Berliner Luftbrücken und das ethische Paradox

Jahrzehntelang dienten den Amerikanern die Siege über Deutschland und Japan als Paradebeispiele für ein ethisches Paradox: Beide Nationen hatte man am Ende einer gewaltsamen Zermürbung niedergerungen, um endlich die Segnungen der demokratischen Moderne zu etablieren, die allesamt in beiden besetzten Ländern nicht angelegt waren.

Dieses Jahr wird in Berlin ein historisches Jubiläum gefeiert. Es ist im kommenden Juni genau 75 Jahre her, dass die „Berliner Luftbrücke“ gestartet wurde, als Antwort auf die Blockade der Stadt durch die sowjetische Besatzungsmacht (24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949). Die Westalliierten versorgten damals die von ihnen kontrollierten Stadtteile mit Flugzeugen, nachdem die Westsektoren von den Sowjets komplett abgeriegelt worden waren, um die Etablierung einer demokratischen Enklave mit eigener Währung inmitten der sowjetisch besetzten Zone zu verhindern. Ich persönlich verdanke den „Rosinenbombern“ meine Existenz, denn sie brachten meine Mutter im Zustand völliger Unterernährung in die Schweiz, wo man Kinder aufpäppelte, die in der umzingelten, hungernden Stadt keine Überlebenschancen mehr hatten.

Die „Luftbrücke“ ist für die (West)Deutschen, wie für die Amerikaner Teil eines Gründungsmythos, war sie doch lange eine Ikone der moralischen Gewissheit, dass man aus dem Gräuel des Krieges und dem ethischen Versagen mit Millionen von Toten einen Ausgang finden kann, der in eine Zukunft der Freundschaft und Freiheit führt. Die Erzählung von der amerikanischen Siegermacht und dem niedergeworfenen Feindesland, das unter Aufsicht des Siegers zu neuem Glanz finden darf, ist seitdem die deutsch-amerikanische Geschichte einer Katharsis, einer schicksalhaften Reinigung im strafenden Zusammenbruch, dem sich neuerworbene Legitimation und Vergebung doch noch anschließen können. Dieses Bild bekommt gerade Risse.

Jahrzehntelang dienten den Amerikanern die Siege über Deutschland und Japan als Paradebeispiele für ein ethisches Paradox: Beide Nationen hatte man am Ende einer gewaltsamen Zermürbung niedergerungen – unter Inkaufnahme von enormen Opferzahlen bei der Zivilbevölkerung durch Flächenbombardements und Atombomben – um endlich in einem Akt imperialer Hegemonie die Segnungen der demokratischen Moderne, des Liberalismus und der Rechtsstaatlichkeit zu etablieren, die allesamt in beiden besetzten Ländern nicht angelegt waren. Der amerikanische Präsident George W. Bush erinnerte noch mehrmals an die Erfahrungen mit Deutschland und Japan, um die Invasion in den Irak zu rechtfertigen, zu idealisieren und dafür Zustimmung zu erhalten (Irak Krieg 2003).

Der perfekte „Deal“

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich halte es für richtig, verbrecherisch-mörderische Systeme zu bekämpfen, notfalls auch mit militärischer Gewalt. Westdeutschland wurde von einer Diktatur befreit und durfte die Freiheit behalten, Ostdeutschland wurde auch von einer Diktatur befreit, bekam aber nahtlos eine neue. Für die Sowjets galt objektiv betrachtet dasselbe ethische Paradox, allerdings unter anderen, weit schlechteren Vorzeichen. Es konnte deshalb dem „Paradox“ der Amerikaner nicht ewig standhalten, was 1989, subjektiv gesehen, auch von Vorteil war.

Nach 1945 zwang man den Besiegten in Westdeutschland und in Japan also den „Amerikanischen Traum“ auf und entließ die Länder schon bald in die Freiheit – allerdings war dies eine Art betreute Freiheit unter amerikanischer Schirmherrschaft. Das funktionierte erstaunlich gut, denn der Wohlstand beider Nationen stand auf der Basis des Systemwechsels, den der „imperialistische“ Partner in aller Freundschaft oktroyiert hatte. Man hatte in Deutschland den meisten Tätern und Kriegsverbrechern indes eine stille Amnestie zuteilwerden lassen, weil man sie zur Aufrechterhaltung des Gemeinwesens, der Behörden und Verwaltungen brauchte. (West)Deutschland und Japan durften sich nun unter der Aufsicht der USA neu erfinden und im Windschatten der Siegermacht wirtschaftlich enorme Erfolge feiern.

Die Deutschen wollten raus aus den Trümmerlandschaften, hinein in ein Wunder der Wiederauferstehung – das Wirtschaftswunder, das mit den Reformen und Hilfen der Besatzungsmacht gedeihen konnte, auch wenn die neue Dominanz noch fremd war. Die Westdeutschen mussten sich fügen und bekamen Sicherheit und Wohlstand. Und die Amerikaner gönnten es ihnen. In Zeiten der unangefochtenen Stärke Amerikas war das der perfekte „Deal“ und führte dazu, dass man Loyalität von den Deutschen verlangte, aber keine Führungsrolle im Politischen erwartete und wirtschaftlichen Wettbewerb und Konkurrenz wirklich „okay“ fand. Die Deutschen waren immer kleine Mitläufer und konnten sich auf den starken Mann aus Washington verlassen.

Für die Annahme des imperialen Traums durften die Deutschen sogar die eigene historische Schuld verdrängen. Die auf ihren Posten belassenen Täter in der Verwaltung und Industrie sollten der westdeutschen Demokratie später als Webfehler vorgehalten werden. Doch in den Jahren nach der Luftbrücke ging es – wie Stalin bei seiner Abriegelung Berlins im umgekehrten Sinne – um die Verhinderung eines „imperialistischen Systems“, nämlich im Falle der Westmächte um die Verhinderung des Sozialismus nach sowjetischer Manier.

Drohgebärde einer grotesken „Friedensanordnung“

Der weltanschauliche Ost-West-Konflikt hatte schon früh nach Kriegsende die ehemaligen „Kampfgefährten“ der Alliierten entzweit und führte zwangsläufig zum Kalten Krieg, in dem die Westdeutschen und Japaner nun zu wichtigen Verbündeten der Amerikaner wurden. Die Berliner Luftbrücke wurde insofern zum Auftaktspektakel einer neuen Weltordnung, in der sich über Jahrzehnte bis an die Zähne bewaffnete, ideologische Gegner in der Drohgebärde einer grotesken „Friedensanordnung“ gegenüberstanden.

Lange standen die Amerikaner an der Spitze dieser Friedensanordnung. Heute drängen andere Mächte nach vorn, wie China. Sicher geglaubte Brüder im Geiste wandeln auf autokratischen Pfaden, wie die Türkei oder Indien, wo nationale oder religiöse Ideen erstarken, die Freiheit schwindet und die westliche Demokratie als schwach und dekadent gilt. Die Luft wird also dünn für das freiheitliche Hegemonialdenken, das der Westen immer als Exportschlager betrachtete, aber irgendwie nicht so richtig an den Mann bringen konnte im großen Rest der Welt, wo Tribalismus, Korruption, Willkür und Diktatur seit Jahrhunderten omnipräsent sind.

Das ethische Paradox als eine Dividende aus Kriegsgewalt und Wiederaufbauhilfe hatte in der Luftbrücke und der Etablierung eines neuen Wertesystems noch seinen identitätsstiftenden Widerhall gefunden, doch ließ es sich in den vielen Kriegen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wiederholen und bewahrheiten: So sehr sich die Amerikaner auch „bemühten“, Vietnam, Somalia, Irak, Afghanistan und viele andere Konflikte, in die sie involviert waren, scheiterten – es gelang den USA keine weitere Etablierung der Demokratie als Beglückungsmotiv der Siegermacht.

Absetzbewegungen der Bündnispartner

Die aktuelle Schwäche der amerikanischen Hegemonie hat nun zu einer Entwicklung geführt, die neue Webfehler im geopolitischen Netz erzeugt. Die Aufrüstung und Emanzipation Europas waren immer erklärte Ziele amerikanischer Präsidenten. Ein starkes Europa sollte dem NATO-Bündnis nützen. Jedoch verleitet die Schwäche der Amerikaner nun zu Absetzbewegungen der Bündnispartner, an vorderster Stelle ist die Türkei zu nennen, die nicht erst seit dem Ukrainekrieg eigene Wege geht. Aber auch das außenpolitische Gebaren der Deutschen stößt nicht auf Gegenliebe.

Zwar ist die Kriegsrhetorik der Amerikaner und Deutschen ähnlich, aber die Deutschen schicken ihr schweres Kriegsgerät und wenige Leopard-Panzer in der Stärke einer Kompanie so zögerlich in die Ukraine, dass man dahinter ein auffälliges Muster erkennen kann, das mehr zu sein scheint als pures Zaudern. Es ist die Angst des Kanzlers vor einer Loyalität, die Folgen hat, und vor der Folgerichtigkeit politischer Entscheidungen.

Was bedeutet es für Deutschland, wenn Russland die Ukraine besiegt und zerstört, was bedeutet es für Deutschland, wenn Russland die Lieferung schwerer Waffen den Deutschen übelnimmt oder irgendwo einen „Bündnisfall“ provoziert? Was bedeutet es, wenn Deutschland nur noch Helme, aber keine funktionierende Armee mehr hat? Was bedeutet ein schwacher Kanzler? Die Amerikaner, vor allem Donald Trump, warnten deutlich vor dem Patt, in dem sich Kanzler Olaf Scholz heute befindet. Er wäre so gern neutral mit seiner SPD, die das ethische Paradox der deutschen Wiederauferstehung nach 1948 heute so inbrünstig verachtet, weil es so amerikanisch ist.

Das Gedächtnis unseres Landes ist kurz

Auch die Deutschen hatten und haben teilweise ein gespaltenes Verhältnis zu der „Pax Americana“, der gewaltsam aufgezwungenen Beglückung mit Demokratie. Nur zu den Care-Paketen und Rosinenbombern hatten sie ein echtes, dankbares Verhältnis, wie meine Mutter, die es den Amerikanern und den fürsorglichen Piloten auf ihrem Flug in die Alpen ein Leben lang dankte. Aber das Gedächtnis unseres Landes ist kurz in diesen Dingen ...

Schleichend begann in den 60er Jahren im Schlepptau der Studentenbewegung ein offener Antiamerikanismus zu greifen, der bald zur DNA neuer Bewegungen und Parteien wurde. Die Friedensbewegung und die Grünen blieben ideologisch immer auf Abstand, negierten das „ethische Paradox“ der Staatsneugründung der Bundesrepublik zugunsten einer Sichtweise, die den amerikanischen NATO-Bündnispartner im harten Licht des Imperialisten betrachtete. Hier wurden lieber die Ostblock-Narrative des Kalten Krieges bemüht als die Segnungen einer Freiheit anzuerkennen, die man stereotyp als kapitalistische, ökologische und bellizistische Irrwege brandmarkte.

Dennoch: Opportunismus und Sendungsbewusstsein in Form von Schnäppchenmentalität (Ressourcen) und Missionarseifer (Klimaschutz) gehören zum alltäglich-widersprüchlichen Repertoire deutscher Außenpolitik unter Scholz und Baerbock. Hier wird die innere Zerrissenheit der politischen Ziele offenbar, als ginge der Prediger täglich ins Bordell und tue das nur, um zu „reden“.

Deutschland zwischen Baum und Borke

Wenn der Kanzler betont, er entscheide nichts ohne die Zustimmung der Bündnispartner (Waffenlieferungen), will er abwechselnd Absolution: von den USA, von Russland, von seiner Partei, von der Ethik. Den Bündnispartnern geht das gehörig auf die Nerven. Sie erwarten eine geradlinig westliche Politik, zu der Scholz und Baerbock trotz ihrer klaren Bekenntnisse zur Ukraine nicht fähig sind, nicht solo und nicht im Duett. So erratisch dieses Gebaren ist, die deutsche Außenpolitik ist eine Absetzbewegung von westlicher Bündnispolitik – ob aus Kalkül oder aus Unfähigkeit, ist im Ergebnis unerheblich.

Zumal die innere Logik ihrer Politik selbst zu einem ethischen Paradox amerikanischer Lesart führt: Man will die Demokratie in der Ukraine retten, muss dafür aber schwere Waffen liefern, die noch mehr Menschenleben fordern, den grausigen Krieg sicher verlängern, ihn aber ethisch rechtfertigen, weil es um die Verteidigung der Ukraine geht und schwere Waffen diese eben erst ermöglichen. Es ist um der gerechten Sache willen. „Tertium non datur“, eine dritte Lösung gibt es nicht. Nach diesem mathematischen Grundsatz richtet sich der Westen aus und folgt dem Paradox. Scholz ist unwohl dabei, Baerbock und ihre Partei finden es hingegen richtig angesagt.

Die heutige Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist von diesem Zwiespalt gezeichnet, den die Amerikaner als Unzuverlässigkeit und Wankelmut wahrnehmen. Es kommt aber noch etwas anderes oben drauf: Der bewusst betriebene Verlust der Wehrfähigkeit unseres Landes beruht auf einer Fehleinschätzung geopolitischer Dynamiken, zu denen auch die aktuelle Führungsschwäche der USA unter Joe Biden zählt.

Dazu kommt der traumtänzerische Wunsch der deutschen Regierungen seit der Kanzlerschaft Angela Merkels, wie ein Mediator zwischen der westlichen Welt und Russland auftreten zu können und gleichzeitig in Abhängigkeit zu russischen Ressourcen zu stehen. Die Abhängigkeiten zu Russland waren den Amerikanern schon immer ein Dorn im Auge, denn sie ahnten, dass ein Deutschland zwischen Baum und Borke in politische Lethargie verfallen würde, wie wir es gerade erleben. Aber eine Rückkehr zur Eindeutigkeit deutscher Außenpolitik ist mit diesem Kanzler und dieser SPD nicht mehr zu machen. Das Kabinett Scholz hat sich verfangen in seinen eigenen Berliner Luftbrücken.

Kleine Glosse zum Abschluss:

Alles was mit Fliegen zu tun hatte, war für den armen Michael Müller eine Klatsche. Müller, der als Regierender Bürgermeister von Berlin während seiner Amtszeit kein großes Aufsehen erregen wollte, beabsichtigte auch weitestgehend durch Leistung unbekannt zu bleiben. Durch die Negativberichterstattung über den Bau eines Flughafens in seiner Nähe, mit dessen Gedeih und Verderb er seiner Meinung nach nicht viel zu schaffen hatte, wurde er doch noch bekannter als ihm lieb war. Zum 70-jährigen Jubiläum des Endes der Berliner Luftbrücke im Jahr 2019 hatte er auch nichts weiter zu tun, als einen geplanten Kolonnenflug von 20 bis 30 Rosinenbombern über Berlin und eventueller Landung in Tempelhof ablehnen zu lassen. Mit Flughäfen wollte er, vermaledeit, nichts mehr zu tun haben. „Notwendige und gesetzlich vorgeschriebene Anträge [wurden] nicht oder nicht fristgerecht gestellt...“ ließ er verlautbaren und war die Sache los. Was soll auch der transatlantische Fliegenschiss... Das Müller'sche Bürokratenherz schlägt zwar rot. Man sollte ihm aber nichts abverlangen, was anderen Freude bereitet. Dann wird es zu grauem Stein. Fragen Sie Saskia Esken, die hat die gleichen Symptome, seit Corona.

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Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.

Foto: Von Henry Ries / USAF Historical Research Agency via Wikimedia Commons

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Gunter Zimmermann / 11.02.2023

Das ist eine hervorragende Analyse der deutschen Außenpolitik, die bei allen Verbündeten nur noch Kopfschütteln hervorruft. Leider muss man aber in der Beurteilung noch weitergehen: Es sind auch viele Deutsche, die nicht begreifen und verstehen können, dass ein Volk tatsächlich für seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft. Deshalb werden sie auch nicht einsehen können, dass dieses Volk Unterstützung verdient und darum ,mit Kampfpanzern und -jets ausgestattet werden muss. Einige Kommentare zu diesem Artikel werden mit Sicherheit anzeigen, wie wenig viele Deutsche zu der Erkenntnis bereit sind, dass man für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter Umständen militärische Gewalt einsetzen und einen Krieg führen muss.

Albert Pflüger / 11.02.2023

Deutschland hat sich selbst verzwergt, indem es ungeheure Finanzmittel nicht selbst genutzt, sondern seine erarbeiteten Ressourcen in der EU und der ganzen Welt verplempert hat. So hat es eine marode Infrastruktur, eine unfähige Armee und extrem hohe Steuerlasten und Staatsschulden bekommen. Der Import inkompatiblen unausgebildeten Abschaums diverser Völker aus vor allem Afrika schwächt es weiter. Die Energiewende tut den Rest.

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