter keine klare Antwort vom zuständigen Oberlandesgerichts-Präsidenten oder vom jeweiligen Justizministerium.
Da die Sekretärinnen der Geschäftsstellen in meinem Landgericht nicht mehr weiter wissen und es keine klaren Anweisungen „von oben“ gibt, werde ich also nächste Woche wieder ins Gericht gehen und dort arbeiten, als ob nichts geschehen wäre. Der Pandemieplan ist nicht das Papier wert, auf dem er steht.
Die Rechtslage in Deutschland ist im Hinblick auf die dargestellten Fragen chaotisch und undurchschaubar. Wenn wir gute Justizminister auf Landes- und Bundesebene hätten, würden die schnell und pragmatisch handeln und klare Regeln erlassen. Man könnte beispielsweise kurzfristig ein Gesetz durch den Bundestag bringen, dass sämtliche Fristen nach der StPO für den Zeitraum der Corona-Krise, also beispielsweise vom 20. März bis zum 20. April 2020, gehemmt sind. Das wäre eine klare und vernünftige Regelung. Unsere Nachbarn in Österreich sind – wieder einmal – viel pragmatischer und uns um Längen voraus. Dort gibt es inzwischen eine gesetzliche Fristenhemmung für die Zeit der Corona-Krise. Auch in Deutschland gab es früher einmal Juristen, die mit Krisen umgehen und sie vernünftig regeln konnten. Das Bürgerliche Gesetzbuch vom 01.01.1900 enthielt über beinahe 100 Jahre ausdrücklich eine Vorschrift, dass die Verjährungsfristen im Falle des „Stillstandes der Rechtspflege“ gehemmt sind. Warum ist eine solche Regelung heutzutage nicht möglich? Wahrscheinlich deshalb, weil die heutigen Justizpolitiker nicht mehr die Klasse haben, die die Väter des BGB hatten.