Volker Seitz / 07.12.2021 / 16:00 / Foto: Jérémy Barande / 13 / Seite ausdrucken

Alain Finkielkraut: „Ich schweige nicht“

Alain Finkielkraut im Gespräch mit Peter Sloterdijk – zwei streitbare Denker greifen aktuelle Themen auf. Hier einige Perlen als Appetitanreger für Leser.

In dem neuen Buch von Alain Finkielkraut hat mich sein Gespräch mit Peter Sloterdijk – statt eines Vorworts – beeindruckt. Beide wenden sich gegen die Empörungsinflation, gegen die moralische Besserwisserei und die Anmaßung, die als Fortschritt etikettiert werden soll.

Hier einige Perlen – als Appetitanreger für Leser – aus dem neuen Buch von Alain Finkielkraut „Ich schweige nicht“.

Alain Finkielkraut: „Ein älterer chinesischer Professor, der die von Mao entfesselten Ereignisse noch erlebt hatte, sagte mir vor längerer Zeit: 'Ich verstehe Euch Europäer nicht mehr, Ihr habt eine Kulturrevolution veranstaltet, mit ebenso verheerenden Ergebnisse wie damals in China, und das alles freiwillig'.“ (S. 11)

„In Deutschland sind die Politiker jetzt jünger, die meisten haben auf Kultur verzichtet wie auf einen unnötigen Ballast.“ (S. 12)

„Gewiss, wir leben nicht in einem totalitären Staat, aber es ist offenkundig, dass die Exkommunikation die Kommunikation ersetzt hat.“ (S.14)

Peter Sloterdijk: „Der Ausgangspunkt fast aller ideologischen Bewegungen, die uns heute Sorgen machen, findet sich in den Parolen, die dort einer hilflosen Mehrheit der Studenten von kleinen aktivistischen Gruppen aufgezwungen werden. Die Mehrheit ist mit der Machtübernahme durch eine Minderheit konfrontiert, die sich bei dieser Gelegenheit an der Mehrheitszivilisation revanchiert. Das Zauberbuch dieser Hexerei liegt bei der amerikanischen Universität.“ (S. 14)

„Die Wokes wüten ja nicht nur in einigen Campussen, sie beherrschen alle amerikanischen Universitäten, als Professoren wie als Studenten. Ihre Ideologie ist ins Theater und ins Fernsehen eingedrungen, in Unternehmen, Behörden und Presse. Wer heute die New York Times oder die Washington Post liest, macht eine verblüffende Erfahrung. Amerika ist dabei, seinen eigenen Kommunismus zu erfinden, ohne dass es von einem Big Brother dazu gezwungen würde. Die New York Times ist die Prawda geworden. Obendrein hat diese Ideologie den Atlantik überquert ... Vielleicht bin ich, wie es mir Milan Kundera sagte, der Mann, der nicht nicht reagieren kann, aber es ist eine Tatsache, dass ich in keiner französischen Universität einen Vortrag halten kann, gleich über welches Thema, ohne schlimme Zwischenfälle zu provozieren.“ (S. 17)

„Sie betonen zu Recht, dass hier erneut eine kleine, zumeist jugendliche angriffslustige Minderheit mithilfe der üblichen Machtmittel universalistischer Rhetorik sich zu einer sprachlichen Hegemonie aufzuschwingen versucht – unter Ausnutzung des Konformismus der Medien und der Kulturinstitutionen. Was dabei vertuscht wird, ist die Tatsache, dass es meistens vor allem darum geht, neue Stellen im Kulturbetrieb zu schaffen und den Kandidaten einer aus Minderheiten hervorgehenden neuen Elite Posten in Universitäten, Stiftungen, Redaktionen und Einrichtungen des Kulturbetriebs zu verschaffen.“ (S. 25)

Alain Finkielkraut: „Warum bräuchten die Wokes, die Erwachten, auch noch Platon oder Goethe? Sie sind bereits vollkommen. Wenn sie lesen, dann nur, um die Werke vor das Gericht ihrer Klarsicht und ihrer Weltoffenheit zu stellen. Wenn man mit ihnen über den Unterschied der Geschlechter spricht, antworten sie mit der Dekonstruktion der Werke von Dichtern, Malern und Regisseuren, die in ihren Geschlechtsstereotypen verhaftet geblieben sind. Sie sehen in den Transsexuellen die endgültigen Helden der Emanzipation.“ (S. 27)

Was wir nicht benennen können, lässt sich schwer verändern

Das Gespräch ist eine Fortsetzung der „Zeitdiagnostischen Gespräche“ von 2003 und fand in französischer Sprache im Juli 2021 in Chantemerle-les-Blés statt. Finkielkrauts Buch und besonders dieses Gespräch mit Peter Sloterdijk sind als ein Appell gegen falsch verstandene politische Korrektheit anzusehen. Freiheit ist nie sicher und muss immer wieder verteidigt werden. Falsch verstandene politische Korrektheit verhindert oft, dass wir Fehlentwicklungen schneller korrigieren. Was wir nicht benennen können, lässt sich schwer verändern. Es ist ein Gestaltungsfeld ideologischer Kämpfe, das permanente Unsicherheiten produziert.

Ich habe das Buch mit großem Gewinn gelesen. Finkielkraut stellt Zusammenhänge dar, die in den Perspektiven nicht selten überraschend und nachdenklich stimmen.

 

Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte 11. Auflage erschien am 18. März 2021. Volker Seitz publiziert regelmäßig zu afrikanischen Themen und hält Vorträge (zum Beispiel „Was sagen eigentlich die Afrikaner“, ein Afrika-ABC in Zitaten).

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Leserpost

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Harald Unger / 07.12.2021

“Was wir nicht benennen können, lässt sich schwer verändern” - - - Genau deshalb muss es einmal möglich sein, die zweidimensionale Ebene der Anekdoten und des Psychologisierens zu verlassen. Und in die dreidimensionale Welt der realen, machtpolitischen Ursachen einzutreten. Die ewigst gleiche Beschreibung des Ist-Zustands, mittels der in Nordamerika und Westeuropa gleichförmig und gleichgerichteten Methoden CorrectnessGenderKlimaMigrationRassismusVirus, beleuchtet nur die Ebene der Anekdoten und des Psychologisierens. Ein handfestes politisches Bewusstsein für einen zielgerichteten Widerstand, lässt sich damit nicht herstellen. Dazu müsste man die dritte Dimension zulassen, die global wirksame, planmäßige Meta-Mechanik unserer Zurichtung und Abwicklung offenlegen. Diese Mechanik entfaltet sich in aller Offenheit vor unseren Kuhaugen, ist aber vom wirksamsten Tabu vor unserem Bewusstsein geschützt. Was wir nicht benennen können, lässt sich nicht erfassen.

S.Buch / 07.12.2021

Finkielkraut: „Gewiss, wir leben nicht in einem totalitären Staat,...”—> Gewiss???

Klaus Keller / 07.12.2021

Das Dorf erzieht das Kind, habe ich von einem Kollegen aus Afrika gelernt. Bei uns ist es heute umgekehrt.

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