Wie gut, dass es Italien gibt! Dies ist nicht etwa der Ausdruck jener Sehnsucht, die das deutsche Bildungsbürgertum dazu veranlasste, die Apenninen-Halbinsel regelmäßig ob ihrer immensen Kunstschätze und einzigartigen Schönheit zu besuchen. Es ist auch nicht jenes Zugeständnis, welches bei großen und kleinen Dichtern dazu führte, dass sie – wie einst Goethe – über Rom und Italien Elegien schrieben. Nein, diesmal geht es um Handfesteres.
Denn der Schuldenweltmeister der Europäischen Währungsunion mit insgesamt ca. 2,3 Billionen Verbindlichkeiten der öffentlichen Hand schickt sich an, vor den Augen der ungläubig staunenden europäischen Eliten den lang im Verborgenen gehegten italienischen Traum in aller Öffentlichkeit beim Namen zu nennen. Noch bevor es zu einer Regierungsbildung zwischen der alten Lega-Partei und der neu entstandenen Fünf-Sterne-Bewegung in Italien gekommen war, sprachen ihre Führer unter dem Beifall diverser italienischer Ökonomen das aus, woran vielleicht auch manche italienische Beamte innerhalb der EZB insgeheim schon seit langem gedacht haben. Sie wollen einen beträchtlichen Teil der italienischen Schulden im Eurosystem für immer dort lassen, wo er gegenwärtig ist: in den Bilanzen der Zentralbanken. Dies käme fürs Erste einem Schuldenerlass von ca. 250 Milliarden Euro gleich. Denn eine Schuld, die nicht zurückgezahlt wird, sondern auf ewig im Roll-over-Prinzip in der Bilanz einer Zentralbank verbleibt, spürt der italienische Staat nicht mehr.
Dass die neuen Führer Italiens über diesen Traum sogar öffentlich reden, während er für die Euro-Oberen in der EZB und in Brüssel ein Albtraum ist, scheint nicht wirklich erstaunlich. Denn zu groß ist die Gefahr, dass die von Herrn Draghi energisch forcierte Aufkaufpolitik, die bisher 2,6 Billionen öffentlicher Schulden in die Bilanzen von EZB und Zentralbanken packte, die Versuchung nahelegt, die so in den Bilanzen der Zentralbank geparkten Schulden ein für allemal im „EZB-Sarkophag“ verschwinden zu lassen. Die aus Deutschland mit verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Argumenten inbrünstig bekämpfte Aufkaufpolitik der EZB macht den Regelverstoß zum Gegenstand von Prozessen. [1] Die Kläger vor dem Verfassungsgericht als auch vor dem Europäischen Gerichtshof begehren ein Urteil: dass nämlich Draghis Aufkaufprogramm das Verbot der monetären Staatsfinanzierung gemäß Art. 123 des AEUV verletzt.
Mit Händen greifbarer Verstoß gegen fundamentale Prinzipien
Der in Rom erdachte Schuldenerlass würde allseits als ein solcher Verstoß in flagranti angesehen werden. Dass dieser mit Händen greifbare Verstoß gegen fundamentale Prinzipien der Europäischen Währungsunion von der Regierung eines bedeutenden Landes – immerhin der drittgrößten Volkswirtschaft der EU – ernsthaft in Erwägung gezogen wird, lässt tief in das Regelverständnis innerhalb der Europäischen Währungsunion blicken. Nicht, dass die Italiener dieses Regelverständnis ähnlich wie die Griechen nie wirklich verinnerlicht hätten. Nein, die Dinge liegen viel schlimmer. Dadurch, dass Draghis EZB im Rahmen seines Ankaufprogramms hunderte von Milliarden Euro an Anleihen dem Handel entzogen hat und bis zu deren Endfälligkeit in die Zentralbankbilanzen verlagerte, hat er der italienischen Politik einen Köder hingelegt, nämlich den logischen zweiten Schritt nachfolgen zu lassen und ökonomisch zu einer „Neutralisierung“ der Schulden beizutragen.
Glücklicherweise ließ die Reaktion der Märkte nicht auf sich warten und der Renditeabstand zwischen deutschen und italienischen Anleihen mit mehr als zehn Jahren Laufzeit vergrößerte sich schlagartig. Aber eine Idee, die einmal in der Welt ist, und einem dringenden Interesse der italienischen Politik entspricht, wird so schnell nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein.
Dies rückt ein Land in den Vordergrund, das nicht nur Gegenstand endloser formalästhetischer Sehnsüchte ist. [2] Vielmehr geben die Forderungen der neuen italienischen Regierung an ihre nördlichen Nachbarn Anschauung und Gelegenheit, Italien mit wachsendem Realismus als ökonomisch besonders wichtiges Mitglied der Europäischen Währungsunion zu betrachten. Draghi und seine vielen italienischen Mitstreiter in der Europäischen Zentralbank (Ignazio Angeloni, Chiara Zilioli, Concetta Brescia Morra, um nur einige zu nennen) werden aufgeschrien haben, als ihre italienischen Landsleute am 16.5.2018 die entblößenden Vorschläge der Öffentlichkeit präsentierten. Denn der EZB-Chef und seine treuen italienischen Mitstreiter betreiben die Privilegierung italienischer Staatsschuld im Rahmen der von ihnen geenterten supranationalen Europäischen Zentralbank auf viel subtilere Art und Weise. Hört man die Diskurse des autokratischen EZB-Chefs in den Pressekonferenzen, die den Zusammenkünften des EZB-Rats folgen, so muss man mit ungläubigem Staunen erfahren, dass diese riesigen Aufkaufprogramme allein dem Ziel der Erreichung der Preisstabilität, also eines Verbraucherpreisanstiegs von unter, aber nahe 2 Prozent dienen. Dass selbst die dort versammelten andächtigen Journalisten Signor Draghi dieses Märchen nicht mehr abnehmen und das Wort Forward Guidance mittlerweile einen ironischen Beiklang hat, ist indessen nur der eine Teil der Geschichte.
Ruhmreiche Karriere als Direktor des italienischen Schatzamtes
Denn Draghi steht für viel mehr. Jener Chef der EZB, der die Vertreter anderer Länder, wie Bundesbank-Präsident Weidmann und Herrn Knot aus den Niederlanden so zu marginalisieren verstand, als würden sie Volkswirtschaften von der Größe Maltas und Luxemburgs repräsentieren, hat eine große Vergangenheit, die es wert ist, beleuchtet zu werden. Als Draghi sich vor fast acht Jahren anschickte, Chef der mächtigsten europäischen Institution zu werden, wusste er ganz genau, welche Vergangenheit ihn verfolgte. Damit ist nicht seine ruhmreiche Karriere als Direktor des italienischen Schatzamtes gemeint.
Noch weniger interessieren in diesem Zusammenhang seine wissenschaftlichen Tätigkeiten beim MIT in Amerika sowie seine Beratertätigkeit bei Goldman Sachs. Nein, entscheidend ist, dass Draghi als Gouverneur der italienischen Zentralbank und Notenbank Banca d’Italia (von 2006 bis 2011) umfassend für die Beaufsichtigung der italienischen Kreditinstitute zuständig war. Die italienischen Kreditinstitute sind mehr als Pfandhäuser und Geldverleiher. Sie sind in dem großen Geschäft der italienischen Staatsfinanzierung das entscheidende Scharnierstück. Ohne sie wäre Italien pleite. Sie müssen den Italienern nahebringen, die Schuldtitel des italienischen Staates zu erwerben, bzw. den internationalen Investoren eine solche Kaufneigung nahelegen. Daher dürfen sie auch nicht zum Gegenstand von Zweifeln an ihrer Bonität werden oder gar einem Liquidationsverfahren unterworfen werden. Wenn nun eine Reihe von regierungsnahen Banken sanierungsbedürftig ist oder gar abwicklungsbedürftig würde und darüber hinaus die drittgrößte Bank, die Banca Monte dei Paschi, 2016 nur durch eine Rekapitalisierung des italienischen Staates gerettet werden konnte, so liegen die Gründe dieser Misere weit zurück, aber nicht so weit, als dass man die Spuren von Herrn Draghi nicht noch gut erkennen kann.
Deutschlands Elite übt sich weiterhin im Tiefschlaf
Gegenstand und Zweck der nachfolgenden Zeilen ist, darzustellen, dass ein tüchtiger, begabter und hart arbeitender, italienischer Ministerialbeamter es gegen den Willen der Hartwährungsländer schaffte, die EZB zu übernehmen, um kurz entschlossen diese Gemeinschaftsinstitution zur Rettung seines Landes einzusetzen. Dabei dürfen die italienischen Banken nicht zu kurz kommen, denn sie sind der kollusive Partner des italienischen Staates bei der Perpetuierung der öffentlichen Schuld.
Dass eine Reihe von Banken in Liquidation geraten ist bzw. ihre Bonität öffentlich diskutiert wird, ist für Herrn Draghi mehr als ein Schönheitsfehler. Denn nun muss er sich seiner Vergangenheit stellen. In Italien hat das Establishment über diese Problematik und den Zusammenhang mit den Tätigkeiten von Herrn Draghi als Chef der Bankenaufsicht den Mantel des Schweigens gebreitet. Dieses Schweigen wollen wir brechen und vor allen Dingen das Ausmaß der italienischen Risiken, die tiefe Verstrickung des EZB-Präsidenten und die deutsche Haltung gegenüber dieser Politik problematisieren.
Während die politische Elite Deutschlands sich weiterhin im Tiefschlaf übt und Draghi gewähren lässt, gibt eine gelernte Ombudsfrau aus Irland bereits Steilvorlagen zur Problematisierung des Autokraten Mario Draghi. Die Rede ist von Emily O’Reilly, dem „EU-Ombudsman“, der nicht nur ein Briefkasten für Querulanten ist, sondern auch auf Eigeninitiative Governance-Missstände innerhalb der Europäischen Union aufzugreifen das Recht hat. Ihr lagen 2016 mehrere Beschwerden vor, die die Teilnahme und ständige Mitgliedschaft von Mario Draghi bei der sogenannten G30-Gruppe zum Gegenstand hatten.
Die G30-Gruppe ist ein privates Gremium hochrangiger Vertreter der Finanzwirtschaft. Zu ihr zählen Wissenschaftler, Zentralbankpräsidenten und Geschäftsleute. Die feine Gesellschaft ist so privat, dass sie bei Wikipedia als eine „private Lobby-Organisation der Finanzwirtschaft“ geführt wird. Draghi ist hier, wie auch seine Vorgänger, ständiges Mitglied. Man kommt zusammen, um sich auszutauschen. Dabei belässt man es nicht bei einem unschuldigen Meinungsaustausch und Kommentaren über die Geldpolitik in der EWU und die Finanzkrisen in Griechenland, Italien und Zypern sowie in Argentinien und vielleicht demnächst auch in Washington. Nein, ganz im Gegenteil: Die Zusammenkünfte von G30, die strengstens von der Öffentlichkeit abgeschirmt sind, dürften als ein Kartell des Finanzkapitals angesehen werden.
Wer nicht weiß, dass nur wenige Informationen ausgetauscht werden müssen, um Investorentscheidungen zu beeinflussen, der sei an den Vortrag von Benoît Cœuré auf einer privaten Investorenkonferenz in London vor einigen Jahren erinnert. Als sich Cœuré, der für Marktoperationen zuständige Vorstand der EZB, über die künftige Zinspolitik äußerte, verließen einige der geladenen, hochrangigen Investment-Banker noch während der Veranstaltung die Zimmer, um schnell mit ihren Händlern zu telefonieren. Der Vorgang wurde dann erst in der Öffentlichkeit problematisiert. Die EZB versicherte danach sofort, dass sich eine solche Form problematischen Informationsaustausches nicht wiederholen würde. Cœuré blieb hingegen ungestraft.
Ein Fall von „maladministration“, zu Deutsch: „Misswirtschaft“
Dieses vorausgeschickt, wird niemand im Einzelnen bezweifeln wollen, dass die im Rahmen der G30-Gruppe ausgetauschten Informationen hochpolitisch sind und es den Teilnehmern erlauben, das Verhalten der meisten Zentralenbanken der westlichen Welt genauer einzuschätzen. Warum auch sonst kommen Leute wie Timothy Geithner, Benjamin Bernanke und der Chef der Bank of England, Mark Carney, mit Mario Draghi zusammen, wenn nicht um sich über ihre geldpolitischen Aktivitäten und Vorhaben außerhalb jeder Öffentlichkeit auszusprechen?
Die tüchtige EU-Ombudsfrau, in dieser Tätigkeit bereits als irische Parlamentarierin geübt, nahm an Draghis ständiger Mitgliedschaft an der G30-Gruppe Anstoß. Sie begründete ihre Kritik damit, in der Öffentlichkeit könne der Eindruck entstehen, dass die Unabhängigkeit der EZB als Aufsichtsgremium unterminiert werde. Die Aufsichtsführenden dürften sich nicht mit den Beaufsichtigten an einen Tisch setzen, um über finanzwirtschaftliche Dinge zu reden. Ihr Urteil war hart. Sie schloss ihre ausführliche Untersuchung mit der Schlussfolgerung ab, es handele sich bei der Mitgliedschaft und Teilnahme von Mario Draghi an der G30-Gruppe um einen Fall von „maladministration“, zu Deutsch: „Misswirtschaft“.
Die Antwort aus der EZB auf diese Feststellung der EU-Ombudsfrau vom 18.1.2017 ließ lange auf sich warten. Dann endlich ließ Draghi über seinen Vizepräsidenten, den Mann für subalterne Aufgaben – Vitor Constancio –, am 18.4.2018 über elf Seiten erklären, [5] warum Draghis Mitgliedschaft und Teilnahme nur eine alte Tradition seiner Vorgänger fortsetze und dass im Übrigen Interessenkonflikte deshalb nicht möglich seien, weil sich Draghi an die Ethik-Regeln der EZB halten würde.
Die amtliche Augenwischerei, vorgetragen vom treuen Caddy des EZB-Herrschers Draghi, dem damaligen Vize-Präsidenten Vitor Constancio, überzeugte die kritische Irin nicht. Sie bestätigte ihre Auffassung und nahm die EZB-Apologetik nicht nur im Einzelnen auseinander, sondern empfahl auch, dass sich der nächste Präsident der EZB eine Mitgliedschaft und Teilnahme an der G30 versagen müsse.
Kungel-Club des Finanzkapitals
In der breiten Öffentlichkeit ist dieser Streit kaum bekannt geworden. Denn die Kommunikationsdirektorin von Herrn Draghi arbeitet geräuschlos und effizient. Doch bleibt es das Verdienst der hartnäckig-eleganten Ms. O’Reilly, ein Zeichen gesetzt zu haben. Schließlich hat Draghi dem Image der EZB als einer sowohl von Regierungen als auch von privaten Lobbys unabhängigen Bank einen Bärendienst erwiesen. Indessen dauert seine Mitgliedschaft in dem Kungel-Club des Finanzkapitals, genannt G30, an.
Auch wenn die Amtszeit von Mario Draghi zeitlich beschränkt ist, hofft der hohe Herr, für die Zeit nach ihm die wichtigen Schaltstellen der EZB mit Landsleuten bestücken zu können. Demnächst wird ein Chef für die EZB-Bankenaufsicht gesucht. Denn Madame Danièle Nouy scheidet im Dezember 2018 aus dem Amt. Offiziell geht es formgemäß zu: Die EZB veröffentlichte sogar eine Stellenausschreibung.
Unter der Hand weiß man indessen, wer sich – mit Unterstützung von Mario Draghi – große Hoffnungen auf diesen wichtigen Posten macht: kein anderer als Andrea Enria, der bisherige Chef der European Banking Authority, einer konsultativen Aufsichtsbehörde, die sich um Gutachten und Koordination im Bankengewerbe – allerdings ohne Entscheidungsbefugnisse – kümmert. Gewiss kann er auf die Unterstützung nicht nur der italienischen Regierung, sondern auch seines Landsmannes Mario Draghi zählen. Denn dieser hat das allergrößte Interesse daran, an der Spitze der EZB-Bankenaufsicht einen Mann zu sehen, der ihm helfen wird, die dunkle Vergangenheit seiner Aufsichtstätigkeit als Gouverneur der Banca d’Italia auch weiterhin im Dunkeln zu belassen. Natürlich würde auch sein engster Mitarbeiter Ignazio Angeloni, ohnehin schon sehr eng mit der Bankenaufsicht betraut, von Draghi als ein geeigneter Chef der EZB-Bankenaufsicht angesehen werden.
Wir werden sehen, ob die deutsche Politik darauf vertrauen wird, für die eventuelle Kandidatur von Herrn Weidmann als EZB-Präsident personalpolitische Kompromisse als Vorleistung in Kauf zu nehmen. Jedenfalls hat die Personalpolitik Italiens in Mario Draghi einen kongenialen Gestalter gefunden.
Dr. iur. Markus C. Kerber, Absolvent der E.N.A. (Promotion Diderot), Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin; Gründer von www.europolis-online.org
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus seinem neuen Buch "Die Draghi Krise". Softcover, 128 Seiten, Oktober 2018, ISBN: 978-3-95972-156-1, 9,99 Euro, hier zu beziehen.
Fussnoten:
[1] Vgl. Markus C. Kerber, Positionen und Argumente – im Kampf mit Brüssel, Luxemburg und Berlin 2003–2017, Marburg 2017.
[2] Vgl. Hildegard Wiegel (Hg.), Italiensehnsucht. Kunsthistorische Aspekte eines Topos, München 2004.
[5] Siehe Schreiben mit dem Zeichen LS/VC/18/10.