Nachdem allüberall der (rechte!) Antisemitismus mit Volldampf in der Enkelgeneration der Nationalsozialisten kurz vor High Noon unablässig bekämpft wird, stimmt es hoffnungsvoll, dass per Update der Begriff Antisemitismus endlich aufgefrischt definiert wurde. 200 „Experten“ dachten deswegen ein Jahr lang darüber nach, angeregt durch das Van Leer Jerusalem Institute in Jerusalem. Die Maus, die der schwangere Berg an dem Begriff sich abarbeitender Wissenschaftler gebar, die „Jerusalem Declaration On Antisemitism“ (JDA), ist freilich das Gegenteil der proklamierten Absicht einer Präzisierung des Begriffs zugunsten der Juden. Es ist die Bestärkung israelfeindlicher Gutmenschen.
Man mag über (die) Juden denken, was man will. Aber gegen Antisemiten etwas zu haben, gehört zur politisch korrekten Netiquette. Nicht aus Sympathie für die Juden, sondern weil Antisemiten, ähnlich dem Monster von Loch Ness in Schottland, überall dort gesichtet werden, wo etwas „rechts“ ist. Nachdem die echten Hitler-Nazis echte Antisemiten waren, müssen natürlich alle als Neonazis Abgestempelten, also die „Rechten“ heute, auch echte Nazis, das heißt waschechte Antisemiten, sein. Wer das bezweifelt, ist eigentlich selbst ein Nazi, selbst wenn er das nicht weiß, und auch nicht weiß, wie ihm geschieht.
Und weil man sich in diesem Gewirr von Überlegungen leicht verirrt, und weil der – unter der Führung moralisch Aufrechter – mit dröhnenden Stiefeln geführte Kampf gegen Rechts den Kampf gegen Antisemiten impliziert, war es längst überfällig, dass 200 kompetente Antisemitismus-Forscher endlich einmal auf ein paar DIN-A4-Seiten dargelegt haben, was Antisemitismus denn nun wirklich bedeutet. Die Autoren sind vermutlich überzeugt, ihre Arbeit sei ein Gewinn für alle, die von Mein Kampf nichts gehört, geschweige denn das Hass-Opus von dem gelesen haben, der beinahe Schicklgruber geheißen hätte.
„Sorge um den aktuellen Zustand der Antisemitismusdebatte“
Der Deutschlandfunk berichtet am 26. März, dass eine „Gruppe von 200 internationalen Holocaustforschern aus dem Bereich der Antisemitismusforschung, Judaistik und Nahoststudien“ den Begriff Antisemitismus in der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (neu) definiert habe. „Holocaustforscher aus Israel, den USA und Europa“ seien, so werden die Autoren zitiert, aus „Sorge um den aktuellen Zustand der Antisemitismusdebatte“ zusammengekommen.
Das vierseitige Geheftchen soll „Klarheit und Präzision“ schaffen, wann genau man von Antisemitismus sprechen könne, und was der Begriff nicht impliziere. Denn: Was man bisher (fälschlicherweise) unter Antisemitismus verstand, waren die Richtlinien der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance), eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Einrichtung zur Erforschung des Holocaust.
Was gefiel daran nicht? Alon Confino, Direktor des Holocaust-Instituts der Amherst-University von Massachusetts, motivierte die „Sorge um den aktuellen Zustand der Antisemitismusdebatte“.
Mark Roseman, Historiker und Professor für Jewish Studies an der Indiana University nennt als Reizpunkt, dass „Kritik an Israel als Antisemitismus“ gesehen werde. In der gegenwärtigen Debatte sehe er nur „Streit, Konfusion und Zorn“.
Beispiele offensichtlicher Überdehnung des Begriffs Antisemitismus – nimmt's wunder? – lieferten Trump, wenn er Antizionismus als Antisemitismus bezeichnete. Oder auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum, das die Weigerung Obamas, gegen die Verurteilung der Siedlungen im Westjordanland durch den UN-Sicherheitsrat ein Veto einzulegen, als „antisemitischen Vorfall des Jahres“ bewertete.
Eine kleine inhaltliche Korrektur
Die Deutsche Welle spricht von den „renommiertesten“ Forschern als den Urhebern des Dokuments. Ist dem so? Der Kommentar der FAZ vom 27. März („Was ist per se Hass?“) zeigt nach nützlicher Recherche eine bemerkenswerte Einseitigkeit des Berichts. Zum einen ist da die Diskrepanz zwischen der Anzahl von Unterschriften und der tatsächlichen Mitarbeiter: „... es hatten viel weniger an der Definition gearbeitet, dafür umso mehr nur unterschrieben.“ Die Fakten zu den „renommiertesten“ Unterzeichnern? „Nicht einmal 'Jüdische Studien' oder 'Studien zum Mittleren Osten' betreiben viele von ihnen.“ Stattdessen finden sich Musikwissenschaftler, Mittelalter-Spezialisten und Armenien-Experten. Das Urteil über die Jerusalemer Erklärung: „Sie tritt wissenschaftlich auf, ist aber ein politischer Akt.“
Laut IHRA-Definition sei Zeichen von Antisemitismus „die Anwendung doppelter Standards, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder gefordert wird.“
Die Jerusalemer Erklärung sieht dies anders: „Es ist keineswegs antisemitisch, Israels Besatzungspolitik zu kritisieren oder auf die erbärmliche Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung (...) aufmerksam zu machen.“ Ein legitimes Mittel der Israel-Kritik sei dabei die BDS Kampagne („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“), das heißt die Kennzeichnung beziehungsweise Boykottierung israelischer Produkte, die aus den palästinensischen Gebieten kommen. Diese Maßnahmen seien kein Ausdruck von Antisemitismus.
Zu viel Pro-Israel ist Aufwind für Antisemitismus
Das letzte Wort geht an Mark Roseman: Als Holocaust-Forscher werde ihm bewusst, „dass der Kampf gegen den Hass nicht gefördert wird, sondern im Gegenteil noch untergraben wird, wenn er mit der Einnahme allzu defensiver Positionen gegenüber der Politik Israels begleitet wird.“
Hilfe im Kampf gegen den neu definierten Antisemitismus heißt also ab jetzt, Israel weniger Unterstützung zukommen zu lassen.
Muss man sich wundern, wenn solche Kämpfer gegen Judenhass von den Feinden Israels als „nützliche Idioten“ betrachtet werden?