Definition, Dokumentation und Garantie von Besitz- und Nutzungsrechten sowie die Gestaltung der Bedingungen, unter denen solche auf Andere übertragen werden können, gehören zu den fundamentalen Aufgaben eines Staatswesens. Übergreifende Verwaltungsstrukturen sind daher erst einmal eine sinnvolle Sache, gestatten sie es doch einander wildfremden Menschen, die sich möglicherweise niemals persönlich begegnen, miteinander zu handeln, ohne von der Furcht vor Betrügern, Tricksern und Täuschern gelähmt zu sein.
Man betrachte als Beispiel die globale Wertschöpfungskette, die sich hinter dem Endgerät verbirgt, auf dem Sie gerade diesen Text lesen. Vom Minenarbeiter bis hin zum Händler, von der Komponentenherstellung über die Endfertigung bis hin zum Transport verknüpft diese tausende Personen in hunderten von Organisationen über dutzende von Ländergrenzen hinweg. Ein Netz, das nur deswegen funktioniert, weil alle gewisse Regeln und Gesetze nicht nur befolgen, sondern dies auch von ihren jeweiligen Partnern annehmen dürfen. Und weil sie alle ein universelles Tauschmittel namens „Geld" akzeptieren, das ebenfalls von übergeordneten Instanzen kontrolliert wird.
Ja, Bürokratie kann nützlich sein. Wenn denn nicht der Schritt von „übergreifend" zu „übergriffig" so klein wäre und die politische Versuchung so groß, über dieses Instrument Freiräume zu verschließen statt zu öffnen. Zudem ist das Agieren in diesem System mit erheblichen Reibungsverlusten verbunden. Eine Unzahl an Lizenzierungen, Zertifizierungen und Zulassungen ist erforderlich, mit erheblichen Dokumentations- und Nachweispflichten verbunden, kontrolliert von allerlei Ämtern und Behörden. Komplexe Vertragswerke sind zu gestalten und hinsichtlich ihrer Einhaltung zu überprüfen. Wer heutzutage etwas erwirtschaftet, hat eine Menge im Grunde unproduktiver Abstauber mit durchzufüttern, ob Banker, Makler, Steuerberater, Anwälte, Versicherungsvertreter oder Notare.
Könnten wir noch einmal neu starten, würden wir es wieder genau so machen? Der Tscheche Vít Jedlička verneint dies. Haben wir denn eine bessere Möglichkeit? Vít Jedlička ist davon überzeugt. Und der Mann ist immerhin ein waschechter Staatspräsident, wenn auch mit einem Augenzwinkern. Gut, sein Staat, die Freie Republik Liberland, wird noch von keinem anderen Land auf diesem Planeten anerkann . Auch lebt in dem beanspruchten Staatsgebiet, ein sieben Quadratkilometer großes Stück Wildnis an der Donau zwischen Serbien und Kroatien, das merkwürdigerweise von keinem dieser beiden Länder beansprucht wird, noch niemand. Aber seine Idee hat erhebliches Potenzial. Denn Vít Jedlička möchte eine libertäre Republik auf Blockchain-Basis errichten – und macht auf seine Art auf die Möglichkeiten dieser neuen Entwicklung aufmerksam, die vieles umstürzen könnte.
Einen absolut vertrauenswürdiger Marktplatz
Vordergründig ist eine Blockchain nicht viel mehr als eine redundant betriebene, dezentrale Datenbank, deren Aufbau jede Manipulation praktisch unmöglich macht. Alle in ihr gespeicherten Einträge sind für alle Nutzer jederzeit einsehbar. Alle Nutzer können zudem jederzeit neue Einträge hinzufügen. Diese werden in Blöcken gespeichert, die durch clevere kryptographische Verfahren mit den bereits vorhandenen verklebt werden. Dabei weist jeder neue Block seine Gültigkeit durch die Berücksichtigung aller Daten in seinen Vorläufern nach. Eine nachträgliche Änderung seiner Inhalte unbemerkt vorzunehmen, gelingt daher nur bei gleichzeitiger Überschreibung aller seiner Nachfolger. Wozu eine enorme Rechenkraft aufzubringen wäre. Die man meist lohnender dafür einsetzen kann, die Blockchain zu erhalten und sie weiter auszubauen.
Denn das ist ungeheuer attraktiv. Eine Blockchain bietet einen absolut vertrauenswürdigen, weil vollkommen transparenten Marktplatz im Internet, der sich selbst organisiert und ohne jede zentrale Institution auskommt. Gleichzeitig besteht für ihre Nutzer die Möglichkeit, vollkommen anonym zu bleiben. Dem „Internet der Informationen" wird dadurch als neue Schicht ein „Internet der Werte" hinzugefügt. Gehandelt werden kann dort alles, was aus Sicht der Anwender einen „Wert" hat, ob Daten, Dienstleistungen, Befugnisse oder Ansprüche. Käufer und Verkäufer finden zusammen, ohne sich zu kennen, ohne sich kennenlernen zu müssen und ohne einen Vermittler oder Wächter zu benötigen. Als universelles Tauschmittel für alle Transaktionen dienen sogenannte „Coins", rein virtuelle Recheneinheiten, die durch Zuweisung an diejenigen geschöpft werden, die den Rechenaufwand zur Erstellung neuer Blöcke und damit zur Validierung neuer Transaktionen auf sich nehmen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man diese Coins nicht als „Geld" bezeichnen oder gar als „Währung". Schließlich steckt keine Notenbank dahinter, die sie bereitstellt und für ihren Wert garantiert. Sie sind auch nicht in irgendeiner Weise in der Blockchain repräsentiert, etwa durch bestimmte Zeichenketten. Sie entsprechen eher einer essentiellen, grundlegenden Vorstellung von „Geld", repräsentiert durch in der Blockchain niedergelegte Besitzrechte. Im Jahr 2009 startete die erste Blockchain überhaupt, deren einzige Funktion in der Generierung und Verbreitung der sogenannten „Bitcoins" besteht. Sie demonstriert bis heute überaus erfolgreich die Potenziale des Systems und hat zahlreiche Nachahmer inspiriert. Immer neue Blockchain-Anwendungen werden erdacht, realisiert und erprobt, von Insellösungen für einzelne Firmen über Plattformen für spezifische Wertschöpfungsketten bis hin zu universellen, allgemein verfügbaren Ansätzen.
Die Entmachtung des Finanzamts
Diese Technologie vermag die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems radikal zu verändern. Sämtliche Intermediäre sind nicht mehr erforderlich, wenn einander unbekannte Parteien problemlos miteinander handeln können, ohne die Möglichkeit, sich gegenseitig zu hintergehen. Blockchains sind programmierbar. Sogenannte „Smart Contracts", in „wenn-dann"-Algorithmen programmierte Verträge, ermöglichen die Automatisierung vieler Prozesse, etwa in der Logistik, der Produktion oder der Finanzwirtschaft. Virtuelle Firmen ohne einen in der realen Welt existierenden Sitz können sich ad hoc bilden und sich auch ebenso schnell wieder auflösen. Selbst Maschinen vermögen als Unternehmer tätig zu werden.
Einem autonomen Robotertaxi sollte man beispielsweise durchaus zutrauen, auch Transaktionen in der Blockchain abzuwickeln. Die Abrechnung eines Beförderungsauftrags erfolgt dann mittels eines an Geodaten gekoppelten „smarten Vertrags". Mit den auf diesem Weg erhaltenen „Coins" tankt das Auto selbstständig nach und zahlt Versicherungen, Reparaturen und Parkgebühren ebenfalls eigenständig. So entstehen vollständig vom herkömmlichen Fiatgeld entkoppelte Ökonomien. In denen nicht nur die Notenbanken entmachtet wären, sondern auch wichtige Einnahmequellen für den Unterhalt zahlreicher öffentlicher Institutionen wegfielen. Denn der Staat sieht zwar, was gehandelt wird, aber nicht mehr, von wem. Wie will er dann noch Steuern erheben?
Konsequenterweise gar nicht, meint Vít Jedlička. Die Einwohner von Liberland sollen freiwillig in ihre Administration investieren. Weil sich diese als Dienstleisterin ihres Volkes versteht, die den Bürgern maximale Freiheiten garantiert und dadurch für Unterstützer attraktiv wird. Liberland ist kein Staat, der verpflichtet, sondern einer, der ermöglicht. Wer sich einbringt und beteiligt, erhält „Merits", die Coins der Liberland-Blockchain. Mit diesen wiederum kann er wirtschaftlich tätig werden. Einer der ersten Schritte betrifft die Verteilung des zur Verfügung stehenden Landes und die Besitzregistrierung in der Blockchain. Katasterämter und Beurkundungen sind dann für alle Zukunft überflüssig. Es steht ja unveränderbar fest, wer welchen Quadratmeter besitzt und diesen entsprechend verkaufen oder verpachten darf.
Der Bürger als sein eigenständiger Souverän
Der einzige Weg, Betrug in einer virtuellen Umgebung sicher auszuschließen, besteht eben darin, jede jemals getätigte Transaktion offen einsehbar ohne Fälschungsmöglichkeit dauerhaft zu dokumentieren. Genau diese Funktionalität bietet eine Blockchain, nicht nur für Grund und Boden, sondern auch für alle anderen Güter, die Coins eingeschlossen. An- und Abmeldung von Unternehmen, der Erwerb von Wertpapieren, selbst Wahlen und Volksabstimmungen will Vít Jedlička über die Blockchain abwickeln. Jeder Bürger ist dann nicht nur automatisch ein selbstständiger Unternehmer, sondern auch noch sein eigener Souverän in allen Lebenslagen in einem weitgehend dezentralisierten, selbstorganisierten Gemeinwesen.
Ein Fake? Ein Spaß? Eine Hochstapelei? Knapp eine halbe Million Menschen weltweit haben sich bereits um die Staatsbürgerschaft Liberlands beworben. Darunter, was kaum überrascht, hunderte, also im Grunde fast alle, der führenden Blockchain-Experten. Jedlička hat ein „Staatsgebiet" (auch wenn ihn die kroatische Polizei derzeit daran hindert, es zu betreten), er hat eine Flagge, ein Wappen, eine Hymne, eine Verfassung, er hat „Minister" und sogar „Botschafter" in immerhin gut einhundert Ländern. Auf ein williges „Staatsvolk" kann er auch verweisen.
Sobald er seine Blockchain mit den ersten Blöcken initialisiert, existiert Liberland. Und damit ein Beleg für die disruptive Kraft der Digitalisierung, die bald auch unsere, noch herkömmlich gebauten Gesellschaften erfassen wird. Mit TCP/IP, dem Protokoll, das den Datenverkehr in nichthierarchischen, verteilten Computernetzen steuert, haben wir uns von der Informations- und Deutungshoheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und großer privater Medienhäuser emanzipiert, ja die Chance erhalten, selbst zu Sendern zu werden, die viele erreichen. Mit der Blockchain erringen wir nun auch noch ein hohes Maß an ökonomischer Autonomie. Das mag anstrengend sein, keine Frage, aber es ist auch ziemlich befriedigend.