Alena Buyx veröffentlichte vor wenigen Jahren ein Buch über ihr Konzept von Solidarität. Losgelöst von Bezugsgrößen sollen die Bürger vom Staat zu beliebigen Hilfeleistungen „geschubst“ werden.
Dass die Impfung gegen Corona als ein Akt der Solidarität geboten sei, ist wahrscheinlich das zäheste medialpolitische Narrativ, mit dem die Bürger nicht nur in Deutschland zur Impfung geschubst werden sollen. Das Narrativ wäre unter Umständen als moralisches Argument brauchbar, wenn das Virusgeschehen tatsächlich ein pandemisches Ausmaß mit Abermillionen von elend Gestorbenen hätte; wenn die Injektionen weit überwiegend positive Effekte und vernachlässigenswert geringe Nebenwirkungen hätten; und wenn sie schließlich eine sterile Immunität herbeiführten, bei der der Selbstschutz und der Fremdschutz zusammenfallen, und das möglichst dauerhaft. Doch nichts davon ist der Fall.
Die Frage ist daher, warum sich das Narrativ hält und bei jeder sich bietenden Gelegenheit reaktiviert werden kann. Das liegt nicht nur daran, dass die steuerfinanzierten Staatsmedien das Narrativ in einem Akt fortgesetzter Gehirnwäsche immerzu wiederholen. Es liegt eben auch daran, dass dieser mentale Waschzwang durch eine vermeintliche Expertise gerechtfertigt scheint, die für die Öffentlichkeit im „Deutschen Ethikrat“ konzentriert wurde. Dort lässt die Politik die von ihr gewünschten Maßnahmen moralinhaltig aufbereiten, um sie alsdann als expertokratisch gebilligte über die einschlägigen Medienkanäle ins Volk zu pumpen.
Dabei setzt man natürlich gerne Personal ein, das die gewünschte moraline Narration telegen vermitteln kann. Womit wir bei der 44-jährigen Alena Buyx wären, die als Medizinethikerin im Jahre 2016 in den Ethikrat bestellt wurde und seit 2020 seinen Vorsitz führt. Dafür wird es vielerlei Gründe geben, die, wie bei solchen Gremien üblich, vorwiegend im Raum des Politischen zu suchen sind und öffentlich nicht diskutiert werden. Aber ein für die Öffentlichkeit wahrnehm- und einsehbarer Grund ist gewiss das von ihr und der österreichischen Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack im Jahr 2017 in dem renommierten Verlag Cambridge University Press veröffentlichte Buch zur Solidarität in der Biomedizin, in dem die beiden Autorinnen anhand von vorwiegend (aber nicht nur) medizinischen Beispielen ein allgemeines Konzept von Solidarität entwickeln (der englische Titel des Buches lautet: Solidarity in biomedicine and beyond).
Konkret handelnd vollzogenes Engagement
Es lohnt, das Buch näher zur Kenntnis zu nehmen, weil es ganz offensichtlich nicht nur das festhält, was Frau Buyx zum Thema Solidarität bündig zu sagen hat, sondern durch den Vorsitz, den Buyx im Ethikrat einnimmt, auch als Fibel gelesen werden kann, deren Lektüre die im Ethikrat virulente Denke erschließen hilft. Jedenfalls unter der seit Jahren geltenden Voraussetzung, dass man aus dem Ethikrat nichts von kontroversen Debatten und scharfen internen Auseinandersetzungen hört, so dass die dort Versammelten es sich gefallen lassen müssen, wenn man von ihrem hierarchisch exponiertesten Mitglied auf den Rest schließt.
Solidarität, so erfahren wir aus der Feder von Buyx auf Seite 43 und noch einmal auf Seite 52 des genannten Buches, ist ein von uns konkret handelnd vollzogenes Engagement, bei dem wir unter Hinnahme von Kosten anderen beistehen, mit denen wir in relevanter Hinsicht eine Gemeinsamkeit erkennen (im Orginal: „solidarity as enacted commitments to accept costs to assist others with whom a person or persons recognise similarity in a relevant respect“). Das klingt zunächst etwas technisch, wie so oft, wenn man einen komplexen Sachverhalt in eine Definition zu zwängen versucht.
Sobald man die Definition aber zu entpacken beginnt, wird man Buyx darin zustimmen, dass es im Falle von Solidarität nicht damit getan ist, ein solidarisches Gefühl in der Brust zu hegen oder sich auf dem Rosenbett der gesellschaftlichen Solidarmaßnahmen auszuruhen, sondern dass man auch wirklich etwas selbst tun muss, um solidarisch zu sein. Und zustimmen wird man ihr auch darin, dass solidarisches Tun vorzüglich darin besteht, von Eigenem abzugeben und also Kosten hinzunehmen, handle es sich bei diesem Eigenen nun um Geld, um zur Verfügung gestellte Sachen, um Zeit oder um Geduld. Und schließlich wird man ihr auch darin zustimmen, dass es bei der Beantwortung der Frage, ob eine konkrete Handlung eine solidarische sei, wesentlich auf die Betimmung des Kontextes ankommt.
Symmetrische Beziehungen zu anderen Menschen
Und damit sind wir auch schon bei der Crux der Buyxschen Solidaritätstheorie angekommen. Für Buyx handelt es sich nämlich um kein solidarisches Tun, wenn wir im Rahmen einer Spendenkampagne Geld geben, weil wir aus religiösen Gründen der Meinung sind, diese Gabe werde von uns im Himmel belohnt. Das setze, so Buyx, eine asymmetrische Beziehung voraus (zwischen dem Himmel und uns, zwischen uns und denen wir helfen), wohingegen wahre Solidarität nur dann vorliege, wenn die Beziehungen der im Solidarhandeln involvierten Menschen symmetrisch sei – eine Beziehung von Menschen untereinander, die in einem bestimmten Kontext erfahren, dass sie etwas gemeinsam haben und sich daher als Gleiche begegnen.
Wogegen sich das richtet, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieses Verständnis von Solidarität nicht nur Freundschaft und Liebe ausschließt, sondern auch alles, was mit geteilten Werten, gesellschaftlichen Gewohnheiten, tradierten Praktiken und Vorstellungen von gemeinsamer Zukunft zu tun hat (S. 60). Das eine (Freundschaft und Liebe) legt Buyx als lediglich emotionalen zwischenmenschlichen Bezug beiseite, das andere (den tradierten gesellschaftlichen Habitus) nennt sie eine „Schicksalsgemeinschaft“ (community of fate), die uns zwar fest aneinanderbinde, aber nicht dasselbe wie Solidarität sei, die ja situativ aus der Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit entstehen soll.
Kurz: Solidarität ist ein Mittelbereich zwischen den festen personalen Emotionen und dem ebenso festen gesellschaftlichen Habitus, die unsere Bezüge zu anderen Menschen bestimmen. Dieser solidarische Mittelbereich ist der Bereich eines spontan-situativen Aufbaus von symmetrischen Beziehungen zu anderen Menschen, ein vorgesellschaftlicher Bereich, in dem wir uns als Gleiche erfahren und daher auch als Gleiche unter Gleichen handeln können – und sollen.
Aber ebendieses Sollen ist das Problem. Indem Buyx dieses Sollen in einer Zone des spontanen, situativen und symmetrischen personalen Handelns verortet, negiert sie den einfachen Sachverhalt, dass unser Sollen nicht nur davon abhängt, dass wir als Menschen auf der biologischen Ebene auf Kooperation orientiert sind, sondern auch davon, dass unsere gemeinsame Geschichte in einem konkreten historischen Raum und einem ebenso konkreten Staatswesen uns auf Solidarität ausgerichtet hat. Wie tief das kulturell und sozial greift und die Menschen prägt, merkt man spätestens dann, wenn man den europäischen Kulturraum verlässt und schockiert feststellt, dass es Weltgegenden gibt, in denen Menschen wie Vieh auf der Straße verrecken, ohne dass es zu spontan-solidarischen Handlungen der Vorübergehenden käme.
Gesellschaftliche Verkrustungen aufbrechen
Dass Buyx diese historisch-kulturelle Prägung unseres Solidarverhaltens beiseite räumt, hängt damit zusammen, dass sie tradierte Solidarstrukturen, wie sie sich in kirchlichen und staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen institutionell ausgeprägt haben, unter den Verdacht eines Gruppendenkens stellt, das den „reaktionären Status quo“ (S. 85) bestätigen würde. Nur dort, wo solche tradierten Kontexte spontan überschritten werden, so Buyx, könnten sich die Menschen ohne zwanghafte Orientierung auf eine vorgegebene kollektive Identität nicht nur wahrhaft als Individuen wahrnehmen, sondern auch unsolidarische gesellschaftliche Verkrustungen aufbrechen (S. 86). Dies umso mehr, als für Buyx der Nationalstaat nicht mehr als ein „historisches Artefakt“ und es für sie völlig unplausibel ist, warum Solidarhandeln in Theorie und Praxis auf die Bürger eines Staates beschränkt werden müsse (S. 88).
Das setzt natürlich voraus, dass wir alle, wenn wir solidarisch handeln wollen, vorab schon ungefähr wissen, was Solidarität meint. Woher soll dieses Vorverständnis aber kommen, wenn man, wie Buyx, die Kultur, in der man aufwächst, unter den Verdacht reaktionärer Gruppenbildung stellt, die wahres, nämlich spontanes und symmetrisches Solidarverhalten behindere? Buyx' Antwort: Verletzlichkeit und Leid sind universell-menschliche Erfahrungen und bilden die Basis dafür, dass wir uns gegenseitig beistehen. Daraus folgt für Buyx, dass eine wahrhaft solidarische Gesellschaft diesen leidbasierten universellen Impuls aufzunehmen und die Menschen darin zu bestärken habe, dass sie ihr gruppenbezogenes Solidarverhalten überwinden.
Für Buyx ist also ein Staat und eine Kultur, die Solidarität begrenzen, im Prinzip „reaktionär“; wenn sie Solidarität aber ausweiten und dadurch den Status quo solidarischen Handelns aufbrechen, dann sind sie auf dem rechten Weg. Und Buyx ist überzeugt davon, eine solche universelle Solidarität könne trainiert werden, indem man den „Solidaritätsmuskel“ der Menschen stärkt (S. 178). Wobei es für jeden Politiker, jeden Autor und jede auf die öffentliche Meinung einwirkende Person eine Verpflichtung sei, sich an diesem Solidartraining der Bevölkerung zu beteiligen (S. 185).
Spätestens hier wird man bemerken, dass die Buyxsche Solidaritätstheorie sich liest wie die begriffliche Aufarbeitung zweier Sätze, die für die politische Geschichte der Bundesrepublik inzwischen eine ikonische Qualität gewonnen haben: „Nun sind sie halt da“ (Merkel) und „Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden“ (Özoguz). Dieser direkte Übergang der Buyxschen Theorie in den Zeitgeist (und umgekehrt) liegt daran, dass sie Solidarität vom politischen und historischen Kontext ablöst, um desto zielsicherer in einen Universalismus zu springen, der keine Deutschen mehr kennt und keine Afghanen, sondern nur noch abstrakte Menschen, die in ihrer Begegnung jeweils herauszufinden haben, wie sie sich solidarisch beispringen können.
Romantische Szenen spontaner Hilfe
Es ist daher nur konsequent, dass die Flüchtlingskrise von 2015 für Buyx das prominenteste Beispiel praktizierter Solidarität darstellt. Unterhalb der staatlichen Ebene und jenseits von institutionellen Strukturen kam es, wie Buyx meint, zu massenhaftem Solidarverhalten, bei dem die deutschen Helfer sich selbst „in den Müttern, Vätern, Kindern usw. gesehen haben, die aus den von Kriegen zerrissenen Ländern zu uns gekommen waren“ (S. 179). Während umgekehrt viele Flüchtlinge selbst zu Helfern geworden seien, indem etwa medizinisch vorgebildete Flüchlinge andere Flüchtlinge behandelt hätten (S. 180). Genau darin erkennt Buyx wahre Solidarität, die weder deutsch noch syrisch ist, sondern eine sich spontan von unten her aufbauende Gemeinschaft von sich selbst als hilfsbedürftig und helfend erfahrenden Menschen.
Was Buyx hier schreibt und beschreibt, sind romantische Szenen spontaner Hilfe. Dass Buyx diese Spontanität in einen staatlichen Förderrahmen überführen und die Romantik in Realismus wenden will, ist nur konsequent. Denn wenn der Staat zu einem universellen Hilfeleister umgebaut wird, überwindet er die im Nationalstaat auf Gruppen begrenzter Solidarität und weitet sich zu einer globale Verantwortung übernehmenden Entität. Die hat künftig dann nur noch darauf zu schauen, dass sie situativ-spontane Solidargruppen ermöglicht und fördert, kulturell verkrustete Solidarprozesse aber unterbindet.
Natürlich läuft das auf eine völlige Überforderung jeder Staatlichkeit und zuletzt auf einen Zusammenbruch von Solidarität hinaus. Diese ist nämlich nur dort möglich und wird in nennenswertem Umfang auch nur dort praktiziert, wo erstens die tradierte Kultur im anderen Menschen den Nächsten zu sehen gelernt hat, dem man das gewährt, was er für sein Leben benötigt. Diese Kultur aber ist die christliche.
Zweitens aber ist Solidarität nur dort möglich, wo ausreichend Ressouren zur Verfügung stehen, die solidarisch geteilt werden können. Dazu braucht es ein bestimmtes Entwicklungsniveau der jeweiligen Gesellschaft, in der moralische Feinfühligkeit mit intellektuellem Vermögen, ökonomischer Kompetenz und technischem Sachverstand zusammenstimmen. Diese kulturellen Ressourcen aber sind ebenso bregrenzt wie die dabei ins Spiel kommenden Ressourcen der Natur, und daher stellt sich für jede Gesellschaft das Problem der Grenze ihres Solidarraums.
In die richtige Richtung geschubst werden
Wer, wie Buyx, diesen Solidarraum ins Universelle ausdehnt, zerstört nicht nur die ressourcengebundene Solidarbasis der Gesellschaft, sondern damit zuletzt auch jede Möglichkeit für eine einzelne Gruppen und Staaten übergreifende solidarische Aktion. Denn wenn der reiche Onkel soldarisch ausgenommen ist, bleibt nichts weiter als der Staub in seinen Taschen.
Wo man die Ziele freilich so hoch hängt, wird man das Problem der Begrenztheit unserer Möglichkeiten so lange mikroskopieren, bis man es nicht mehr sieht. Und man wird sich dann viel lieber mit der Frage beschäftigen, wie das hohe tugendhafte Ziel erreicht werden könne. Buyx lässt auch daran keinen Zweifel: Um des Guten willen darf die Bevölkerung gut und gerne in die richtige Richtung „geschubst“ (nudging) werden (S. 143).
Auch das ist nur konsequent: Wenn wahre Solidarität darin besteht, sie universell oder doch wenigstens global zu praktizieren, dann muss der Staat jederzeit dafür sorgen, dass die Bürger ihr Solidarverhalten nicht zu früh einschränken, auf die Familie, den Freundeskreis, die Gemeinde oder, horribile dictu, die Grenzen Deutschlands. Dass der Staat dabei einen mehr oder weniger sanften Druck durch das „Schubsen“ der Bürger ausübt, ist dann allemal dadurch gerechtfertigt, dass das Große Allgemeine – der Mensch überhaupt, Solidarität überhaupt, Gesundheit überhaupt – immer mehr ist, als das, was einzelne Menschen und einzelne Gruppen in einem konkreten Kulturraum und Staat für richtig halten und für sich beanspruchen würden und außerdem kulturell, politisch und ökonomisch stemmen könnten.
Daher muss das Große Allgemeine Ziel der Solidarität gegen die auf ihr Nahfeld begrenzten Individuen, Gemeinden und Staaten durchgesetzt werden: Das abstrakte, aber höhere Ziel schlägt das konkrete, aber niedrigere Normalverhalten der Menschen, und wenn es nicht anders geht, muss das Abstrakte notfalls dem Konkreten das Genick brechen. Aus reiner Solidarität.
Wer so denkt, kann natürlich auch eine allgemeine Impfpflicht nicht ausschließen. Sie ist, man muss sich das klarmachen, die zeitgenössische Version jener „Furie des Verschwindens“, von der Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes spricht: Sobald ein Abstrakt-Allgemeines wie „die virenfreie Gesundheit an sich“ als das wahre Ziel staatlicher Freiheit in die Tat umgesetzt wird, fallen diejenigen, die dieses abstrakt-allgemeine Ziel nicht teilen und etwa für lokal überschaubare und erfahrungsgesättigte medizinische Interventionen plädieren, aus dem Raum der allgemeinen Freiheit heraus. Sie werden strukturell zu Freiheitsfeinden, die man eliminieren muss, um die wahre Solidargemeinschaft zu retten. Am Ende der Buyxschen Solidarität steht der Terror.
„Solidarity in Biomedicine and Beyond“ von Alena Buyx und Barbara Prainsack, 2017, Cambridge University Press. Hier bestellbar.